Eine Rezension zu Thilo Dierkes "Von Ajaccio her." Das Beste kommt zum Schluss

(von Claudia Luft)

Es ist Sonntagmittag, der letzte Tag des 24. open mikes neigt sich dem Ende zu, das Publikum ist müde, drei anstrengende Tage liegen hinter den jungen Autoren, den Zuhörern und allen Beteiligten. Doch plötzlich sind alle wieder wach! Als letzter Teilnehmer betritt Thilo Dierkes, der zweitjüngste Finalist des diesjährigen Wettbewerbs, die Bühne und reißt das gesamte Publikum mit sich.

Auch wenn der Sieg eher eine „ungläubige Verwunderung“ in dem jungen Autor auslöst, schafft Dierkes mit seinem Text Von Ajaccio her etwas Unvergleichliches: Er reflektiert die Widerstandlosigkeit und Passivität der heutigen Gesellschaft über die historische Maske des verbannten Napoleons mit einer herrlichen Selbstironie, die auch die Zuhörer im Heimathafen zum Schmunzeln brachte. Doch damit nicht genug. Er besticht vor allem durch seine Vielseitigkeit, auf die auch Inger-Maria Mahlke in ihrer Laudatio verweist:

„[Ein] Text, der eine Atmosphäre schafft, [...] der durch subtilen Humor auffällt, der Lob als subversives Verfahren einführt und der mit einer beeindruckenden Souveränität kleinstädtischen Stadtgarten, Landser und Napoleon zu verbinden weiß.“

Vor allem auf letzteren finden Verweise unterschiedlicher Ebenen statt. Der Titel Von Ajaccio her bildet die erste geographische Orientierung, die die Geburtsstadt Napoleons darstellt. Von dort aus, so verrät es auch der Titel, nimmt der Erzähler den Leser mit auf eine Reise, eine Reise durch Europa, eine Reise in die Vergangenheit. Letztere wird vor allem durch den Verweis weiterer historischer Orte wie „Mantua“ und „Austerlitz“ (S. 28) deutlich, die Schauplätze der napoleonischen Kriege und insbesondere der Drei-Kaiser-Schlacht darstellen. Über detaillierte Beschreibungen, die den Charakter nie versendeter Briefe haben, kommt die Vermutung auf, dass der Ich-Erzähler Napoleon selbst sei.

Es handelt sich jedoch nicht um den Beginn eines historischen Romans, der die einzelnen Stationen des Krieges abbildet und mit einer Liebesgeschichte verknüpft. Nein, Dierkes macht mehr, macht es anders. In einer witzigen Weise hält er der aktuellen Gesellschaft den Spiegel des historischen Dasein Napoleons vor. Am Beispiel der „echten Männer“ (S. 28) wird ein klassisches Rollenverständnis hervorgehoben, welches unbewusst und scheinbar unveränderbar im Denken der Menschen verankert ist: „Du bist eine Frau und ich bin ein Mann. Es ist beschlossen worden, dass das eine Bedeutung hat“ (S. 30) Der Ich-Erzähler erklärt beispielsweise, dass „den hiesigen Snobs [...] der Sinn für das Nützliche abhandengekommen [ist]“ oder er gerne „mit zerzaustem Haar und ebendieser Flasche Wein auf dem Balkon sitzen, [s]ich am Arsch kratzen und rauchen [will]“ (S. 28). Neben den alltäglichen Dingen, den Belanglosigkeiten, „erzitterte ein schmuckes Städtchen in freudiger Erwartung der Dinge, die da noch kommen mochten“ (S. 29) und währenddessen drängelten Passanten aneinander vorbei. Dieses Nicht-Beachten der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situationen durch Kriege, Flüchtlingsbewegungen und Terrorismus auf der einen und Konsum- und Massengesellschaft auf der anderen Seite treibt Dierkes vor allem über den wiederkehrenden Dialog zweier Freunde, die sich nichts mehr zu sagen haben, auf „einer hinbetonierten Tischtennisplatte“ (S. 29) oder „einer spendenfinanzierten Aussichtsplattform“ (S. 31) auf die Spitze. Denn: „Es waren glückliche Zeiten“ (S. 29) bzw. „gemütliche Zeiten, welche jenes Städtchen durchlebte, und niemandem hier wäre auch nur im Entferntesten eingefallen, dieser Tatsache zu widersprechen“ (S. 31). Das ständige „Glücklichsein“ (S. 31), zu dem der Erzähler sich verpflichtet fühlt, „lähmt“ (S. 31) ihn und führt zu absoluter Gleichgültigkeit. Eine Gleichgültigkeit, die der Text den Menschen zum Vorwurf macht, die nur in ihrer Konsum- und Warenwelt leben und das Wesentliche außer Sicht lassen. Geradezu lächerlich wirkt die Sorge darüber, dass „jetzt nichts Aufregendes mehr passiert“ (S. 29).

Dass es sich um Gesellschaftskritik handelt, findet sich auch über den intertextuellen Bezug „Sonnenstrahlen versprachen einen weiteren Tag im Paradies“ (S. 32) zu einem Songtext von Phil Collins bestätigt, wobei hier mit dem Paradies die falsche Idylle gemeint ist, die das Elende ausklammert. Das Bild dafür, das sowohl das Lied als auch das dazugehörige Musik-Video eröffnen, wird auch vom Erzähler beschrieben: „Weit entfernt davon saß ein junger Mann [...] auf der Bordsteinkante eines in die Landschaft geklotzten Supermarktplatzes und schien nach adäquaten Worten zu suchen“ (S. 32). Es scheint ein Mann am Rande der Gesellschaft zu sein, der keine Beachtung findet, keine Chancen im Leben hat und nach den richtigen Worten sucht sich der Gesellschaft entgegenzusetzen, etwas gegen die Nutzlosigkeit und Fokussierung auf das eigene Leben einzuwenden. Er scheint diese Worte am Ende des Textes gefunden zu haben. Denn dort steht er wieder, „drehte dabei einen Pflasterstein in den Händen“ (S. 33) und sagt: [S]chlag alle Scheiben ein. Schlag alle Scheiben ein und schrei, bewundert die Schönheit meiner Gedanken, ihr Hundesöhne“. Dierkes letzter Satz gilt der Revolution, er enthält die Aufforderung aufzustehen, etwas mit Wort und Tat zu ändern und nicht dem Trotz zu verfallen, dass alles für immer so bleiben kann (S. 31).

Dierkes reflektiert über das Leben und Wirken Napoleons die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen mit einem hohen Maß an Ironie und Ernst, die außerdem mit Melancholie einhergehen: „Es ist nicht so, dass ich bewusst unglücklich bin“ (S. 31). Darüber hinaus hinterfragt er die Rollenerwartungen an Mann und Frau, die er über die Figur der Josephine anspricht (S. 30), und spiegelt das Bild, mit den Worten seines Lektors Anvar Cukowski, „einer widerstandslosen Generation“.

Bibliographische Angabe:
Thilo Dierkes: Von Ajaccio her. In: 24. open mike. Wettbewerb für junge Literatur – Die 22 Finaltexte. München: Allitera Verlag 2016. S. 28-37.