© Laura Klöppinger

Der 30. Open Mike – Junge Literatur für Auge und Ohr

(von Laura Klöppinger)

Das Licht geht an. Die Kandidat*innen sitzen aufgeregt auf ihren Stühlen. Menschen im Publikum räuspern sich. Dann geht es los. Die erste Leserin sitzt noch im Dunkeln. Der Scheinwerfer geht an. Sie liest von beklemmenden Erfahrungen in einer Aufnahmeeinrichtung. Gebannt hört die Menge zu, bis der letzte Satz fällt – Klatschen – es geht weiter. Bloß keine Pausen lassen. 15 Minuten – die Uhr tickt.
In diesem Tempo nimmt das „30. Open Mike“ organisiert vom Haus für Poesie Fahrt auf und trägt das Publikum in ganz fremde und alltägliche Welten. Ob Prosa über Schluckbeschwerden, experimentelle Küchengedichte oder Texte von touristenanspülenden Inselsommern – Literarische Vielfalt steht am Wochenende des 30. Open Mikes großgeschrieben. Ziel des Wettbewerbs ist es, den jungen Nachwuchs auf dem Literaturmarkt zu fördern und gleichzeitig eine Bühne zu bieten. Nur drei der 17 Texte können am Ende den Gewinner*innenpreis im Wert von 7.500 € mit nach Hause nehmen.
Die Kandidat*innen wurden zuvor von einer siebenköpfigen Vorjury ausgewählt. Die endgültige Entscheidung über die drei Gewinnertexte treffen drei renommierte Autorinnen: Zsuzsanna Gahse, Nadja Küchenmeister und Madame Nielsen. Während der Lesungen verziehen sie keine Miene. Als Zuschauer*in will ich ihre Gesichter lesen, ein Schmunzeln oder Lächeln hier und da vernehmen, doch gelingt es mir nicht. Wenn man den Leser*innen an den Lippen hängt und anschließend noch über das Gelesene nachdenkt, dann verspürt man Gewinnerpotential. Da beim Open Mike besonders auch das Hören im Vordergrund steht, achtet man als Zuschauer*in gleichzeitig auf Betonung, Tempo sowie Mimik und Gestik. Wird zu monoton gelesen oder schlecht intoniert, wird der eigene Text ruiniert.
Das Wochenende endet so schnell, wie es Fahrt aufgenommen hat, denn am Sonntag werden bereits die Sieger*innen gekürt. Zum ersten Mal betritt die bis dahin undurchschaubare Jury die Bühne und liest abwechselnd die Gewinner*innen vor. Im Saal steigt die Spannung – es ist plötzlich ganz ruhig. Der taz-Publikumspreis geht dieses Jahr an „Gurgelgeräusche“ von Patrick Holzapfel. Der experimentelle Prosatext handelt von einem bestechlichen Landwirtschaftsbeauftragen, der den Bau eines Tunnels durch einen Naturpark genehmigt hat. Er behandelt Korruption in der Politik und die damit einhergehenden Folgen für den Klimawandel. Holzapfel kann sich zum zweiten Mal freuen, als Jurymitglied Anja Buchmeister seinen Namen vorliest. Der Gewinn verwundert nicht – im Gegenteil. Es ist ein Text, der so vermutlich noch nirgendwo geschrieben steht – raffiniert, witzig, experimentell – und auch ein wenig unappetitlich.
Die zwei weiteren Gewinner*innen, die die Jury kürt, sind Greta Maria Pichler („Salzwasser“) und Alexander Rudolfi („arber werden“). Im Mittelpunkt von Pichlers Gedichten steht das Salzwasser – genauer, das Ringen mit und im Wasser. Die Gedichte heben sich besonders durch ihre Form ab, denn sie sind hochkant geschrieben. Rudolfi bekommt die Ehre von Madame Nielsen mit Paul Celan (Todesfuge) verglichen zu werden. Es folgt gleichzeitig die Bitte, den Autor als Inspirationsquelle von nun an ruhen zu lassen. Die Jury hat sich dieses Jahr dazu entschieden, das Preisgeld gleichwertig aufzuteilen, sodass jede*r 2500 Euro mit nach Hause nimmt. Im Anschluss werden alle Teilnehmer*innen in einer ungezwungenen Rede von Jacob Teich, Vorjurymitglied und Lektor beim Suhrkamp Verlag für ihre Texte und ihren Mut gelobt, mit der Anregung weiterzumachen, auch wenn der Literaturbetrieb ein hartes Pflaster ist.

Om 2018

© Corinna Uhlrich 2018

Ullstein-Lektorin Kristine Kress im Interview, 2018 „Die Stimme ist das Entscheidende“

(von Birthe Kolb)

Sie haben den Sommer über intensiv über Hunderten von Texten gebrütet, viel gelesen und sortiert – und am Ende die schwierige Aufgabe gehabt, aus insgesamt über 500 Einsendungen ein paar wenige Finaltexte für den open mike auszusuchen: Insgesamt sechs Lektor*innen sind mit der Vorauswahl für den Wettbewerb betraut. Kristine Kress, die seit 2009 bei den Ullstein-Buchverlagen tätig ist, ist eine von ihnen. Sie wählte die Teilnehmer*innen Astrid Ebner (Janes‘ Nacht), Olivia Meyer Montero (Ich, Frau Hellwig) und Felix Krakau (Wimbledon) aus. Im Interview hat sie uns verraten, warum sie von genau diesen Texten begeistert war, wie sie als Lektorin den open mike bewertet – und wie sie zu ihrem ungewöhnlichen Studienfach kam.

 

 

Frau Kress, Sie haben drei sehr unterschiedliche Texte für das Finale ausgewählt. Sehen Sie in diesen drei Texten trotzdem eine Gemeinsamkeit?

Es stimmt schon, dass ich gerne ein großes Spektrum unter den Texten, die eingereicht worden sind, abbilden wollte. Die Texte, die ich ausgewählt habe, sind formal sehr unterschiedlich und haben auch unterschiedliche Tonalitäten, aber in jedem Ton war jeweils etwas, das mich angesprochen hat – und das ging dann über das rein Handwerkliche hinaus. Rein vom handwerklichen Aspekt hätte man noch viel mehr Texte nehmen können.

Können Sie zu jedem Ihrer Finaltexte zwei, drei Worte sagen, die das Besondere am Text erklären?

Der Text von Astrid Ebner hat mich in seiner Vielschichtigkeit und Sensibilität herausgefordert. Ich wusste beim Lesen ganz lange nicht, wo wir sind, wer spricht und wie viele Personen es gibt – ich finde es toll, wenn Literatur etwas wagt und nicht einfach nur von A nach B erzählt, sondern versucht, einen seelischen Gesamteindruck zu vermitteln.

Bei Olivia Meyer Montero fand ich die Hauptfigur toll, ihre Energie und ihren Sound. Als ich die Autorin dann kennengelernt habe, hat sich das für mich sehr schlüssig dargestellt. Da war ich einfach vom ersten Satz im Text drin und bin auch nicht wieder herausgekommen.

Bei Wimbledon von Felix Krakau war es ganz ähnlich. Da fand ich den Sound sehr eigen und ich mochte diese Clique, diese „Styler“ und ihre „Attitude“, die sie ihrem tristen Alltag entgegensetzen. Gut fand ich auch, dass das Stilbewusstsein, dass die Jungs und Mädchen in der Clique hatten, auch der formalen Ebene des Textes entsprochen hat. Das war ein sehr stilistisch durchgearbeiteter Text, der wahnsinnig fantasievoll und klug mit Sprachbildern und Rhythmen gearbeitet hat.

Wie lange hat der Auswahlprozess gedauert? Fiel Ihnen die Entscheidung leicht?

Das Sichten der Texte hat schon lange gedauert, weil ich mich ja nicht netto zwei Wochen mit den Texten beschäftigen, sondern das immer nur nebenbei machen konnte. Für die Texte in meiner engeren Auswahl habe ich mir dann wirklich noch einmal Zeit genommen, um sie länger auf mich wirken zu lassen, um dann die letzten Entscheidungen in ein paar Tagen zu treffen.

Haben die Texte auf Sie noch einmal anders gewirkt, als Sie die Autor*innen auf der Bühne gehört haben?

Mein positiver Eindruck hat sich dadurch noch einmal verstärkt! Ich kannte die Autoren ja vorher nicht und es ist Zufall, dass alle drei etwas mit Theater und Performance zu tun haben. Die Texte haben auch so für mich funktioniert, aber alle haben sehr angemessen und sehr beeindruckend gelesen. Ich bin begeistert!

Lesen Sie einen Text anders, wenn er Ihnen anonymisiert vorliegt?

Ich habe es sehr genossen, die Texte für den Wettbewerb anonym zu lesen, denn das ist nicht die Situation, die ich im Verlag normalerweise habe. Wenn ich den Namen und das Geschlecht des Autors kenne, habe ich immer Vorannahmen – das kann man sich aber auch bewusst machen. Manchmal hilft das sogar, zum Beispiel, wenn ich einen Text von einem Autor lese, den ich sehr schätze, wenn der Text selbst aber noch nicht so richtig zündet. Dann hilft mir dieses Wissen, eine Geduld gegenüber diesem Autoren zu entwickeln. Aber wenn ich jetzt nur einen Text „pur“ vorliegen habe – und in diesem Wettbewerb lege ich bei der Bewertung ja auch andere Maßstäbe an als bei meiner Arbeit im Verlag – da fand ich es schon extrem hilfreich, die Texte anonymisiert zu lesen.

Kann man diese Verlagsmaßstäbe denn „abstellen“, wenn man Texte für den Open Mike bewertet?

Ich  denke schon. Der Hauptmaßstab, der sich aus der Verlagsarbeit ergibt, ist ja die Frage, wie sich ein Text in das Verlagsprogramm einfügt, wie er zu anderen Texten passt – und auch, wie er sich zum Markt verhält. Diese Dinge muss ich als Bindeglied zwischen Kultur und Markt ja immer mitbedenken, ob ich will oder nicht. Die Kriterien, die ich selbst an Literatur anlege  - sowohl das Handwerkliche als auch die Frage, wie mich eine Stimme anspricht – habe ich sowieso immer und jetzt stelle ich sie etwas mehr in den Vordergrund. Es ist ein anderes Lesen, aber man gewöhnt sich sehr schnell daran.

