Der letzte Laut der Bestechlichen. Überlegungen zu Patrick Holzapfels Erzählung Gurgelgeräusche

Ein Beitrag von Laura Klöppinger
 

Patrick Holzapfels Prosatext Gurgelgeräusche, den er beim 30. open mike in Berlin vorgetragen und für den einen der Hauptpreise erhalten hat, handelt von einem bestechlichen Landwirtschaftsbeauftragten, der aufgrund starker Schluckbeschwerden für den Rest seines Lebens das Gurgeln verordnet bekommt. Er tut dies. Dreißig Jahre lang: „Jeden Morgen und jeden Abend“ (S. 52). Holzapfels Text experimentiert mit dem lautmalerischen Wort „Gurgeln“, besonders seinem Anfangsbuchstaben – dem G – „der tiefst liegende Buchstabe“ (S. 52).
Der Prosatext problematisiert das Schweigen sowie die Korruption in der Politik, und zwar anhand des bestechlichen, empathielosen und namenlosen Landwirtschaftsbeauftragten – es könnte jeder sein. Er ist Hauptverantwortlicher für den Bau eines Tunnels, der mitten durch einen Nationalpark führt. Der Gurgelnde hat diesen trotz bekannter fataler Auswirkungen für die Umwelt genehmigt, „damit Menschen besser leben können“ (S. 54), so redet er sich ein.
Im Mittelpunkt des Textes steht die Abwesenheit von Schuldgefühlen. Der Landwirtschaftsbeauftragte sieht nämlich über die Folgen des Tunnelbaus hinweg. Nicht nur einen Tunnel hat er gegraben, sondern auch gleichzeitig seine eigene Moral „vergraben“ (S. 53). Durch das unentwegte Hinunterschlucken leidet er jetzt unter Schluckbeschwerden.

„Es ziemt sich nicht zu gurgeln als Landwirtschaftsbeauftragter der Stadtregierung. Man kann nicht gurgeln in der Politik. Man hat zu schlucken. Ich habe viel geschluckt. Die Blicke misstrauischer Bauern, die Lügen bestechlicher Abgeordneter und vor allem meine eigene Moral. Die habe ich tief in mir vergraben“ (S. 53).

Dem Landwirtschaftsbeauftragten sind das Geld sowie Ansehen und Erfolg wichtiger als die Folgen des Tunnelbaus. Schuld fühlt er daher nicht – auch wenn er dies für einen Moment andeutet: „Wenn ich gurgele, fühle ich die Schuld“. Doch der ökonomische Profit ist Grund genug, den Tunnelbau zu genehmigen: „Es gibt nur einen Grund, einen Tunnel zu bauen. G G Goldgräberei“ (S. 54). Dass der Bau des Tunnels eine wichtige Maßnahme war, ist bereits zu seinem Mantra geworden: „Der Tunnel, der Tunnel, wir brauchen den Tunnel, Sie brauchen den Tunnel, alles muss in der Balance bleiben“ (S. 56). Die Stimmen der korrupten Politiker scheinen Besitz von seinen Gedanken ergriffen zu haben – er ist ihre Marionette geworden. Eine, die ohne zu zögern den Schalter umlegt, wenn man sie zum Essen einlädt – Dann gibt es „G G Garnelen oder G G Gehacktes“, bis er nicht mehr schlucken kann.
Um weiterhin Schlucken zu können, ist das Gurgeln zu einer Notwendigkeit geworden. Dieses wird im Text als Handlung zwischen dem Schweigen und dem Sprechen dargestellt – Es existiert in einer „Dazwischenheit“ (S. 53). Wie beim Stottern markiert es den Zustand des Nicht-Sprechen Könnens: „G: G G G“ (S. 52). Es ist wie das Ansammeln von Schleim kurz vor dem Sprechakt:

„Wir gurgeln ständig und sprechen mit Wasser im Mund. Wir sagen nicht deutlich, was wir denken, und halten bereits vom langen Schweigen getrübtes Wasser in unserem Hals, ein Wasser, das sich immer weiter trübt, je länger wir es in unserem Hals gurgeln, statt es auszuspucken“ (S. 55).

