Eine Rezension zu Rudi Nuss "Kurze Szenerie mit Loch." Prähistorische Hochkulturen, die ewige Orgasmik – und ein Mordfall

(Von Juliane Kruggel)

Der Publikumspreis für den besten Nachwuchsautor, der alljährlich auf dem open mike Wettbewerb für junge Literatur von der taz an einen der 22 Vortragenden verliehen wird, geht dieses Jahr an den Prosatext Kurze Szenerie mit Loch des Jungautoren Rudi Nuss. Der 22-jährige Berliner, der aktuell Vergleichende Literaturwissenschaften studiert und sich auf seinem persönlichen Blog öffentlich unter anderem mit sexuellen Identitäten und Parallelwelten auseinandersetzt, begeisterte mit seiner Prosa nicht nur die diesjährige (sich anonym unter dem Publikum befindene) taz-Publikumsjury. Er sorgte auch für leises Gekicher und schüchternes Geschmunzel unter einigen Besuchern und Lektor*innen. Bereits kurz nach der Lesung wurde Nuss‘ Text auf dem open mike Blog in den höchsten Tönen gelobt – sei er doch „ein Fest für jene, die sich assoziativ oder intertextuell austoben möchten“ und „mehr als nur aussagearmer Stuss, der sich an der eigenen Abgedrehtheit aufgeilt“ (Hamen, Samuel: Open mike der Blog). Ein zurecht verdienter Publikumspreis? Aber alles der Reihe nach…

Eingeleitet wird der Text durch einen Plot, dessen Zweck es ist, selbst die letzten positiven Vorstellungen über die Sinnhaftigkeit und die Existenz des bereits im Titel erwähnten Lochs aus der Welt zu räumen: „Alles, was folgt, wird in diesem Scheißloch verrecken. Die ganze Stadt, der ganze Staat, die ganze Welt, ins Loch gerissen schmilzt sie“ (S. 106). Es folgt die eigentliche Handlung um die beiden Ahrensburger Inspektoren Deru Basinski und Alva Falls, die zu einem Tatort gerufen werden und sich plötzlich am Abgrund eines „circa 280 Meter im Durchmesser, ohne Grund im borealen Boden der Wälder“ (ebd.) befindlichen Loches wiederfinden. Zwei Zeugen sollen gesehen haben, wie in der Nacht zuvor „zwei in Luftpolsterfolie gewickelte Körper in das Loch geschmissen [wurden]“ (S. 107). Nicht weit vom Tatort entfernt hat sich eine Menschenmenge angesammelt, unter denen sich nicht nur das ‚Kollektiv Sinthome‘ befindet, eine Art Sekte, die „an Unsterblichkeit durch Orgasmen, an die ewige Orgasmik [glaubt]“, sondern auch weitere Kollektive, „die an (irgendeine) tiefe metaphysische Einsicht im Loch glauben“ (ebd.). Ab diesem Punkt beginnt die Geschichte interessant zu werden, da sie gleichzeitig einige Fragen aufwirft: Was genau hat es mit dem Loch auf sich? Geht dort tatsächlich etwas Übernatürliches, gar etwas Übersinnliches vonstatten? Und hat das ‚Kollektiv Sinthome‘ vielleicht sogar etwas mit dem Mordfall zu tun? In derselben Nacht träumt Basinski von einer „prähistorischen Hochkultur, die das Loch vor Urzeiten verehrte“ (S. 108) und das Loch „als Tunnel betrachteten, [um] dem Tode zu entkommen“ (ebd.). Basinski träumt davon, wie er im Fallen von den beiden Opfern, die sich als Sasha und Afrif zu erkennen geben, umarmt wird. Er erwacht in seinem Motelzimmer „auf dem Fußboden, seine linke Gesichtshälfte etwas am Boden klebend, sein Arsch in die Höhe gereckt, die rechte Hand sein Genital umfassend“ (ebd.). Es stellt sich die Frage, ob dieser Traum als eine Art ‚Eingebung‘ oder ‚Vision‘ gedeutet werden kann, denn wie könnte Deru Basinski wissen, dass es sich bei den beiden Personen aus seinem Traum um die beiden Opfer handelt? Zur selben Zeit befragt seine Kollegin Alva Falls ein weiteres Opfer: Ano, der mit Sasha und Afrif unterwegs gewesen ist und dem die Täter nicht weiter Beachtung geschenkt haben. Ano gibt an, dass die Täter der „Ultimative[n] Liga Der Fuckboys“ (S. 109) zugehörig seien. Der ‚Transmann‘ Ano kommt Alva irgendwie bekannt vor, doch erst später kann sie ihn zuordnen. Deru Basinski scheint weiterhin in einer Art Traum oder Vision gefangen zu sein. Er befindet sich in einem Zugabteil und führt ein Gespräch mit einer grauen Gestalt aus vergangenen Zeiten, die ihn vor dem Loch warnt: „Das Loch taucht immer wieder auf. Bei uns. Bei euch wieder. In den dunkelsten Zeiten der Menschheiten erscheint der Abgrund. Das blanke Nichts. Und er ist unüberwindbar“ (S. 111). Als er versucht nach seinem Tee zu greifen, „ejakuliert er plötzlich äußerst heftig, krampft zusammen und fällt auf den Flokati am Boden“ (ebd.). Als Alva zu Hause einige Internet-Foren durchgeht, entdeckt sie das Profil der drei Opfer Sasha, Afrif und Ano, auf welchem sie, vermutlich von der Fuckboy-Liga, öffentlich angeprangert werden. Alva erinnert sich, dass sie alle drei kannte: „Sie hatte sogar schon zu den dreien masturbiert“ (S. 112). Es folgt abschließend wieder eine Art Vision, in der Alva, auf dem Boden eines Sees liegend, sieht, wie die Menschen langsam im Wasser versinken. Der Text endet damit, dass sie „auch Basinski fallen [sieht], sein Hemd weht in den Wellen. […] Er senkt den Kopf, umfasst die Beine, schließt die Augen“ (ebd.).