Wie sieht denn der Arbeitsalltag als Lektor*in generell aus? Das würde sicher auch viele Studierende interessieren, die eventuell später diesen Beruf ergreifen möchten.

Es ist nicht so, dass ich den ganzen Tag Manuskripte lese – das findet eher in den Randzeiten statt. Ansonsten bespricht man sich viel mit den anderen Mitarbeitern aus den unterschiedlichen Verlagsabteilungen, zum Beispiel, um Pressestrategien aufeinander abzustimmen oder neue Projekte zu planen. Und natürlich bespricht man sich auch häufig mit den Autoren, denn man ist in alle Arbeitsabläufe eingebunden, die mit so einer Buchproduktion zu tun haben. Als Lektor schreibt man zum Beispiel den Klappentext eines Buches oder ist an der Entstehung des Covers beteiligt. Man ist sozusagen das Bindeglied zwischen Autor und Verlag, manchmal auch zum Handel, wobei dafür eher der Vertrieb zuständig ist.

Welche Tipps haben Sie für Studierende, die sich für den Beruf Lektor*in interessieren?

Zunächst einmal ist „Lektor“ kein formaler Ausbildungsberuf und keine geschützte Berufsbezeichnung. Es kann sich jeder Lektor nennen, der als solcher arbeitet. Die Lebensläufe sind aber doch meistens dieselben: Viele haben ein geisteswissenschaftliches Fach studiert, meistens Germanistik, Anglistik oder etwas Verwandtes. Das ist zwar keine Eingangsvoraussetzung, aber es hilft schon, wenn man mit Textarbeit und Textbegriffen vertraut ist. Man muss keineswegs promoviert sein – es gibt vielleicht ein paar Verlage, die andere Traditionen haben und bei denen das der Fall ist. Üblich ist es, dass man dann mit Praktika im Literaturbetrieb Fuß fasst – bei Verlagen, bei Agenturen oder Literaturveranstaltern, überall dort, wo man mit Texten und Literatur in Verbindung kommt. Verbindung ist sowieso ein schönes Stichwort: Es hilft immer, wenn man Leute kennt. Der Literaturbetrieb ist klein und ich empfehle immer, dass man seine Stationen strategisch klug wählt: Das heißt: Renommierte Verlage und Agenturen, nicht unbedingt die Literaturproduzenten, die jetzt gar keine Rolle im Feuilleton spielen, sondern gerne auch kleinere, feinere Verlage. Der nächste Schritt ist dann das Volontariat, meistens nach dem Praktikum. Dann ist man ein oder zwei Jahre in einem Verlag. Leider ist es oft schlecht bezahlt und die Gleichförmigkeit des Literaturbetriebs kommt womöglich auch daher, dass sich nur ein bestimmtes Klientel so etwas leisten kann. Im Volontariat lernt man dann die Abläufe in einem Verlag kennen, man erfährt, wie aus einem Manuskript ein Buch wird, wie die Presseabteilung und Marketingkampagnen funktionieren.

Zurück zum Wettbewerb: Der open mike gilt als einer der wichtigsten Wettbewerbe für junge Autor*innen und als Einstieg in die Literaturwelt. Würden Sie aus Ihrer Erfahrung als Lektorin sagen, dass die Teilnehmer*innen tatsächlich große Chancen auf einen Verlagsvertrag haben?

Es ist nicht die einzige Möglichkeit, aber eine sehr wichtige. Der open mike funktioniert wie ein Brennglas: wir sind hier in Berlin, hier sind zwanzig Autoren – und im Publikum sitzen viele Lektoren, viele Agenten, viele Journalisten. Wer hier positiv auffällt, geht natürlich mit diesem Stapel Visitenkarten nach Hause. Wenn ich von Agenturen Manuskripte angeboten bekomme, sehe ich auch oft, dass der Autor den open mike gewonnen oder daran teilgenommen hat. Das gibt mir auch eine gewisse Orientierung. Man hat es als Autor auf jeden Fall leichter, schon einmal dieses Forum gehabt zu haben.

Einige der Autor*innen aus der Finalauswahl haben bereits Literarisches Schreiben in Leipzig oder Hildesheim studiert. Sie als Lektorin können das natürlich nicht wissen, wenn Sie die Texte anonymisiert lesen, aber es fällt doch auf, dass jedes Jahr zahlreiche Teilnehmer*innen einen solchen Hintergrund aufweisen. Ist ein Schreibstudium mittlerweile eine Art Voraussetzung, um ins Finale des open mike zu kommen?

Das würde ich nicht sagen. Ich glaube schon, dass das für die Technik weiterhilft, aber gestern in der Anmoderation sprach der Lyrik-Lektor [Ulf Stolterfoht, Anm. d. Red.] von einem „Schreibschul-Bashing“ und ich muss gestehen, dass ich auch kein Fan von einem klar erkennbaren Literaturinstituts-Sound bin. Wenn ich die Texte durchgehe, habe ich das Gefühl, dass man sich durch das Studium einen Schreibstil aneignet, der sozusagen „wasserfest“ ist. Man kann handwerklich nichts dagegen sagen, aber manchmal fragt man sich, wo das Leben in dem Text ist. Es ist ganz lustig, wenn Sie die Fragebögen der Lektoren auf dem open-mike-Blog lesen, da haben fast alle gesagt, die Stimme ist das Entscheidende und die Technik alleine reicht nicht. Ich glaube, der Besuch eines Literaturinstituts kann einem auf jeden Fall weiterhelfen, die Mittel und Techniken zu lernen, um diese Stimme zu fördern. Er kann einem diese Stimme aber nicht geben.

Eine kleine persönliche Frage zum Schluss: Sie haben Indonesische Philologie studiert. Wie sind Sie auf dieses Fach gekommen?

Aus Faulheit! Ich war Austauschschülerin in Indonesien und konnte dann schon Indonesisch. Es hat mich allerdings aber auch tatsächlich einfach interessiert und ich dachte, das wäre noch ein prima Fach, das man studieren könnte. Ich hatte dann tatsächlich in den ersten Semestern einen Vorteil gegenüber meinen Kommilitonen, in den letzten Semestern hat sich das dann wieder ausgeglichen.

2018 Publikumsstimmen

(von Laura Schraven und Maximilian Verstraelen)

Als Dr. Thomas Wohlfahrt gegen Ende des open mike Wettbewerbs für junge Literatur 2018 im Heimathafen Neukölln abschließende Worte findet, bedankt er sich besonders beim tollen Publikum. Nach jeder Lesung zeigte sich dieses überaus begeistert und bejubelte und beklatschte die jungen Autor*innen. Wir haben genauer hingeschaut und uns die Frage gestellt: ‚Auf welche Menschen treffen wir im Publikum eines Literaturwettbewerbs?

© Corinna Uhlrich 2018

© Corinna Uhlrich 2018

Ich bin Zuschauer des open mike Wettbewerb für junge Literatur 2018, weil…

„…ich junge Literatur am wichtigsten finde.“

Martin, 68 Jahre, ist ein begeisterter Fan dieses Wettbewerbs. Er kommt regelmäßig zu dieser Veranstaltung und hält den open mike für einen Spiegel einer Generation. Er findet es besonders spannend, Debüttexte, die weitgehend ungefiltert sind, zum ersten Mal zu hören. Zudem findet er den Ansatz, Literatur innerhalb eines Wettbewerbs zu rezipieren, interessant.

Ich bin Zuschauer des open mike Wettbewerb für junge Literatur 2018, weil…

„… meine gute Freundin Caren Jeß hier ihre Ballade Schloss Blutenburg gelesen hat.“

Um ihre langjährige Freundin beim open mike zu unterstützen, nimmt Saskia, 32 Jahre, auch eine lange Anfahrt aus Lüneburg in Kauf. Selbst Literatur verfassend, freut sie sich, dass Caren durch den open mike die Chance ermöglicht wird ihre Werke zu präsentieren. Sie merkt jedoch auch kritisch an, dass sie den open mike als effekthascherisch empfindet.

Ich bin Zuschauer des open mike Wettbewerb für junge Literatur 2018, weil…

„…uns im Rahmen eines Seminars der Universität Duisburg-Essen die Chance ermöglicht wurde Teil des Publikums zu sein.“

Lea, 26 Jahre, hat bereits Erfahrungen mit dem Format eines Literaturwettbewerbs in Klagenfurt gesammelt. Sie schätzt besonders am open mike, dass die Texte anonymisiert ausgesucht werden und es vor Ort so leicht fällt, mit Autoren und Lektoren ins Gespräch zu kommen. Ihre Erwartungen wurden übertroffen und wer weiß…vielleicht versucht sie sich nächstes Jahr selbst.

Ich bin Zuschauer des open mike Wettbewerb für junge Literatur 2018, weil…

„…weil ich Vater eines Teilnehmers bin.“

Ralf, 51 Jahre, genießt die Atmosphäre im Heimathafen in Neukölln und ist vor allem zur Unterstützung seines Sohnes angereist. Ihm war im Vorhinein nicht klar, wie groß und prestigeträchtig der open mike ist. Auf die Frage, wie er sich das Talent seines Sohnes erklärt, antwortet er, dass sein Vater bereits Texte verfasst hat und seine Frau seinem Sohn jeden Abend vorgelesen habe. Ralf ist zusammen mit seiner Tochter Merle vor Ort, die ihrem Bruder ebenso leidenschaftlich die Daumen drückt. Insgesamt sind die beiden so auf ihren Sohn/Bruder fokussiert, dass sie sich gar nicht so wirklich auf die anderen Texte konzentrieren können.

Ich bin Zuschauer des open mike Wettbewerb für junge Literatur 2018, weil…

„... ich hier an der Bar arbeite.“

Jacob, 27 Jahre, arbeitet im Heimathafen in Neukölln und hat so das große Glück die Lesungen neben seiner Arbeit mit verfolgen zu können. Offen erzählt er, dass er sich im Vorfeld nicht näher mit dem open mike auseinandergesetzt hat. Er ist nun jedoch positiv überrascht. Was einen guten Wettbewerb ausmacht, hängt seiner Meinung nach von den TeilnehmerInnen und der Jury ab.

