Eine Rezension zu Jens Eisel "Glück" Gefallene Engel und verlorene Träume. Jens Eisels Kurzgeschichte "Glück" überzeugt die Jury beim open mike

(von Corinna Schlicht)

Thomas Tebbe, der den Text von Jens Eisel aus dem Stapel der Bewerbungstexte zum 21. open mike herausgefischt hat, spricht in seiner Anmoderation von einem „Text wie ein[em] Musikstück“, lobt die „gekonnten Auslassungen“ und das „Tempo und den Rhythmus in Moll“. In der Tat ist Eisels Prosa von einer melancholischen Lakonie geprägt, wenn er die große Frage nach dem Glück herunterbricht auf den schnöden Gewinn bei einem Hundewettrennen. Ein starker Text, der leise daher kommt und nachhaltig wirkt.
Erzählt wird die Geschichte von Samir, einem serbischen Emigranten, der mit seiner Frau vor dem Krieg nach Deutschland, genauer nach Hamburg, geflohen und dort nie wirklich angekommen ist. Fokussiert wird in der Kurzgeschichte ein kurzer Moment in Samirs Hamburger Alltag, der ihn vor allem in Wetthallen führt. Eisel schiebt Samirs Vorgeschichte in Rückblicken, kleinen Andeutungen an ein Leben voller Hoffnung auf eine glückliche Zukunft, ein: „Er musste an Sarajewo denken; an die Berge und den Geruch und daran, wie er als junger Mann durch die Straßen und Gassen der Stadt gezogen war. Er hatte damals studieren wollen, um später als Lehrer zu arbeiten, und er hatte die Stadt geliebt – die milden Sommernächte“ (S. 22). Samirs Frau hat ihn vor Hamburg gewarnt: „‚Du gehörst hier nicht hin‘, hatte sie gesagt, ‚diese Stadt ist nichts für dich‘“ (S. 22). Doch Samir hört nicht auf sie. Sie verlässt ihn, fährt zurück in die Heimat und Samir bleibt in Hamburg, häuft Schulden an und: spielt. So lernen wir ihn kennen, als Spieler, der auf einen Hund mit dem programmatischen Namen Fallen Angel setzt. Der gefallene Engel, ein Außenseiter wie Samir, gewinnt, d.h. Samir gewinnt – immerhin 5340€. Doch was genau gewinnt er hier eigentlich? Sein Leben scheint verpatzt. Eisel hält den lakonischen Ton durch, wenn er seine Figur mit dem Geld in der Tasche und trüben Gedanken im Kopf durch das nächtliche Hamburg schickt. Gedanken an die Heimat, an die erste Zeit in der fremden Elbstadt wechseln sich ab mit der Beschreibung von Samirs Streifzug durch die kalte Nacht. Seine Glücksuche endet am Busbahnhof, dem Ort, den einst seine Frau aufgesucht hat, um dem trüben Leben mit Samir den Rücken zu kehren. „Er stellte sich seine Frau vor, wie sie mit gepackten Koffern auf einer Bank saß. […] Samir hatte diese Gedanken immer verdrängt, aber jetzt, wo er all die Busse sah, fühlte er sich feige. Er hätte sie niemals gehen lassen dürfen“ (S. 24). Eine späte Einsicht, die – daran lässt der Text keinen Zweifel – Eisels Hauptfigur nicht ins Glück führen wird. Zu spät – so könnte die Geschichte auch heißen.
Das traurige und sehr eindringliche Schlussbild zeigt Samir in einem Bus, der ihn fortführt aus der falschen Stadt. So (lebens)müde wie seine Figur ist, so dämmert der Text weg in ein Traumbild von den wippenden Hundeohren, die dem Bus voranzujagen scheinen und denen Samir folgt – doch wohin? „Er spürte das Schaukeln des Busses, und dann sah er die Rennbahn. Er sah das schmutzige graue Fell und die dunklen Pfoten und die Ohren, die sich auf und ab bewegten“ (S. 25) – Strahlende Gewinner und freudige Glücksmomente sehen sicher anders aus.

Eine Rezension zu Jens Eisel "Glück" „Ein Schlusspunkt, der, gewissermaßen in Moll, sich an den Leser heranschleicht.“ (Tebbe)

(von Katharina Tummes)

