Eine Rezension zu Joseph Felix Ernst "Dora Diamant" Motte frisst Hund

(von Jan Franzen)

Natürlich muss der Text so beginnen. Denn nichts träfe den Inhalt besser; der Name ist Programm.

Wie ergeht es einem Menschen – einem begnadeten Denker obendrein – wenn er merkt, dass es zu Ende geht? Joseph Felix Ernst gibt eine beeindruckende Antwort. Kafka ist sterbenskrank und leidet unter Schwindsucht. Da die Physis versagt, bleibt zur Befriedigung seiner ihn seit jeher treibenden Fernsucht nur noch eines: Die Erschließung einer eigenen Welt. Greenwich. Paris. St. Petersburg. Prag! Prag ist der Mittelpunkt des Lebens. Des Lebens für jemanden, der eigentlich schon tot ist.

Joseph Felix Ernst benutzt das Bild der Motten, um dies zu beschreiben. Gleich einer Krankheit – dem Blutsturz – zerfressen sie den Körper. Ein starkes Bild, das noch stärker wird durch den Einschub einer Anatomiebeschreibung der Tineola bisselliella – der Kleidermotte und hässlichsten ihrer Art. Die Welt bleibt, wo sie ist, nur Kafka entfernt sich immer mehr von dem, wer und was er war – Gregor Samsa ist es ähnlich ergangen.

Längst an das Bett im Sanatorium gefesselt, fällt es Kafka zunehmend schwer zu reden. In einer Diskussion mit Max Brod – im wirklichen Leben Kafkas enger Freund und späterer Nachlassverwalter, in Ernsts Text Besucher im Sanatorium – kann er seinem wütenden Freund nichts entgegensetzen: „Kafka wollte schreien – Kafka bellte nur.“ In diesem Moment kommt das Bild Joseph K.s auf. Jenem Protagonisten aus Kafkas Der Proceß, der unschuldig angeklagt den Tod findet. „Wie ein Hund!“ bricht K. dort am Ende zusammen und stirbt. Ebenso ist Kafka im Sanatorium schon längst kein lebender Mensch mehr.

Auch Dora Diamant bleibt von Motten nicht verschont, ein Loch findet sich an ihrer Bluse. Vorne am Kragen und damit an jener Stelle, an der auch Kafka von Motten zerfressen wird. Dora Diamant ist Kafkas letzte Lebenspartnerin und in Ernsts Erzählung liebevolle Helferin an der Seite des Sterbenden. Und Dora Diamant ist Henriette Vogel. Zumindest hat sie Angst davor, sie zu werden. Jene starb zusammen mit Kleist; erst erschoss er sie, dann richtete er die Waffe gegen sich selbst. Was bei Ernst bleibt, ist ein winziger Grabstein neben Kleist, überdeckt vom Laub auf dem Erdboden und fehlende Aufmerksamkeit. Kafka und Dora haben das Grab, so lange er noch konnte, gemeinsam besucht und Henriette Vogel lange Zeit übersehen. Einmal dann möchte Dora einen Stein auf Henriettes Grab legen – eine alte jüdische Tradition – und sieht zu, wie er immer wieder hinunter fällt. Dora macht sich Sorgen um ihr Leben nach Franz – Ernst benennt den Text nicht zufällig nach ihr.

Derweil können auch Ärzte Kafka nicht mehr helfen, auch nicht, wenn sie Klopstock heißen. Robert Klopstock ist in den letzten Lebensjahren Kafkas ein enger Freund des Literaten. Auch soll er – so wird überliefert – Kafka Morphium verabreicht haben, um ihm das Sterben zu erleichtern. Joseph Felix Ernst greift diesen Hintergrund auf und macht aus Klopstock kurzerhand den behandelnden Arzt. Nur ist es kein Schmerzmittel, das Kafka unmittelbar vor seinem Tode in sich aufnimmt, sondern der Duft frischer gelber Tulpen, die Dora gekauft hat: „Franz, sieh mal die schönen Blumen, riech mal!“ Er riecht – und stirbt.

Ernst wählt das Thema seines Textes klug aus. Wer literaturaffin ist, der wird das Werk Franz Kafkas nicht fremd sein. In Dora Diamant findet sich eine minutiöse Beschreibung des Ablebens jenes Mannes wieder, der gleichfalls detailverliebt geschrieben hat. Kurze prägnante Ausrufe wechseln sich ab mit verschachtelten Sätzen und erzeugen eine sich abwechselnd melodische und kakophone Sprachdynamik. Ernst richtet den Blick auf Kafkas Leiden und kombiniert es mit vielen biografischen Realbezügen. Doch findet man auch die Gefühle seiner Lebensgefährtin – einer Frau, die besorgt ist, gänzlich im Schatten des so früh Sterbenden zu verschwinden (sie selbst lebt noch über 30 Jahre weiter). Ernst löst ihre Befürchtungen am Ende seines Textes auf, indem Dora die Motten losgeworden ist und sich nicht mehr um Henriette Vogels Grabstein schert. Es geht am Ende nicht mehr um Kafka, sondern um französische Macarons.

Der Text beginnt mit „Franz“ und endet mit dem 2. Open-Mike-Jury-Preis 2011. Und beides völlig zu Recht.

Bibliographische Angabe:
Joseph Felix Ernst: Dora Diamant. In: 19. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2011. S. 41-51.