Ich bin Zuschauerin des open mike Wettbewerb für junge Literatur 2018, weil…

„… ich Publikumsjurorin für die taz bin.“

Barbara, 40 Jahre, hat ein großes Interesse für junge Literatur und sich auch aus diesem Grund für die Jury der taz beworben. Die Reaktion des Publikums fließt positiv und negativ in die Bewertung mit ein, sind aber kein starkes Argument für oder gegen einen Text. Da ein Juror krank geworden ist, ist der Diskurs in der vierköpfigen Jury laut Barbara besonders wichtig. Sie problematisiert abschließend, dass die Lyrikpreise beim open mike eine Mindestzahl haben, die Prosapreise allerdings nicht. Allein diese Mindestzahl gehört abgeschafft, findet sie. Sie findet es außerdem besonders schwierig Lyrik mit Prosa zu vergleichen.

2018 LyrikerInnen-Steckbriefe

(von Janneke Eggert, Corinna Uhlrich, Liliane Hasnain)

Caroline Rehner

Alter: 26

Stadt: Berlin

Ich in drei Worten: unangepasst, angepasst, unsicher

1. Ich habe dieses Werk ausgewählt, weil…

es der einzige Text war, den ich seit langer Zeit geschrieben habe, er mir sehr am Herzen liegt und es mein erster lyrischer Text ist. Ich habe lange Zeit Prosa-Texte verfasst, fühle mich jetzt aber in der Lyrik zu Hause.

2. Mein lyrisches Vorbild ist…

niemand Bestimmtes, ich lasse mich eher von verschiedenen Einflüssen inspirieren. Da ich romantische Volkslieder sehr mag, ist die Romantik für mich ein Vorbild, zusammen mit Bertolt Brecht.

3. Ich schreibe am liebsten…,

wenn ich einen inneren Druck verspüre. Manchmal stauen sich Themen über viele Jahre an, plötzlich habe ich dann einen Satz oder eine Melodie im Ohr und es findet sich alles zusammen. Das ist das schönste Gefühl beim Schreiben.

4. Mein Lieblingswort ist…

schwierig zu wählen. Ich will keine Hierarchie machen und außerdem hängt das so stark vom Kontext ab: ein Wort kann in einem bestimmten Kontext sehr schön sein und in einem anderen ist es belanglos.

5. Heute trage ich…

ein schwarzes Samtkleid mit braunen Blättern darauf,…

weil…

es so schön herbstlich ist.

6. Lyrik ist wie…

verschiedene Sachen, die mir gerade durch den Kopf gingen, aber ich bin mit keiner zufrieden.

Kyrill Constaninides Tank

Alter: 28

Stadt: München

Ich in drei Worten: klug, intelligent, charmant

1. Ich habe dieses Werk ausgewählt, weil…

es gerade sowieso schon rumschwirrte. Da gab es auch gar kein Drumherumkommen, weil es das einzige Werk war, das es irgendwie wert ist.

2. Meine lyrischen Vorbilder sind…

Werbungsvertreter*innen.

3. Ich schreibe am liebsten…

zuhause neuerdings und nach einer Information. Also erst einmal etwas anschauen und dann darüber etwas schreiben.

4. Mein Lieblingswort ist…

Gabel.

5. Heute trage ich…

ausversehen nur schwarz, ansonsten lieber violett,…

weil…

das so die Gegenfarbe zu all dem Orange, also ein Kontrast, und somit angenehmer fürs Publikum ist.

6. Lyrik ist wie…

kalt und heiß duschen.

Textinterpretation zu alles ὕλη nix είδος

Lara Rüter

Alter: 28

Stadt: Leipzig

Ich in drei Worten: Ich bin Lara.

1. Ich habe diese Werke ausgewählt, weil…

ich sie gerne vor vielen Menschen lesen wollte.

2. Mein lyrisches Vorbild ist…

nicht existent. Ich habe nur Lyriker, die ich ganz toll finde, aber Vorbild würde ich nicht sagen. Vorbild ist immer so ein problematischer Begriff beim Literaturmachen. Also für mich zumindest.

3. Ich schreibe am liebsten…

Gedichte.

4. Mein Lieblingswort ist…

Ähm? Ja, Ähm ist gut.

5. Heute trage ich…

meine Glückssocke,…

weil…

sie mir geschenkt wurde und die andere ist bei einer anderen lieben Person.

6. Lyrik ist wie…

Lyrik.

Textinterpretation zu Gedichte

Caren Jeß

Alter: 33

Stadt: Berlin

Ich in drei Worten: Mir fällt ein von mir geschriebenes Theaterstück ein, das damit beginnt, dass eine Figur auf die Bühne geht und sagt: „wenn ich mich in drei Worten beschreiben sollte…“ und dann monologisiert er eine Seite lang.

(Anmerkung: Es handelt sich um das Stück Bookpink.)

1. Ich habe dieses Werk ausgewählt, weil…

ich es zum Zeitpunkt der Ausschreibung gerade geschrieben hatte und es noch auf dem Schreibtisch lag.

2. Mein lyrisches Vorbild ist…

niemand. Ich schreibe vor allem Prosa und Dramatik.

Gibt es da ein Vorbild?

Das würde ich nicht sagen, viel finde ich toll, aber es gibt keine Person, die mich besonders inspiriert oder eine Schule für mich wäre.

3. Ich schreibe am liebsten…,

wenn es richtig gut läuft.

4. Mein Lieblingswort ist…

nicht vorhanden. Ich habe keins.

5. Heute trage ich…

eine Mandarine,…

weil…

ich gerade gelesen habe, sich der Anspannungskopfschmerz langsam löst und ich ein bisschen Vitamine brauche. Eigentlich brauche ich auch Zucker, aber ich hatte außer der Mandarine nichts anderes in der Tasche.

6. Lyrik ist wie…

schwer zu sagen, das kann ich nicht vervollständigen.

Textinterpretation zu Die Ballade von Schloss Blutenburg

Robert Wenzl

Alter: 28

Stadt: Berlin

Ich in drei Worten: unstrukturiert, offen, wach

1. Ich habe dieses Werk ausgewählt, weil…

es eines der aktuelleren Sachen war, die ich geschrieben habe. Für mich hat es einen Drive, der nach vorne geht und gut für das Vorlesen geeignet ist, was bei Lyrik nicht immer so einfach ist.

2. Mein lyrisches Vorbild ist…

eigentlich niemand. Aber es gibt Leute, die ich sehr gut finde, wie zum Beispiel Wolfgang Hilbig. Er wäre jemand, den ich sehr empfehlen würde. Er ist vielleicht eine Art Vorbild. Also habe ich dann vielleicht doch eins.

3. Ich schreibe am liebsten…

spontan. Auch nicht zu groß angelegt. Ich schreibe einfach drauf los und schaue, was passiert.

4. Mein Lieblingswort ist…

sorry. Ich glaube nicht, dass ich eins habe.

5. Heute trage ich …

eine schwarze Hose, einen schwarzen Rollkragenpullover und relativ dunkle Schuhe,…

weil…

dann nicht zu sehr auf mich geguckt wird, und ich einfach als Lesender wahrgenommen werde. Vielleicht kann ich mich ein bisschen dahinter verstecken.

6. Lyrik ist, wie…

Selbsttherapie.

2018 Nur der eine Preis?

Ulf Stolterfoht im Interview

(von Lea Kühn)

Ulf Stolterfoht war beim open mike 2018 als Lektor für die Lyrik-Auswahl zuständig. Zwischen den Lesungen und der Preisverleihung hatten wir die Möglichkeit, mit ihm zu sprechen.

Die Lesungen sind nun vorbei, Du hast fünf AutorInnen ausgewählt, die ihre Texte präsentiert haben. Zu vergeben sind allerdings nur vier Preise. Was macht das mit Dir, jetzt auf das Urteil der Jury zu warten?

Einer der Preise muss ja an einen der Lyrikerinnen und Lyriker gehen, das macht es ja noch komplizierter. Da könnte man jetzt denken, das macht‘s besser, aber in meinen Augen macht´s das eher schlechter, weil die vier anderen diesen nicht kriegen. Wobei natürlich auch alle Preise an die Lyrik gehen könnten. Das ist aber noch nie passiert. Es wird also höchstwahrscheinlich nur ein Lyriker oder eine Lyrikerin ausgezeichnet. Da gehen auch dann alle nett und solidarisch miteinander um, hier herrscht keine Missgunst. Aber trotzdem ist es eben nur der eine Preis, der reserviert ist.

Du hast die Texte hier auch zum ersten Mal laut gelesen gehört, gab es für dich Überraschungen?

Ich fand, Caren Jeß hat wirklich gut vorgelesen. Da war ich mir am unsichersten ob das gelesen auch funktioniert, aber sie hat das einfach toll gemacht. Beim Kyrill (Kyrill Constantinides Tank, A.d.V.) hätte ich gedacht, dass der ein bisschen mehr Budenzauber veranstaltet. Aber vielleicht war das gerade gut, dass ein bisschen runterzuholen, weil der Text ja schon so viel Zauber macht. Ich war absolut glücklich mit allen fünfen. Alle haben gut vorgelesen und auch oft auf ganz andere Weise als ich dachte, manche Texte haben wirklich nochmal richtig gewonnen und ich gucke oft nochmal ganz anders auf den Text, seit ich ihn gehört hab.

Gleich zu Beginn des open mike hast Du damit angehoben, dass Du angesichts der Masse an eingesandten Manuskripten zu Beharrlichkeit rätst, es im nächsten Jahr noch einmal zu probieren. 

Der Stapel der eingesandten Manuskripte war ziemlich groß, 130, 140 Manuskripte. Andere Leute haben andere Kriterien, wenn nächstes Jahr andere Lyrik-Lektorinnen oder -lektoren dasitzen, haben sicher ganz andere Gedichtformen eine echte Chance, die sie vielleicht bei mir nicht so bekommen. Obwohl ich natürlich immer versuche, da offen zu sein, weiß ich natürlich auch, dass Offenheit eine Grenze hat. Darum habe ich dazu geraten.

Welche Relevanz hatte für Dich die Anonymität bei der Auswahl der Texte?

Das ist extrem wichtig für mich. Wenn das personalisiert gewesen wär, dann hätt ich das nicht machen können. Ich habe in den letzten Jahren zu viele junge Lyrikerinnen und Lyriker kennen gelernt und da will ich niemanden vor den Kopf stoßen, ihn oder sie nicht reingenommen zu haben. Ich habe Texte ausgewählt, die mit formalem, strukturellem Bewusstsein geschrieben wurden.

Was passiert, nachdem du einen Text ausgewählt hast? Gibt es einen Kontakt zum Autor?