Jens Eisel gewinnt den Jurypreis des 21. open mike – zu Recht. Mit der Erzählung Glück gelingt ein Balanceakt, den Lesenden gerade so viel zu erzählen, dass sie einen kurzen Moment in die Lebenswelt eines vergeblich nach Glück strebenden Mannes eintauchen können, ohne sie ihnen erklären zu wollen. Samir, um den sich die Erzählung dreht, kommt ursprünglich aus Sarajevo und lebt seit einigen Jahren in Hamburg – inzwischen ohne Frau, verschuldet und arbeitslos. Schon viele große Autoren und Philosophen sind der Frage nachgegangen, was Glück bedeutet, ohne sie erschöpfend beantworten zu können. Was es für Samir heißt, wird mit dem ersten Satz klar, denn er „wettete auf alles, auf Boxkämpfe, Pferderennen und Fußballspiele.“ (S. 21) Glück heißt Glücksspiel. Doch gerade wegen des erfolglosen Strebens nach einem Gewinn beim Spiel kommt  „es ihm vor, als wäre das Glück sein persönlicher Gegner.“ (S. 21)
Es wird nichts von der metaphysischen Implikation des Wortes Glück verhandelt, sondern nur, ob Fallen Angel, der Windhund, auf den er bei einem Hunderennen setzt, gewinnt. Gekonnt spielt Eisel hier mit einem sprechenden Namen, wenn Samir auf einen gefallenen Engel tippt, also auf einen Underdog, wie er selbst einer ist und mit dessen Erfolg niemand rechnet. Für Samir geht es um alles oder nichts bei dem Rennen, an dem die Lesenden durch den Rhythmus der Sprache unmittelbar teilhaben können – ganz so, als wären sie dabei, wenn sich in Samir jeder Muskel anspannt, als wäre er wiederum der laufende Hund selbst. Durch das Tempo, das der Text an dieser Stelle aufnimmt, ist man ganz nah am Geschehen, ohne dass damit auf das große Finale abgezielt würde. Ganz im Gegenteil, der Text konfrontiert in dem Moment des Zieleinlaufs die Lesenden mit einer Leerstelle. Während man gebannt zum nächsten Absatz springt, um zu erfahren, ob der Hund und damit auch Samir nun das Rennen gemacht hat, muss man schnell feststellen, dass gerade der Moment des Sieges unerzählt bleibt. Man ist als Lesende(r) von dem Ausbleiben des Hochgefühls selbst betroffen und erfährt so ohne jede Explikation, dass auch ein Sieg Samir nicht zum ersehnten Glücksgefühl verhelfen wird.
Was von dem Sieg bleibt, ist das Geld. Dieses holt Samir im Wettbüro ab, nickt der Frau am Schalter nur zu und bleibt auch bis zum Ende der Erzählung stumm. Klug und konsequent inszeniert der Text hier die Sprachlosigkeit, die der Kriegsflüchtling in Deutschland erlebt. Eisel gelingt mit Glück „Probleme und Realitäten ohne Sentimentalität und aufgesetztes Mitleid in eine Narration zu übersetzen, die […] Protagonisten eine Stimme gibt, die normalerweise keine haben.“ (Pelzer)
Es wird einem etwas von der Lebenswirklichkeit Samirs gewahr, ohne dass der Text in Stereotype verfällt. Deutschland ist für den Flüchtling nicht das gelobte Land mit dem Versprechen von Reichtum, denn von seinen einstigen Träumen, zu studieren und als Lehrer in einer kleinen Dorfschule arbeiten zu können, bleibt ihm nichts. In einem Land, dessen Sprache er nicht mächtig ist, ist die Hauptfigur zum Schweigen verdammt. Wie bedrückend die Situation sein muss, wird in wunderbaren atmosphärischen Bildern von der wolkenverhangenen Stadt Hamburg evoziert, womit der Text eine Wirkmächtigkeit auf die Lesenden ausübt, obwohl der Text äquivalent zu dem Leben Samirs dahinzuschleichen scheint.
Mit seinem Gewinn von ein paar Tausend Euro könnte Samir vielleicht seine Schulden begleichen, aber die Verluste in seinem Leben – insbesondere die Trennung von seiner Frau – sind mit Geld nicht auszugleichen. Nach einer weiteren Nacht im nächstbesten Kasino begibt sich Samir zum Busbahnhof und in kleinen Anspielungen wird deutlich, dass es für ihn heimwärts geht. Er ist nämlich ganz offenbar von lauter Landsleuten umgeben, die seine Sprache sprechen, denn „zum ersten Mal  seit langer Zeit verstand er alle Gespräche um sich herum.“ (S. 24) Im Bus sitzend sieht Samir vor seinem inneren Auge plötzlich das Hunderennen, „das schmutzig graue Fell und die dunklen Pfoten und die Ohren, die sich auf und ab bewegten“ (S. 25) – kurzum Fallen Angel. In klassischer Kurzgeschichtenmanier entlässt der Text die Lesenden mit einem offenen Ende, weder tröstenden noch trostlos. Denn so bleibt es eine Denkmöglichkeit, dass Samir auf der Zielgeraden in dem Spiel namens Leben auch eine Nasenlänge voraus ist.

Bibliographische Angabe:
Jens Eisel: Glück. In: 21. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2013. S. 21-25.