Eine Rezension zu Verena Boos "Knochenarbeit" Graben in Erinnerungen

(von Sonja Assen)  

Im Rahmen des Literaturwettbewerbes open mike in Berlin stellte in diesem Jahr die Finalistin Verena Boos ihre Erzählung Knochenarbeit vor. Diese beschreibt auf eindrucksvolle Art die Aushebung eines Massengrabes in einer spanischen Provinz. Durch dieses historisch kontroverse Thema sticht die Erzählung aus der Masse der Texte hervor, die sich eher um die kleineren Probleme des Alltags drehen. Die Geschichte besteht aus einer Polyphonie, die sich zusammensetzt aus mehreren ‚Ich‘-Erzählern. Diese Struktur macht es möglich, dass sowohl die Befürworter der Ausgrabung als auch die Gegner in einer authentischen Art beschrieben werden. Dadurch erhält der Text etwas Unmittelbares und entfaltet einen Sog, der den Rezipienten in einen Bann zieht.

So erfährt man von der allgegenwärtigen Gespaltenheit der Menschen: „Nicht jeder ist erpicht auf die Rückkehr der Toten. Im Dorf leben sie Tür an Tür: Söhne von Tätern und Söhne von Toten. Und jetzt kommen mit den Knochen die alten Geschichten zutage.“ Es werden beide Seiten in die Erzählung aufgenommen, Täter und Opfer. Es dominiert die Sicht auf die Menschen, die durch das Zutagebringen der Knochen mit der Vergangenheit abschließen wollen, indem sie ihre Verwandten würdevoll begraben. Man erfährt zum Beispiel aus der Sicht einer Archäologin von ihren Eindrücken der Situation und von ihren Gesprächen mit den Dorfbewohnern. Die Notizen der Wahrnehmungen der Archäologin werden unterbrochen von Gästebucheinträgen der Dorfbewohner. Durch den fragmentarischen Stil der Ich-Erzähler fühlt man sich, als lese man in ihren persönlichen Notizbüchern, indem sie ihre detailreichen Momenteindrücke dokumentieren. Dabei berichten sie eindrucksvoll sowohl über ihre eigenen Empfindungen als auch über die der Dorfbewohner.

Man spürt die Unsicherheit der Menschen, die sich nach jahrelangem Schweigen trauen, über ihre Ängste zu sprechen und nach vielen Jahren endlich trauern können. Neben den lebenden Bewohnern, kommen auch die Toten zu Wort, indem über ihre Emotionen spekuliert wird. Im Zuge dessen wird sowohl über die Gefühle des damals jungen Bernadino nachgedacht, der als letzter erschossen wurde, als auch darüber, ob die Toten fühlen, dass mit der Ausgrabung der Druck über ihnen weicht und ob sie ihre Verwandten hören. Diese spannende Sichtweise deutet auf die Frage hin, für wen diese Grabungen vollzogen werden, für die Toten oder für die Angehörigen? Kann die Schuld dadurch genommen werden, dass die Toten würdig beerdigt werden? Der Text gibt Denkanstöße, aber dennoch zeigt er, dass eines viel wichtiger als die Schuldfrage ist: Die Menschen kommen zusammen und verarbeiten ihre Trauer durch Gespräche und Gedanken. Das Schweigen hat ein Ende.

Die Naturbilder spiegeln die jeweilige Atmosphäre am Ausgrabungsort und erzeugen damit etwas Einzigartiges: „Wenn man sich einem Knochen nähert, verändert sich die Konsistenz der Erde, wird hellgrau, matschiger, als verlöre sie an Dichte. Als melde sie, dass etwas kommt, als gäbe sie es frei.“ Die Personifikation der Erde betont die aufkommenden Veränderungen im Dorf. Die Bewohner wollen mit den Schrecken der Vergangenheit abschließen. Sowohl der Anfang als auch das Ende der Ausgrabungen sind durch die Wahrnehmung der Wolken gekennzeichnet. Sie sind zu Beginn „wie Wale, massig und zugleich schwerelos, manche dunkelgrau wie schmutziger Schnee, andere von der Sonne durchstrahlt“ und erzeugen dadurch eine bedrohliche und spannungsgeladene Atmosphäre. Zum Abschluss der Ausgrabungen hingegen steht ein „unaufdringlicher Himmel voller Kinderwolken“. Somit ist neben den Bewohnern auch die Natur zu ihrer Erlösung gekommen.

Sowohl die authentische Beschreibung der Gefühle der Archäologen und Dorfbewohner als auch die Widerspiegelung dieser in den Kräften der Natur macht diese Geschichte zu einer eindrucksvollen Verarbeitung des Themas, die den Leser über die Schwierigkeiten, die solch eine Vergangenheitsaufarbeitung mit sich bringt, nachdenken lässt.

 

Bibliographische Angabe:
Verena Boos: Knochenarbeit. In: 20. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2012. S. 11-16.