Nein, gar nicht, und das ist auch nicht gewünscht. Es gab vorher ein Treffen hier vor Ort und wir haben eine halbe Stunde gegenübergesessen. Ich habe versucht Mut zu machen und von meinen Erfahrungen erzählt, und was sie vielleicht besser nicht machen. Das heißt, ein bisschen hat das schon stattgefunden. Aber ich würde niemals im Vorfeld in den Text reinfunken. Es heißt zwar Lektor, aber ich bin hier nicht dafür da, die Texte zu lektorieren. Die sind hier und stehen für ihren Text.

Blickst Du denn mit anderen Augen auf einen hier vorgetragenen Text, unterscheidet es sich zu deiner Arbeit als Lektor?

Ich glaub den Texten gegenüber ist man genauso kritisch wie normal auch. Mit dieser Vorlesesituation wird insgesamt aber vorsichtig umgegangen und man zieht in Betracht, dass es für viele die erste Lesesituation ist, so dass man bereit ist, mehr zu akzeptieren als normalerweise.

Wie schätzt du denn die Rolle von Lyrik beim open mike ein, wie verortet sie sich hier, auch im Verhältnis zum sonstigen Vorkommen im Literaturbetrieb?

Insgesamt ist der Veranstalter, das Haus für Poesie, eine große Ausnahme im Literaturbetrieb, die machen eigentlich ja nur noch Poesie. Deswegen müsste doch eigentlich die Prosa die kleine Abteilung sein und sagen „super, dass wir auch mitmachen dürfen“. Aber die Tatsache, dass zumindest ein Preis für Lyrik sicher reserviert ist, ist ja schon mal nicht so schlecht.

Om 2016

© Alina Schmidt (2016)

© Juliane Kruggel (2016)

© Alina Schmidt (2016)

© Juliane Kruggel (2016)

2015

 

 

© Jacqueline Thör (2015)

 

Die Jury: Jan Brandt, Terézia Mora, Klaus Merz (v.l.) © Jacqueline Thör (2015)

© Jacqueline Thör (2015)

2015 Es wird wieder geerntet – Der open-mike-Eröffnungsabend

(von Mario Bartlewski)
Der open mike gilt als Türöffner und Sprungbrett in den Literaturbetrieb. Doch mit einem erfolgreichen Abschneiden haben die Teilnehmer nur einen ersten Schritt zurückgelegt. Erst in den Folgejahren zeigt sich, was aus einer open-mike-Teilnahme, dem Talent und dem nötigen Einsatz wird. Konnten die AutorInnen die Ernte ihrer Arbeit einfahren? Einen kleinen Einblick darin bietet jährlich der Eröffnungsabend des open mikes, den  Dr. Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt Berlin, passend als „Ernteabend“ beschreibt. Was ist ein Debüt, was hat sich für die Autoren geändert und welches Rezept führt zum Erfolg? Das waren nur einige der Fragen, mit denen Moderator Dirk Knipphals, Literaturredakteur der taz und Mitglied der Jury des Leipziger Buchpreises, durch einen Abend führte, der sich - im Vergleich zu den Vorjahren – als überaus kurzweilig herausstellte.  
Neben Dirk Knipphals, der als sympathischer Gastgeber zielstrebig durch den Abend führte und bei ausweichenden Antworten nachhakte, sorgten auch die eigentlichen Protagonisten dafür, dass die Zuschauer einen der unterhaltsamsten Eröffnungsabende der vergangenen Jahre erlebten. Carolin Callies, Sandra Gugic und Juan S. Guse stellten gemeinsam mit ihren Lektoren Klaus Schöffling (Schöffling Verlag), Frauke Meyer-Gosau (C.H. Beck) und Albert Heinrichs (Fischer Verlag) vor, was sie seit dem open mike geschafft haben. Und das war beachtlich. Im Mittelpunkt stand Juan S. Guse, der erst kürzlich seinen ersten Roman Lärm und Wälder im Fischer Verlag veröffentlichte. „Man hält das Ganze für eine Fiktion. Fast für eine Dystopie. So ging es mir auch. Aber wenn man sich damit beschäftigt, erkennt man, wie real das Thema eigentlich ist“, sagte Albert Heinrichs über das Erstlingswerk von Guse, das sich mit einer nordamerikanischen Gated Community mit dem Namen Nordelta beschäftigt.  Im Gegensatz zu seinem – fast schon verschüchterten – open-mike-Auftritt 2012 zeigt sich Guse selbstbewusst und mit markanten Sprüchen: „Ich bin natürlich auch ein Großmaul“, so Gose, der das Publikum immer wieder zum Lachen brachte. Er schaffte eine Verbindung zwischen sich und dem Publikum und bewegte sich elegant auf der Schwelle zur Arroganz. Gleichzeitig reflektierte er die Entstehung seines Romans mühelos auf mehreren Ebenen: Egal, ob psychologisch oder sozial.
Aber auch Carolin Callies (Open-Mike-Finalistin 2009) wusste zu überzeugen.  „Literatur ist wie Suppe essen. Nach dem dritten Löffel wissen Sie, ob es Ihnen schmeckt. Es gibt nicht den Roman, der erst ab Seite 50 toll wird“, urteilte ihr Lektor Klaus Schöffling, der nach mehreren Anfragen in den Vorjahren am Ernteabend teilnehmen konnte.  Und eine gut schmeckende Suppe brachte Callies mit nach Berlin. Sie las aus ihrem Lyrikband fünf sinne & nur ein besteckkasten und zeigte eindrucksvoll und charmant, woran sie in den Jahren nach dem open mike gearbeitet hat: Ein Lyrikband mit gegenständlichen Gedichten über die Anatomie, Bahnfahrten zum Bordell und Lepra. Inhalte, die fast schon einen Gegensatz zu ihrer zarten Stimme darstellen – dabei aber durch minutiöse Beobachtungen bestechen. Doch was hat sich für sie eigentlich durch ihre Teilnahme am open mike verändert? „Auf einmal gibt es auch ein Außen“, gestand die junge Lyrikerin, die in den Jahren vor ihrer Entdeckung nur privat Gedichte schrieb. Unerkannt von Klaus Schöffling, in dessen Verlag sie bereits seit zehn Jahren arbeitete. „Das war schon ein großes Risiko, als ich sie nach ihren Texten fragte. Wäre sie schlecht gewesen, hätte ich meinen Kopf aus der Schlinge ziehen müssen. Aber ihre Texte waren toll und ich wollte das Buch sofort machen“, so Schöffling.
Zwischen Guse und Callies ging die dritte Autorin am Freitagabend leider unter. Sandra Gugic wirkte nervös und zurückhaltend, konnte aber bei den Zuschauern mit ihrem Roman Astronauten punkten. „Verändert hat mich der Roman nicht wirklich“, gestand die Preisträgerin von 2012. Aber warum wählte sie für ihren Roman gleich sechs unterschiedliche Charaktere? „Ich habe es erst mit einer Person versucht. Aber es waren einfach mehr notwendig, um das umzusetzen, was ich wollte.“ Und genau dieser Stil überzeugte auch Lektorin Frauke Meyer-Gosau, die mit ihren Erfahrungen als Literaturkritikerin interessante Einblicke gewährte: „Es ist ein formales Kunststück. Sie hat filmische Techniken in die Literatur übertragen. Das machte unter anderem den Reiz aus.“ Ein Reiz, den zwanzig junge Autoren an den kommenden zwei Tagen ebenfalls auslösen wollten. Die Voraussetzung waren geschaffen und der Ernteabend machten Lust auf das, was beim Wettbewerb folgen sollte: Ein erster Blick auf die Zukunft des Literaturbetriebs.

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 Eberhard Open Mike Seminar

© Marie Eberhardt (2015)

 

2015 Ein sportliches open mike im November Der 23. open mike in Berlin-Neukölln vom 06. - 08.11.2015

(von Mirjam Heide)
„Willkommen beim 23. open mike, dem open mike mit dem bisher sportlichsten Zeitplan der Geschichte [...]“ so begrüßt Christiane Lange das Publikum. Die Reihenfolge der Autoren wird erst kurz vor Beginn ausgelost. Es gibt insgesamt fünf Leseblöcke mit jeweils vier Autoren. Zwölf Finalisten und Finalistinnen lesen am Samstag, acht am Sonntag. Um 16.00 Uhr muss der Saal geräumt werden, wegen einer nachfolgenden Veranstaltung.
Der open mike ist ein internationaler Wettbewerb für junge deutschsprachige Literaten in Prosa und Lyrik. Bis zu 22 junge AutorInnen können an dem Wettbewerb teilnehmen. Aus über 600 Texten wurden in diesem Jahr 20 FinalistInnen gekürt. Der Freitagabend beginnt mit Lesungen der Debütanten, Teilnehmern aus Vorjahren. Es entsteht eine spannende Diskussion über die Anforderungen an Literaten. Am Sonntag heißt es „eigentlich sind alle Finalisten Gewinner.“ Nach dem letzten Leseblock hat die Jury ungefähr eine Stunde Zeit sich zu beraten und zu entscheiden. Die Besetzung der Jury wechselt jedes Jahr, in diesem Jahr besteht die Jury aus Jan Brandt, Klaus Merz und Terézia Mora.
Der Deutschlandfunk schreibt „beim ‚Open Mike 2015’ gab es an den kommenden zwei Tagen wirklich viel "vergeistigtes Gefasel" und malade Befindlichkeitsliteratur [...]“. Dabei ist der Auftakt vielversprechend. Im ersten Block begeistern sowohl Hilde Drexler als auch Felix Kracke das Publikum mit einem Ton, der die Verbindung zwischen der multimedialen Welt und Literatur schafft. Zinnentanz nimmt den oder die LeserIn mit auf die Gedankenreise einer jungen Autorin. „Ich war aufgeregt, das war das erste Mal, dass ich vor Publikum gelesen habe“, gibt sie uns im Interview an. Das haben wir ihr nicht angemerkt, wir hörten einen charismatisch vorgetragenen Text. Felix Kracke nimmt uns mit in einen melodischen Text, der in der Skater Szene spielt. Er sagt über Bist’n good boy Matze im Interview „Matze wie so eine Chiffre [...] für das Scheitern einer Jugendgang“. Im zweiten Block dominieren die ruhigen Stimmen. Eckhard von Waldstein übt in seiner Lyrik zwar Kritik am System und der Gesellschaft, wird zuweilen im Text sogar sehr wütend, bleibt im Vortrag aber nüchtern „und unprätentiös [...], dass dieses Stakkato nicht wie ein Stakkato wirkt, sondern eher wie zäher Sirup, der uns in die analogen Ohren fließt“, schließt Xaver von Cranach seinen Blogbeitrag ab. Am Samstagabend wird es noch einmal ganz tiefsinnig, als Hakan Tezkan Wolf vorträgt. Es geht um den Tod des Großvaters und den Umgang der Familie damit. Ganz alltägliche Situationen werden zu Bildern, sie werden so detailliert gezeichnet, dass der oder die HörerIn glaubt, er würde in ein Mikrouniversum eindringen, indem auch die winzigsten Reize als schallend wahrgenommen werden. Es sind schwere, fast depressive Stimmungen, die übermittelt werden. In Jessica Linds Mama dominiert ein schauriges Gefühl, der Text der die Ängste des Mutterwerdens in surrealer Weise skizziert. Der Abend schließt mit Philip Krämers Erzählung der eine der andere ab, in der er den österreichischen Schriftsteller H. C. Artmann auf eine Zeitreise schickt.