Der Landwirtschaftsbeauftragte macht hierbei einen Plural auf, der zeigt, dass ein ganzes Kollektiv Teil dieser korrupten Maschinerie ist, die durch das Schlucken ihrer Moral für die Zerstörung der Natur mitverantwortlich ist. Der darauffolgende Satz „So macht man Karriere in der Politik, das weiß ich“ (S. 55) untermalt seinen Glaubenssatz, dass Bestechlichkeit sich auszahlt. Die von Holzapfel gestaltete autodiegetische Erzählerfigur kennt keinerlei Empathie, denn Bilder bedrohter Tierarten berühren ihn nicht im Geringsten: „Sie haben mir Fotos der Tiere geschickt, deren Lebensraum der Tunnel vernichtete. Biber, Distelfinken, Bisamratten, Fasane und dergleichen. Diese Idioten!“ (S. 54). Er gibt selbst zu, dass er sich auf seinem Karriereweg darin geschult hat, kein Mitleid mehr zu empfinden. Seine Taubheit gegenüber jeglichen Schuldgefühlen kommt auch dann zum Ausdruck, als er bei der Einweihung des Tunnels angespuckt wird. Der Landwirtschaftsbeauftragte sieht durch die Spucke hindurch wie Glas – ein Zeichen für seine Uneinsichtigkeit. Diese Abgestumpftheit verstärkt auch der Satz: „Wenn man gurgelt, braucht man kein Herz“ (S. 57).
Der sich ansammelnde Schleim droht ihm jedoch die Luft zu nehmen: „Ich könnte ersticken, ja, ich könnte jede Sekunde ersticken“ (S. 54). Doch auch dies hat keine Relevanz mehr für ihn, sonst würde er den zähen Schleim endlich ausspucken. Das Ende des Textes verweist auf das Kernproblem in der Politik: Die Korrupten sind sich der Folgen ihres Handels bewusst und sehen dennoch keinen Grund, etwas zu ändern:

„Wir glauben, dass wir alles in der Schwebe halten können. Ich weiß das, ich habe diesen Tunnel gebaut. Ein Tunnel ist nichts anderes als eine Luftröhre, die wir künstlich durch den Brustkorb jagen. Inkubation. Nur, dass der Patient, den wir Erde nennen, besser atmen könnte, ließen wir ihn in Ruhe. Heute weiß ich das, aber ich habe gelernt, mich zu rechtfertigen. Wir brauchen Tunnel“ (S. 58).

Der Tunnel ist nur eine Schablone für eine Reihe von bekannten Bauskandalen – denkt man an das Schweigen über die desaströsen Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter in Katar, die Verschwendung von Steuergeldern beim Bau des Berliner Flughafens oder der Hamburger Elbphilharmonie. Das Schweigen, Vertuschen und bewusste Nicht-Sagen ist gang und gäbe in der Politik. Politiker*innen schweigen über Krieg und Protest in Ländern, die unsere Hilfe benötigen, über Treffen mit zwielichtigen Bankenchefs oder den brutalen Alltag von US-Soldaten währen des Irakkriegs. Erst die von WikiLeaks veröffentlichten Irak-Protokolle zwangen die Schweigenden zum Sprechen. Auch Umweltskandale wie der Bau des Tunnels sind in Deutschland bekannt. So sorgte der Vorfall von Fluorchemie verseuchtem Trinkwasser in Baden-Württemberg für einen deutschlandweiten Skandal – ein klassischer Fall von „Keiner will es gewesen sein“.

Transparenz wurde in all diesen Fällen zu einem Fremdwort. Wie auch beim Landwirtschaftsbeauftragten betäubten in vielen der genannten Fälle das Verlangen nach Geld und Macht die eigene Moral. Holzapfels „Gurgelgeräusche“ trifft somit den Nerv unserer Zeit, indem er auf gegenwärtige Diskurse in der Politik verweist.

 

Literaturangaben

Holzapfel, Patrick: Gurgelgeräusche. In: 30. Open Mike. Wettbewerb für junge Literatur. Die 17 Finaltexte. München: Allitera Verlag 2022, S. 52-58.