Kurze Szenerie mit Loch – Der Titel deutet einiges an, nämlich zum einen tatsächlich ein Loch, das sich als irritierendes Phänomen in der Erde auftut; dann natürlich die Sexualthematik des Textes folgend als Vulgärausdruck für Körperöffnungen, schließlich aber auch im übertragenen Sinne als Bild für die Sinnleere wie den Abgrund einer gesellschaftlichen Entwicklung. In diesem Sinne sind die Träume und Visionen des Ermittlers Basinski zu verstehen, der diese Bedeutungsdimension und die kritische Gegenwartsdiagnose teilt, aber mehr erahnt, als dass er sie klar weiß. Man kann das Loch metaphorisch als Sinnbild für die Krisen verstehen, in denen sich unsere globalisierte Welt befindet. Um dieses Loch stehen alle Krisen, die unsere Gegenwart bietet: die Bankenkrise, die Flüchtlingskrise, die Euro-Krise. Die im Text beschriebene Liga der Fuckboys weist zudem hinsichtlich ihres Handelns eine Ähnlichkeit zu der politischen Gruppierung ‚Pegida‘ auf, was an einer Stelle des Textes durch die Gefahr der „Verschwulung des Abendlandes“ (S. 111) erkennbar ist. Somit wird der diesjährige open mike doch, hingegen einiger Vorurteile, ein wenig politisch.

Mit seinem spielerischen und zugleich provokativen Erzählstil gelingt es Rudi Nuss alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Publikum des 24. open mikes hatte gar keine Chance sich ihm zu entziehen.

Bibliographische Angaben:
Rudi Nuss: Kurze Szenerie mit Loch. In: 24. open mike. Wettbewerb für junge Literatur. Die 22 Finaltexte. München: Allitera Verlag 2016. S. 106-112.