Der Sonntag startet mit Tobias Lewkowicz Gedichten. Er liefert ein mögliches Beispiel für den Bruch von Linearität in der Literatur. Seine Gedichte beeindrucken zunächst durch die Art und Weise der Verschriftlichung, sie wirken auf dem Blatt eher wie ein Gemälde, die Reihenfolge wird von dem Autor bewusst nicht vorgegeben. In seinem Vortrag überrascht er durch seine eigene Interpretation der Reihenfolge schon allein dadurch, dass er nicht mit dem ersten sondern mit dem letzten Gedicht beginnt. Danach folgen zwei weitere Lyrik-Beiträge durch Arnold Maxwill und Lilli Sachse. Margarita Iov schließt mit Mögliche Pfade den Block ab. Der open mike schließt mit einem Prosa Block ab. Toby Dax hat einen Metatext verfasst, er gibt an, er wolle eine groteske Szene schreiben, die sich immer weiter steigere. So überlegt sich sein Protagonist immer absurdere Möglichkeiten, um ins Gefängnis zu kommen, damit er einen Stoff zum schreiben habe. Mit Philipp Enders hören wir schließlich den letzten Beitrag. Er ist ein charismatischer Redner und fesselt das Publikum an diesem schönen und anstrengenden Wochenendes noch einmal.
Warum kritisiert der Deutschlandfunk den open mike? Warum stellt sich die Zeit die Frage, ob der open mike seinen Zenit überschritten habe? Viele der jungen AutorInnen haben noch keine Erfahrung, im persönlichen Gespräch geben sie meist an, sonst höchstens im Familien- und Bekanntenkreis zu lesen. Die Veranstaltung „hat sich zum wichtigsten deutschsprachigen Nachwuchswettbewerb für Prosa und Lyrik entwickelt“ schreibt die literaturwerkstatt berlin. Es ist fraglich, ob eine Institution, die zur Nachwuchsförderung geschaffen ist ihren Zenit überschreiten kann.  Reto Ziegler, einer der LektorInnen, bezeichnet Lilli Sachses Stil als sehr leicht, ohne trivial zu sein. Normalerweise veröffentlicht sie ihre Gedichte nur über einen Blog. Es macht Spaß ihr zuzuhören, in Alltagsbeschreibungen einen tieferen Sinn zu erkennen. Aber es gibt auch Lesungen in denen das Publikum abschaltet, in denen in dem vorgetragenen Text kein Sinn und keine guter Unterhaltungswert erkannt wird. Dazu kommt der persönliche Ärger, dass der oder die eigene WunschkandidatIn keinen Preis gewinnt. Der open mike ist ein Wettbewerb und eine Plattform, in der junge Literaten sich ausprobieren können. Sie haben hier die Chance nicht nur ihre Texte für sich wirken zu lassen, sondern auch ihre Wirkung als AutorIn auf Publikum direkt zu spüren. JedeR AutorIn hat beim open mike Applaus verdient und bekommen. Allein schon diese Erfahrung macht die Veranstaltung für AutorInnen und Publikum sinnvoll.
Zwei der drei späteren Gewinnerinnen lesen schon im ersten Block Theresia Thöglhofer liest Das pure Leben, Andra Schwarz liest Gedichte. Die Jury bestätigt ihre Überzeugung durch eine Gleichverteilung der Preise. Insgesamt verteilt sie 7500€, seit 2007 muss bei den prämierten Texten mindestens ein Lyrik-Text vertreten sein. Die dritte Gewinnerin ist Jessica Lind mit Mama. Der Publikumspreis der taz geht an Philip Krömer für der eine der andere. Das Jury-Urteil ist heiß umstritten. Auf der einen Seite heißt es „Anders als die meisten anderen fand ich die Jury-Entscheidung nicht enttäuschend, sondern ganz plausibel“, resümiert Xaver von Cranach in den abschließenden Fragen. Die Zeit bemerkt über die prämierten Texte, sie lägen „weit unter dem literarischen Niveau verschiedener anderer“ und fänden „keinen eigenen Ton“. Die Bloggerin Theresa Schmidt bemerkt aber „je strittiger das Jury-Urteil, desto spannender die Diskussion über den Wettbewerb …“ Es gehören in jeden Wettbewerb Beiträge mit unterschiedlicher Qualität, letztendlich entscheidet die Meinung eines jeden Einzelnen. So können wir gespannt sein, wie sich die SiegerInnen weiterentwickeln, an Sicherheit gewinnen und in kommenden Jahren präsentieren.
Mein persönlicher Eindruck vom open mike ist, dass es für mich eine spannende, lehrreiche und unterhaltsame Veranstaltung ist, zu der ich gerne wieder komme.
Die Texte des open mikes sind in folgender Anthologie erschienen: 23. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München. Allitera Verlag. 2015.

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Sam 0444

Seminargespräch © Jacqueline Thör (2015)

Om 2014

2014 Die Exkursion und das Seminar...

... führen uns praktisch das Geflecht des Literaturbetriebs vor Augen, von dem wir bisher nur theoretisch gelesen haben (zumindest bis zu gewissen Grenzen). (Ida Schlößer)
... ergänzen das theoretische Wissen um viele Facetten des Literaturbetriebs und lassen einen selbst einen "echteren" Eindruck gewinnen. (Annika Baum)
... waren sehr gelungen. Die Siskussionsrunde über die Texte war viel besser als die ständigen Referate. Die Auswahl der Texte gab einen guten Überblick über die unterschiedlichen Facetten des Literaturbetriebs. (Marcel Michalik)
... führen die Teilnehmer vor Ort in die Welt der Literaturpreise ein. Die vorbereitende Lektüre hat einen guten Überblick über den Literaturbetrieb gegeben, wobei der interessanteste Teil die Lesungen selbst sowie die anschließenden Diskussionen/Besprechungen waren. (Andreas Merschmann)
... lassen einen den theoretischen Literaturbetrieb aus der Uni praktisch erfahren und geben einen Einblick darüber, wie es wirklich läuft. (Carina Falke)
... haben Literatur erfahrbar gemacht. (Sandra Kozok)
... haben einen lebhaften Austausch über Literatur ermöglicht. Gerade im Sprechen über Literatur und ihre Themen bekommt man neue Eindrücke über sich selbst und die Welt, in der man lebt. (Jörn Breburda)
... sind für das Studium unersetzliche Erfahrungen, die wichtige Einblicke in den Literaturbetrieb und in zeitgenössische und junge Literatur geben und auch die Diskussionskompetenzen fördern. (Marc Breburda)
... waren innerhalb und außerhalb des Seminarraums ein absolut angenehmer und schöner Ort für Diskussionen und Austausch über junge Literatur, was bei diesen noch wenig rezipierten Texten besonders spannend ist. (Lisa Eggert)

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Seminar im Gespräch mit Hans Jürgen Balmes - Fischer Verlag © Lisa-Marie Reingruber (2014)

Seminar © Lisa-Marie Reingruber (2014)

 

Om 2013

Im Seminar © Kristina Petzold (2013)

© Katharina Tummes (2013)

Om 2012

2012 Ein literarisches Wochenende in Berlin

(von Marie Döring)
Das Seminar in Berlin, begleitend zum Literaturwettbewerb open mike, begann am Freitag nach der individuellen Anreise der einzelnen Teilnehmer. Manche kamen mit dem Auto, andere mit dem ICE, eine nutzte auch die Mitfahrzentrale. Einzige Voraussetzung war, dass wir pünktlich zum Seminarbeginn um 14 Uhr im Jugendhotel „Aletto“ eintrafen. Hier besprachen wir dann die im Reader zur Exkursion enthaltenen Texte über den Literaturbetrieb, das literarische Schreiben sowie die Vermittlung und die Bewertung von Literatur. Jede Studentin hatte im Vorhinein einen der Texte besonders vorbereitet und ein Handout entworfen, wir versanken also zunächst in der Materialschlacht, die wir aber gekonnt bewältigten.
Nach dem vierstündigen Seminar fuhren wir zum Heimathafen in Neu-Kölln, in dem der Open mike diesjährig zum ersten Mal stattfand, um dem größer werdenden Publikumsandrang gerecht zu werden. Hier stellten dann unter dem Motto „Lesen und Schreiben nach dem open mike“ die Sieger der letzten Jahre ihre nun erschienenen Erstveröffentlichungen vor. Es lasen Vea Kaiser, Matthias Senkel und Levin Westermann.
Im Anschluss an die Lesungen zog es alle Seminarteilnehmer zurück ins Hotel, wo wir in die plastikbespannten Hochbetten fielen und uns von den nächtlichen Kreuzberger Geräuschen in den Schlaf lullen ließen. Dieser war jedoch nur von kurzer Dauer…
Da der Samstagmorgen zur freien Verfügung stand, fanden wir uns in Kleingruppen zusammen und erkundeten Berlin. Nachmittags begannen dann die Lesungen der Wettbewerbsteilnehmer, 21 an der Zahl. Der als erster Vortragende sollte dann einen Tag später auch zum Erstplatzierten gewählt werden (Juan S. Guse, Pelusa).
Obwohl wir abends nach den Lesungen eigentlich frei hatten, zog es uns doch alle zusammen zum Abendessen, was definitiv für das gute Kursklima sprach. Für uns zwar sehr schön, für den Pizzabäcker, der sich mit einem Mal mit vielen hungrigen Kulturfreunden konfrontiert sah, vielleicht eher mittelschön…
Sonntagmorgen besuchte uns die Lektorin Birgit Schmitz in unserem Seminarraum im Hotel und stellte uns ihre Arbeit für den open mike und im Berlin Verlag vor (http://www.berlinverlag.de). Auch unsere Fragen zum Literaturbetrieb und zur Arbeit für den open mike hat sie bereitwillig beantwortet. Gemeinsam mit ihr fuhren wir später wieder zum Heimathafen, wo der nächste Wettbewerbsblock auf dem Programm stand.
Nach einer einstündigen Beratungspause gab die Jury (bestehend aus Marcel Beyer, Thomas von Steinaecker und Silke Scheuermann) die Ergebnisse bekannt.
Im Anschluss an die Lesungen trafen wir uns im traditionellen Kreuzberger Gasthof „Max und Moritz“, wo uns nicht nur der geschichtsträchtige Ort gut gefiel, sondern auch das Essen sehr gut schmeckte. Hier kamen schon erste Gespräche über die Siegertexte auf, die am nächsten Morgen noch in einem abschließenden Seminargespräch vertieft wurden.
Alle Kursteilnehmer bedanken sich hiermit bei Frau Schlicht für ihr Engagement in Berlin. Wir können sagen, dass es sich um ein sehr lehrreiches, spannendes aber auch anstrengendes Wochenende gehandelt hat.

