Rezension zu Lisa Kreißler "Muttertier" Das gute alte Familiendrama


(von Kathrin Struensee)

Auch wenn manch einer der Anwesenden den Text der Bückeburgerin für zu theatralisch und wenig innovativ halten mag, ist Lisa Kreißlers „Muttertier“ mein persönlicher Siegertext des 19. open mikes.

Es geht um eine Familie, die ihre psychisch kranke Mutter verloren hat. Es geht um die Tochter, die versucht den frühen Verlust der Mutter, versucht mit Männer-“Projekten“ zu kompensieren, einen Vater der stark altert, und den Erzähler Jakob, der nach dem Tod seiner Mutter wissen will: „Ist da noch was“?

Trotz des „Verschwindens“ der Mutter, wird an jedem ihrer Geburtstage die Tradition beibehalten Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen. Ein fast normales Familientreffen, wäre nicht die postnatal-depressive Mutter, die sich im Wald erschoss, im Hintergrund. Das rituelle Geburtstagsessen wird zum alljährlichen „Gespenstersoupé“. Dieses Jahr gibt es eine Besonderheit: Der Vater hat einen Brief der toten Mutter an ihren Sohn Jakob gefunden. Obwohl der Brief den ganzen Tag in greifbarer Nähe ist, bleibt der Brief ungeöffnet.

Durch die geschickt komponierte Erzählung und zwei verschiedenen Zeitebenen wird man aus der Gegenwart des Familienbeisammenseins in die Vergangenheit der Familie versetzt. So setzte die psychisch kranke Mutter viele Jahre vor ihrem Selbstmord den damals noch jungen Jakob nackt im Wald aus, in der Hoffnung, dass er von einem Fuchs geholt wird. Der Fuchs als Leitmotiv wirft beim Leser nicht weniger Fragen auf als der Tod der Mutter. Die Mutter ist schwerkrank, labil, vor sich hinvegetierend, mit nur allzu wenigen luziden Momenten in ihrem Leben. Immer wieder wird sie aus der Familie genommen, geht in psychologische Betreuung. Umso verwunderlicher scheint es, dass die Familie dieser kranken Frau eine ganz normale zu sein scheint, die „über‘s Pupsen lacht“. Eine ganz normale Familie, umgeben von einer bedrückenden und allzu wuchtigen Atmosphäre, in der jedes Lachen fehl am Platz scheint.

Lisa Kreißler schafft es diese mythisch, bedrückende Stimmung aus dem Text auf den Leser zu übertragen. Der Leser und Zuhörer wird mit an den Tisch der Familie gesetzt, in diesem einsamen Haus am Rande des Waldes. Anders als bei anderen Texten des Wettbewerbes handelt es sich bei diesem Text eben nicht um möglichst dramatische Beschreibungsprosa, sondern um einen Text, der eine wirklich Atmosphäre erzeugt. Er zieht den Leser in den Bann, in die Geschichte, direkt an den Küchentisch der Familie.

Kritiker mögen sich beschweren der Text sei inhaltlich und sprachlich zu wenig originell, zu wenig experimentell. Meiner Meinung nach macht eben die Bodenständigkeit des Sprachstils („Ich wurde planmäßig gezeugt. Mutter soll sogar nach jedem Versuch eine Kerze gemacht haben, so sehr wünschte sie sich damals ein Kind.“) ihn so überzeugend. Der Text ist bemerkenswert präzise und erzeugt so realitätsnahe Bilder im Kopf des Lesers. Trotz dieser Bild-schaffenden Details gelingt es der Autorin aber sprachlich kurz und knapp zu formulieren. Sie verzichtet auf ewig lange Beschreibungen und kreiert einen gut strukturierten, fließend zu lesenden Text, der aufzeigt, was dieser Mutterverlust und das Mutterphantom in der Familie auslöst.

Und auch wenn der Text thematisch natürlich keine Neuheit ist, so macht ihn das nicht zu einem schlechten Text. Mag der Text dem einen oder anderen zu manieriert erscheinen, meiner Meinung nach macht eben seine klassische Art den Text so stark. Der Text ist nicht experimentell, sondern aristotelisch-mimetisch. Literatur mit der sich die Masse identifizieren, oder zumindest hineinversetzen, kann. Auch wenn das Thema der psychischen Krankheit und des Selbstmordes ein omnipräsentes Thema in der Literatur ist, ist es gerade diese Eigenart die ihn so spannend macht. Und bei weitem noch spannender, wenn man die Chance hat ihn von der Autorin selbst vorgetragen zu bekommen. Lisa Kreißler, schafft das, was anderen Texten im Wettbewerb nicht gelungen ist: Sie bringt die Zuschauer nicht zum Lachen, sondern zum Nachdenken. Und das über den Text hinaus.

Aus diesem Grund ist der plötzliche Schluss, den einige als unbefriedigend empfinden – immerhin wüsste doch jeder gern, was denn nun in dem Brief der Mutter an Jakob steht – meiner Meinung nach, eine weitere Stärke des Texts. Der Text lässt uns fragend und nachdenklich zurück. Auch nach dem Zuklappen des Buchs hält der Text den Leser grübelnd zurück. Darüber grübelnd, was die Mutter ihrem Sohn wohl zu sagen hatte, aber auch darüber grübelnd, warum „Muttertier“ den 19. open mike nicht gewonnen hat.

Bibliographische Angabe:
Lisa Kreißler: Muttertier. In: 19. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2011. S. 85-90.