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Open Mike 2012 11

Die SeminarteilnehmerInnen © Julia Schemme (2012)

 

2012 Wir waren da

(von Margaux Metze)
21 Mal haben wir den Finalisten 15 Minuten lang neugierig zugehört. Wir haben kräftig applaudiert. Wir haben Geistreiches, Witziges, Trauriges, Bewegendes, Verwirrendes und Befremdliches gehört und gelesen. Wir wurden von Texten bombardiert, das wussten wir vorher, wir waren auf einem Vorlesewettbewerb. Die Vorträge waren manchmal zäh, häufig kurzweilig. Die Pausen nach den Leserunden waren nötig, denn wir konnten uns kaum mehr konzentrieren. Doch niemand wollte vor dem letzten Wort den Raum verlassen, keiner wollte riskieren einen bemerkenswerten Satz zu verpassen. Wir saßen in der ersten Reihe und haben mitgefiebert, jeder hatte seine(n) Favoriten. Als es um die Entscheidung ging, waren wir nervös. Als die Entscheidung fiel, wollten wir vor Freude tanzen. Den Verlierern wollten wir sagen, dass sie gut waren. Wir haben drei Tage über Literatur gesprochen, viel Neues gehört und gesehen. Am Ende war alles auf einmal zu schnell vorbei. Wir wollten nicht einfach gehen. Im Nachhinein vermischen sich die Texte mit den Gesichtern der AutorInnen. Im Nachhinein finde ich es immer noch gut, dass wir da waren.

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Die Lektorin Birgit Schmitz zu Gast im Seminar © Nils Koopmann (2012)

Om 2011

© Katharina Hoffmann (2011)

© Katharina Hoffmann (Studierende der Uni Duisburg-Essen beim 19. open mike, 2011)

Om 2010

© Carla Gottwein (2010)

2010 Gespräch mit dem Lektor Olaf Petersenn

(von Anja von Högen)
Olaf Petersenn, Lektor beim Kölner Verlag Kiepenheuer und Witsch, nahm sich netterweise die Zeit, unser Seminar zu besuchen. Die Seminarteilnehmer bekamen die Möglichkeit, durch das Gespräch die Arbeitswelt des Lektors kennen zu lernen. In einer atmosphärisch positiven Runde sprach Olaf Petersenn über seine Arbeit bei Kiepenheuer & Witsch, den Wettbewerb open mike und seine Aufgabe, Texte für das Finale zu nominieren. Im Anschluss durften die Studierenden noch Fragen stellen, um die Gunst der Stunde zu nutzen.
Mit seiner offenen, freundlichen Art erzählte Petersenn zunächst über seine Arbeit im Verlag. Entgegen überholter Vorstellungen, von fleißig lesenden Lektoren hinter verschlossenen Türen, gleicht der Arbeitsalltag eines Lektors wohl eher dem eines Produktmanagers: Das Programm des Verlages muss geschliffen werden, die Vermarktung der Bücher koordiniert werden, Pressearbeit geleistet werden und so fungiert der Lektor als Teil eines Wirtschaftsunternehmens. Kiepenheuer & Witsch zählt zu den Publikumsverlagen und spricht somit unterschiedliche Zielgruppen an. Die Herausarbeitung des Profils spielt in der alltäglichen Arbeit eine große Rolle, auch wenn der Leserkreis das meist nicht so genau wahrnimmt, wie Petersenn schmunzelnd hinzufügte. Für den Lektor ist es aber schon wichtig, dass ein Buch auch zum Verlag passt.   
Den open mike hält Olaf Petersenn für bedeutsam, da junge Talente gesichtet werden können. Er sieht jedoch etwas besorgt die Tendenz eines immer weiter wachsenden Kreises junger Autoren. Das führt zu einer prekären Situation, da die Verlage nicht mehr Bücher produzieren können als vor zehn Jahren und die Absätze der Bücher eher sinken. Für den open mike sichtete er 120 Texte aus dem Bereich Prosa, von denen er drei für das Finale nominierte. Petersenn kommentierte seine Auswahl scherzend, es könne ihm unterstellt werden, er habe ein Faible für Badewannen und tierische Bewegungsformen, ihm seien die Motive aber erst an diesem Morgen bewusst geworden. Besonders lobend hob er Jan Snelas Milchgesicht hervor, der am folgenden Tag den open mike im Bereich Prosa gewann. Außerdem wählte Petersenn Schaumbad von Anne Krüger und Tom Müllers Himmel und Fleisch aus. Als tragende Kriterien für die Auswahl der Texte beschrieb Olaf Petersenn die Leidenschaft, die durch den Text verbalisiert wird und, besonders wichtig für den open mike, die Möglichkeit der Performanz. Der Text muss in den 15 Minuten Lesezeit vorgelesen werden können und das Publikum, bzw. die Juroren in dieser Zeit überzeugen können. Ob ein junger Autor später einen Vertrag angeboten bekommt, hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit das Programm des Verlages für das nächste Jahr schon steht.
In der anschließenden Fragerunde wurde u.a. darüber diskutiert, welche Faktoren Bücher erfolgreich machen können und welche Entwicklung es in diesem Bereich, insbesondere durch neue Medien, gegeben hat. Petersenn bemerkte, dass vor 20 Jahren der Absatz eines Buches durchaus durch eine Rezension in einer renommierten Tageszeitung enorm gesteigert werden konnte. Das Feuilleton bleibt auch weiterhin ein wichtiges Medium, hinzu kommen aber zunehmend andere Formate, wie Radiobeiträge, Zeitschriften und seltener auch TV-Auftritte in Talkshows. Bekannte Buchpreise können sich ebenso positiv auswirken. Ihn persönlich hat es sehr gefreut, dass es aber auch noch möglich scheint, dass ein Buch nur durch persönliche Empfehlungen populär werden kann, wie das Beispiel Der Geschmack von Apfelkernen von Katharina Hagena gezeigt hat.
Abschließend möchten wir uns sehr herzlich für das freundliche und informative Gespräch bei Olaf Petersenn bedanken.

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© Carla Gottwein (2010)

2010 Die Stimmung in der WABE

(von Nina Naßmacher)
Zum 18ten Mal fand in der WABE, der größten kommunalen Kultureinrichtung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg, der open mike statt.

Schon eine Stunde vor Lesungsbeginn fanden  sich die ersten Gäste ein, um sich einen der heiß begehrten Plätze im Lesungssaal zu sichern. Wir, die Studentinnen und Studenten der Universität Essen gehörten auch dazu und konnten beobachten, wie sich der Veranstaltungsraum nach und nach füllte. Bei Veranstaltungsbeginn war letztendlich kein Platz mehr frei und die Anspannung, der jungen Autorinnen und Autoren, die mit in der Menge saßen, war im Raum zu spüren.
Das größtenteils junge Publikum hörte den Nachwuchsautorinnen und -autoren gespannt und konzentriert zu. Lediglich in den Pausen und im Anschluss an die Lesungen war ein leichtes Brummen und Summen in Form von Diskussionen über die vorgetragenen Texte zu vernehmen. Zur Stärkung baten die Veranstalter im Café der WABE ein ausreichendes Angebot an Getränken und warmen sowie kalten Speisen an. Auf diese Weise hatte man die Möglichkeit während eines Kaffees oder Snacks in lockerer Atmosphäre mit den Autorinnen und Autoren und Lektorinnen und Lektoren ins Gespräch zu kommen.  Für viele von uns war diese Begegnung mit dem Literaturbetrieb eine ganz neue Erfahrung und die Begeisterung drückte sich beim ganzen Publikum in Form von  Ruhe und Konzentration während der Lesungen, die am letzten Veranstaltungstag auch von den Veranstaltern lobend erwähnt wurde, aus. Die vielen Bewerbungseinsendungen und das zahlreich erschienene junge Publikum widerlegten an diesem Wettbewerbswochenende mit ihrer Begeisterung und positiven Stimmung, die allgemeine Vorstellung, dass Literatur bei jungen Menschen einen immer geringen Stellenwert einnimmt.

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ALLGEMEINES ZUM WETTBEWERB

Ausbildung zum Genie

(von Fabian Wolbring)
Der schöpferisch geniale Künstler, der einzig Kraft seiner empfindsamen Seele wahre Poesie zu gestalten imstande ist, mag in universitären Kreisen zigfach dekonstruiert und relativiert worden sein, nichtsdestotrotz bestimmt er aber nach wie vor die gängige Vorstellung von „echter Literatur“ im deutschsprachigen Raum. Hierzulande blickt man immer noch skeptisch auf Schreibschulen und -werkstätten und wittert herzlosen Manierismus oder gar hinterhältige Sophistik, während gerade im angelsächsischen Raum kaum ein Schüler am „Creative Writing“-Unterricht vorbei kommt. Erst Mitte der 90Jahre wird an der Universität in Leipzig das Deutsche Literaturinstitut gegründet und bietet von nun an die Möglichkeiteineruniversitären Schriftstellerausbildung. Bezeichnenderweise tritt dieses in die direkte Nachfolge des Literaturinstituts Johannes R. Becher, das eine vergleichbare Ausbildung bereits zu DDR-Zeiten ermöglichte und durchaus einige, inzwischen kanonisierte Absolventen (etwa Sarah Kirsch oder Katja Lange-Müller) vorzuweisen hat. Offensichtlich trifft eine solche Kränkung des Individualgenies im Sozialismus auf weniger Widerstände. 1999 initiiert der Autor und Literaturwissenschaftler Hanns-Josef Ortheil mit dem Bachelor-Studiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus einen weiteren „Ausbildungsbetrieb“ in Hildesheim, in dem jährlich 15 Studierende in 6 Semestern Regelstudienzeit ihr literarisches Handwerkszeug erlernen sollen.   
Auch wenn die Absolventenzahlen entsprechend überschaubar sind, merkt man bei Veranstaltungen  wie dem open mike (oder dem Bachmannpreis in Klagenfurt) bereits deutlich den stetig wachsenden Einfluss dieser Institute auf den Literaturbetrieb. Nicht nur dass Ortheil selbst  in diesem Jahr als Juror fungierte, auch im Teilnehmerfeld fanden sich diverse Institutsbesucher wie der Gewinner des einen Prosapreises, Janko Marklein (Leipzig), Publikumspreisträger Sebastian Polmans (Hildesheim), Judith Keller (zunächst am schweizerischen Literaturinstitut in Biel, dann in Leipzig) und auch der Gewinner des Lyrikpreises Levin Westermann (ebenfalls Biel). Diese Häufung aus dem Kreis der Finalisten wurde allerdings auch kritisch gesehen. So glaubt etwa der Lyriker Philipp Maroldt, dass Literatur nicht „akademisiert“ werden sollte und sieht den open mike entsprechend auch als „Wettbewerb zwischen dem Wildwuchs (dem Autodidakten) und dem Gärtnergewächs (Schreibschülern)“, bei dem sich in diesem Jahr allerdings eher letztere durchsetzten konnten.
Da die Texte jeweils anonymisiert von einem renommierten Lektoren unter hunderten ausgewählt worden sind, spricht dieser Erfolg allerdings deutlich für die Qualität der Ausbildung. Oder spricht sie lediglich für eine gute Auswahl an Studenten (schließlich müssen diese zur Annahme an einem Institut bereits ihre „besondere künstlerische Befähigung“ unter Beweis stellen)? Oder bedeutet der Erfolg lediglich, dass die Ausbildung besonders professionelle und damit „marktgefällige“ Literatur produziert? 
Der Vorwurf eines Institutstones, der die ästhetischen Produkte der Absolventen durchzöge, wurde schon mehrfach geäußert. Dagegen argumentiert allerdings Hildesheim-Student Leif Randt, der den Open Mike 2006 gewinnen konnte. Er erklärte uns, dass gerade durch die Konkurrenz in den Werkstätten eher ein eigener Ton entwickelt würde, da jeder Schreiber den Druck verspüre sich abzuheben.  Auch Orhteil glaubt, dass man gerade durch Konkurrenz zum Feinschliff gelange. Talent müsse allerdings schon vorhanden sein. Die Studenten würden überdies ganz individuell unterrichtet. Ein Gutteil des Studiums am Institut besteht aus Werkstattgesprächen mit den jeweiligen Dozenten, d.h. renommierten Autoren; im Grunde also aus einem Austausch unter Künstlern wie ihn auch die Goethes und Schillers unserer Literaturgeschichte betrieben.  Daneben wird vieles gelehrt, was man aus dem Literaturwissenschaftsstudium auch kennt, d.h. Epochen-, Poetik- und Ästhetik-Vorlesungen, sowie jede Menge Einblicke in den Literaturbetrieb gewährt.
Weltenbummler Ilija Trojanow, ebenfalls Mitglied der diesjährigen Jury, verriet uns im Interview, dass er seinen eigenen Versuch in Leipzig zu lehren, als „in die Hose gegangen“ empfindet. Er steht für eine Literatur, die ihre Relevanz und Kraft vornehmlich aus den Lebenserfahrugen des Autors bezieht und Geschehnisse in dieser Welt thematisieren möchte und stieß in seinem Kurs eher auf Studenten, die sich in ihrem Schreiben mit sich selbst und ihren individuellen Problemen beschäftigen wollten. Trojanow zufolge bringt ein Studium in erster Linie den Autoren etwas, die  bereits  eine Lebensschule hinter sich hätten und nun noch das literarische Rüstzeug erlernen wollten.  Seine Positivbeispiele lauten entsprechend Clemens Meyer und Juli Zeh, zwei Leipziger Absolventen, die Milieus oder Themen behandeln, mit denen sie aus eigener Erfahrung  sehr vertraut sind. Darüber hinaus gibt sich Trojanow recht unbegeistert über den institutsgeschulten Schreibernachwuchs und befindet nur milde: „Und nutzt es nichts, schadet es auch nichts.“
Zumindest aus wirtschaftlicher Perspektive können die Institute jedoch tatsächliche Probleme oder Ungleichgewichte produzieren. So berichtet uns Olaf Petersenn, Lektor im Verlag Kiepenheuer & Witsch, dass die derzeitige Fülle an Nachwuchsautoren (nicht nur aus den Instituten), der aktuellen Absatzmarktlage keineswegs entspräche. KiWi publiziere etwa 2 Debüts pro Saison. Mehr sei nicht zu machen. Dass alleine Hildesheim jährlich 15 „Profi-Autoren“ ausbilde, bedeute auch einen starken Profilierungswettbewerb unter den Schreibenden. Auch Feuilletonrezensionen, Buchtischplätze und Literaturpreise sind begrenzte Ressourcen, auf die sich die gut vernetzten Jungautoren aus den Instituten sicher größere Hoffnung machen können, als der einsam Schreibende, der tapfer seine Manuskripte verschickt. Besonders problematisch erscheint es mir, dass das Studium am Institut ein Abitur voraussetzt, so dass hier „ästhetisches Talent“ letztlich über den Schulerfolg vorsortiert wird. Auch scheint mir ein gewisser Karrierismus begünstigt zu werden, der sicher nicht unbedingt zu „authentischerer“ Literatur führt.  Am Ende muss ich allerdings zugeben, dass mir Sebastian Polmans' Text und damit ein „Institutsprodukt“ am besten gefallen hat. Vielleicht sollte ich daher eher darauf achten, keine Vorurteile zu institutionalisieren, sondern den Schreibern und ihren Texten ihre Chance zu geben.

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Kriterien guter Literatur

(von Eva Siegfried und Ole Duwensee)
Wichtiger Indikator für die Qualität eines Buches ist noch immer seine Besprechung durch die Lietraturkritik, was also wichtige Autoritäten des Betriebs darüber urteilen. Trotz der vergleichbaren Ausbildung aller dieser Autoritäten, ist deren regelmäßige Uneinigkeit jedoch ein Faktum.  Die Verständigung auf die Frage, was nun „gute" Literatur sei, scheint also problematisch.  Auf der anderen Seite finden viele Hobbyschriftsteller nirgends einen Verlag, der Interesse an ihren Produktionen hat, egal welcher Lektor oder welche Lektorin den Text auch liest. Also doch nicht alles reine Geschmackssache?
Um sich selbst und auch anderen gegenüber Rechenschaft über die eigene Position zu einem literarschen Werk ablegen zu können, braucht es Beurteilungskriterien, die herauszuarbeiten Gegenstand etlicher Überlegungen geworden sind. Ohne dass Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann, seien hier die wichtigsten erwähnt. Orginalität ist hierbei ein Kriterium, dem besondere Relevanz zuzukommen scheint. Der Frage also, ob der betrachtete Text etwas Neues, bisher Ungekanntes, zu evozieren vermag oder man das Gefühl eines Déjà-vu erlebt. Bedeutsam ist auch eine Mehrfachcodierung des Textes, die unterschiedliche Herangehensweisen legitimiert und den Text damit als polyvalent ausweist. Dazu gesellen sich bei der Literaturkritik Fragen nach der sprachlichen Gestaltung, der Komplexität des Textes, seiner Stimmigkeit und seinem Potential, zur Reflexion anzuregen.  Und schließlich soll natürlich auch die „primitive" Leselust befriedigt werden. Warum aber vermag es auch ein solcher Kriterienkatalog, selbst im Falle seiner Anerkennung durch alle (potentiellen) Rezipienten, nicht Einigkeit  in Bezug auf die Frage nach der Qulität von literarischen Texten herzustellen?
Das wesentliche Problem liegt darin, dass die genannten Kriterien letztlich nicht vollständig intersubjektivierbar sind, sondern am Ende immer subjektiv angewandt werden. In Bezug auf die Frage nach der sprachlichen Gestaltung ist dann ein einfacher Satzbau für den einen „eine dem Thema angemessene Sprache" und für den anderen Hinweis auf „Spracharmut" des Textes. Wie stellt sich Literaturkritik nun aber in ihrer Praxis, bei einem Verlag oder einem Literaturwettbewerb wie dem Open Mike dar?
Um einen tieferen Einblick in den Prozess der Urteilsbildung zu erlangen, luden wir den Lektor Olaf Petersenn und den Autor und Juror Ilija Trojanow ein. Beide konnten zwar keine Kriterien der Güte, jedoch Kriterien für ihre Beurteilung von Literatur geben. Diese allerdings unterschieden sich, z.T. berufsbedingt, stark. Während der Lektor die Orginalität betonte, hob der Autor die eher seltene, ja wie Trojanow selbst meinte, oft kritisierte ethische Dimension von Texten hervor. Gerade der zunächst intuitive Begriff der Orginalität war es, der Anstoß erregte. Was sollte das sein?
Petersenn betonte, dass es nicht gewollte Extravaganz, sondern die Stimmigkeit sei, die Leidenschaft transportiere und Ergriffenheit erzeuge. Vor allem das Erschaffen einer besonderen Situation und die Reaktion der Figuren auf diese seien maßgeblich. Sprachliche Inovationen hingegen seien sekundär. Beide Urteilenden, Petersenn und Trojanow, waren aber in ihrer Betonung der Intuition einig. Sie müssten den Text oft nicht bis zu Ende lesen, um sich bereits ein Urteil bilden zu können. Die Erfahrung habe gezeigt, dass diese auch nach geneuerem Lesen selten zu revidieren sei. Was muss nun hier unter dem Begriff der „Intuition" verstanden werden? Er ist an dieser Stelle wohl mit dem Begriff "Erfahrung" gleich zu setzen. Wir dürfen sowohl bei Olaf Petersenn als auch bei Ilija Trojanow davon ausgehen, dass der jahrelange professionalisierte Umgang mit Texten zu einem habitualisierten Taxieren literarischer Qualität geführt hat, das literarische Urteilsbildung möglich macht.

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Literarische Bewertungskriterien der open mike-Jury

(von Marina Scheider)
Die Maßstäbe zur Beurteilung von Literatur werden zu großen Teilen vom zeitgeschichtlichen Hintergrund und der Persönlichkeit der jeweiligen Literaturkritiker*innen geprägt. Greifbare Kriterien festzuhalten, ist insbesondere dann schwierig, wenn, wie beim Literaturpreis open mike, die Juror*innen alljährlich wechseln und sich kaum eine fortlaufende literaturkritische Position entwickeln kann, auf deren Grundlage die Texte der Nachwuchsschriftsteller bewertet werden können.
Meine These lautet, dass sich dennoch übergreifende Wertmaßstäbe finden lassen, die einen Siegertext auszeichnen und erklären können, wieso bestimmte Texte vor der Jury bestehen, andere hingegen zurückgewiesen werden. Untersucht wurden hierfür die Siegertexte im Bereich Prosa aus den Jahren 2009 bis 2013. Sieben sprachliche sowie inhaltliche Bewertungskriterien fließen demnach in die Jury-Entscheidung mit ein:

  1. Stilsicherheit: Der/die Autor/in sollte sein/ihr Handwerk und damit die sprachliche Gestaltung eines Textes beherrschen. Der Stil muss nicht perfekt ausgearbeitet sein. Es reicht, wenn eine literarische Formung erkennbar ist.
  2. Experimentierfreudigkeit: Dies betrifft sowohl die sprachliche Ebene, in Form experimenteller Schreibweisen (Beispiel: Schaukelgestühl ganse en bräune[i]), als auch den Mut zu weniger Konventionalität und Gleichförmigkeit auf inhaltlicher Ebene (Dora Diamant). Das Problem hierbei: Neues zu wagen, ist vielen Verlagen zu riskant, da der Buchmarkt zunehmend auf Uniformität drängt.
  3. Selbstreferenzialität: Es besteht der Wunsch nach humorvollen und ironischen Geschichten, die eine gewisse Distanz zu sich selbst und ihrem Thema aufweisen (Peng. Peng. Peng. Peng., Milchgesicht).
  4. Soziale Bewandtnis: Interessant ist Literatur, die gesellschaftliche oder politische Themen behandelt und Randgruppen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung rückt, denen sonst keine Stimme verliehen wird (Wir stellen uns nicht dumm an, Platzanweisung, Glück,[ii] Potulski I, Junge Frau, undatiert[iii]).
  5. Geschlossenheit: Der Text muss in der Form, in der er präsentiert wird, für sich stehen können.
  6. Originalität: Literatur wird daran gemessen, inwieweit sie auf dem Bisherigen basiert, aber dennoch etwas Neues kreiert. Neue Spielarten altbekannter Genres sind eine Möglichkeit, die eigene Individualität unter Beweis zu stellen (Peng. Peng. Peng. Peng. als Familienroman).
  7. Akustische und schriftliche Komponente: Zuletzt muss der Text sowohl während des Vortrags (also beim Zuhören) als auch während der eigenen, stillen Lektüre überzeugen.

Folgt man diesen Ergebnissen, wendet sich der open mike, der als Förderwettbewerb für junge deutschsprachige Autor*innen seine Position im literarischen Betrieb längst etabliert hat, von einem marktkompatiblen, austauschbaren Einheitsstil ab. Der Appell zu mehr Mut und weniger Konventionalität sowie die Warnung, zu sehr für den Wettbewerb zu schreiben und auf Vermarktungschancen zu achten, wurden bereits von der Jurorin und Schriftstellerin Felicitas Hoppe bei der Siegerehrung im Jahr 2011 formuliert:
„Manchmal haben wir das Gefühl, dass Sie vielleicht mehr lesen, als dass Sie schreiben. […] Das Formbewusstsein ist sehr groß. Die Perfektion in der Textperformance ist ganz erstaunlich. Und manchmal hätten wir uns gewünscht, dass Sie daraus ausbrechen. Es geht nicht darum irgendwelche Standards zu treffen, sondern, so komisch das klingt: machen Sie einfach […] wozu Sie Lust haben.“[iv]
Da im Laufe des Wettbewerbs nur Siegertexte bewertet werden (und die Plädoyers hierzu natürlich positiv sind), fällt es schwer, Aussagen über jene Einreichungen zu treffen, welche von den LektorInnen in der Vorauswahl und dann von der Jury als nicht preiswürdig betrachtet werden.
Das Bewertungsverfahren des open mike steht dabei im direkten Gegensatz zum Bachmann-Preis, bei dem eine öffentliche Beurteilung jedes vorgestellten Textes stattfindet – egal, ob sie positiv oder negativ ausfällt. Bei beiden Leseveranstaltungen wird allerdings vielfach bemängelt, dass die Juror*innen ihre Maßstäbe nicht genügend offenlegen und die Kritiken dadurch zunehmend opak und willkürlich wirken. Diese Kontroverse hat sich 2008 die Berliner Zentrale Intelligenz Agentur, ein Netzwerk von Schriftstellern, zu denen auch Sascha Lobo und Kathrin Passig gehören, bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur zunutze gemacht und ironisch verdreht. Die Agentur stellte ein Regelwerk auf, anhand dessen man preiswürdige Texte erkennen kann. Pluspunkte werden gegeben, wenn „Wörter mit null Googletreffern“ verwendet werden, oder der/die Auto/in „schamlos von bekannten Erfolgsmodellen“ kopiert. Abzüge erhalten die Schriftsteller*innen bei „weniger als vier Punkten pro Seite“, wenn der „Text nach dem dritten Lesen immer noch unverständlich“ ist oder bei einer „open mike-Teilnahme.“[v] Mithilfe dieser und 85 weiterer Kriterien vergaben sie einen eigenen, inoffiziellen Preis an Tilman Rammstedt: den Preis der Automatischen Literaturkritik.
Ist dies nun die Zukunft der Literaturkritik? Dass die open mike-Teilnehmer*innen mit einer solchen Strichliste bewertet werden, ist auszuschließen. Es bleibt jedoch abzuwarten, was der open mike künftig für die Nachwuchsschriftsteller*innen, die Juror*innen, den Literaturbetrieb und die Zuschauer*innen an literaturkritischen Äußerungen und Diskussionen bereithält.

Literaturangaben

Primärliteratur

BÖHM, Christina: Platzanweisung. 2011.
EISEL, Jens: Glück. In: 21. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München 2013, S. 21-25.
ERNST, Joseph Felix: Dora Diamant. 2011.
GAWRISCH, Dmitrij: Schaukelgestühl ganse en bräune. In: 21. open mike. Internationaler
     Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa  und Lyrik
. München 2013, S. 57-64.
GUGIĆ, Sandra: Junge Frau, undatiert. In: 20. open mike. Internationaler Wettbewerb junger   
     deutschsprachiger Prosa und Lyrik
. München 2012, S. 54-58.
GUSE, Juan S.: Pelusa. In: 20. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutsch-sprachiger
     Prosa und Lyrik.
München 2012, S. 59-66.
MAHLKE, Inger-Maria: 3. Kapitel. Potulski I. 2009.
MARKLEIN, Janko: Wir stellen uns nicht dumm an. 2010.
SENKEL, Matthias: Peng. Peng. Peng. Peng. 2009.
SNELA, Jan: Milchgesicht. 2010. 

Sekundärliteratur

ANZ, Thomas: Theorien und Analysen zur Literaturkritik und zur Wertung. In: Ders./BAASNER,
     Rainer (Hrsg.): Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. München 2004, S. 194-219.
BÖTTIGER, Helmut: Schlegel, Benjamin und Pausenclown. In: ARNOLD, Heinz Ludwig / BEILEIN,
     Matthias (Hrsg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3. Aufl. München 2009, S. 97-108.
BUDDE, Vanja: 19. ‚Open Mike‘ 2011. Manuskript zur Sendung. Deutschlandradio Kultur. 2011.
     http://www.deutschlandradiokultur.de/manuskript-19-open-mike-2011-pdf.media.6fa7fc83f76376
     b80fe3bbee7b01da00.pdf (aufgerufen am 29.03.2014).
GRAF, Stefanie Maria: Open Mike. Zur Bedeutung und Geschichte des Literaturwettbewerbs für
     Nachwuchsliteraten. Ein Wettbewerb zwischen Förderung und Vermarktung.
Masterarbeit an der Freien Universität Berlin 2007.
NEUHAUS, Stefan: Literaturkritik. Eine Einführung. Göttingen 2004.
PLACHTA, Bodo: Literaturbetrieb. Paderborn 2008.
REICH-RANICKI, Marcel: Über Literaturkritik. Stuttgart 2002.
RICHTER, Steffen: Der Literaturbetrieb. Eine Einführung. Texte – Märkte – Medien. Darmstadt 2011.

 

[i] Vgl. Dmitrij Gawrisch: Schaukelgestühl ganse en bräune. In: 21. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa  und Lyrik. München 2013, S. 57-64.

[ii] Vgl. Jens Eisel: Glück. In: 21. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München 2013, S. 21-25.

[iii] Vgl. Sandra Gugić: Junge Frau, undatiert. In: 20. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München 2012, S. 54-58.

[iv] Vanja Budde: 19. ‚Open Mike’ 2011. Manuskript zur Sendung. Deutschlandradio Kultur. 2011. http://www.deutschlandradiokultur.de/manuskript-19-open-mike-2011-pdf.media.6fa7fc83f76376b80fe3bbee7b01da00.pdf (aufgerufen am 29.03.2014).

[v] Der ehrlichere Bachmann-Preis, derselbe Gewinner. FAZ. 2014. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/automatische-literaturkritik-der-ehrlichere-bachmann-preis-derselbe-gewinner-1542611.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (aufgerufen am 18.07.2014).

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