Eine Rezension zu Deniz Ohde "Arktisluft" Frühling auf den zweiten Blick

(von Alina Schmidt)

Deniz Ohde hat es schwer. Oder viel mehr, ihr Text hat es schwer. Gerade hat Kristin Höller ihren Beitrag Im Imbiss, im Mai vorgetragen, welcher vom Publikum begeistert aufgenommen und mit vielen Lachern belohnt wurde. Danach verpufft Ohdes Arktisluft regelrecht wie Nebelwölkchen im Augustsonnenschein. Zu Unrecht, wie auch die Jury findet, die unter anderem Ohdes Text vor der Vergabe der Preise als ebenfalls besonders herausragend lobt. Und in der Tat steckt in Ohdes Werk einiges mehr, als es vielleicht zunächst scheinen mag.

Das Setting in ihrer Kurzgeschichte ist düster, trostlos, fast endzeitlich. Helene, Hauptfigur und Haupt-Leidtragende, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, ist auf dem Weg zum Friedhof, um auf dem Grab ihrer erst kürzlich verstorbenen Mutter einen Strauß Tulpen zu stellen. Helene ist ein Bild der Hoffnungslosigkeit, die Tulpen, die sie gekauft hat, sind nicht mehr frisch, sondern „ein wenig schief […] und einige Blüten [waren] bereits geöffnet“ (S. 114), „auf den Handknöcheln brannte die Haut“ und auch „ihr Rücken tat weh“ (S. 113). Obwohl es bereits Ende April ist, ist die Luft „schneidend kalt“ und voll von „Schneeregen und Hagel“ (ebd.) – Arktisluft eben. Dieses unwirtliche Setting spiegelt Helenes Seelenleben wieder, kontinuierliche Flashbacks in die Vergangenheit verdeutlichen, dass sie seit dem Tod ihrer Mutter „von Unruhe getrieben“ (S. 114) ist und ein andauerndes Gefühl des „Fallen[s] in der Magengrube“ (ebd.) verspürt. Der Tod ihrer Mutter hat Helene besonders getroffen, ihre Stimmung sowie die Atmosphäre im Text sind endzeitlich, da die Beziehung zu ihrer Mutter so intensiv war, dass das plötzliche Fehlen des ‚Partners‘ wie das Ende einer Ära erscheint. Selbst der Vater, zu dem Helene keinen engen Kontakt zu haben scheint, meint nur trocken: „Dass ihr euch mal trennt, hätte ich nie gedacht“ (ebd.). Ganz so, als sei Helene mit ihrer Mutter verheiratet gewesen und nicht er.

Helene hat sich um ihre Mutter liebevoll, gewissenhaft und bis zur Aufopferung gekümmert, die Pflege der Mutter war jahrelang der sinnstiftende Mittelpunkt ihres Lebens und gab ihr Orientierung. Die Mutter war für Helene ein Vorbild sprudelnder „Lebenskraft“ (S. 116) und Optimismus und hat sich um Helene genauso zuneigungsvoll gekümmert wie Helene sich hinterher um sie – eine Tatsache, die besonders durch die direkte, sprachliche Gegenüberstellung Ohdes auf S. 117 deutlich wird: Heute „musste [Helene] ihr morgens aus dem Bett helfen, ihr das Brot in mundgerechte Stücke schneiden, sie dann ins Wohnzimmer bringen und das Fernsehprogramm einstellen […]“, früher „holte [die Mutter] sie als kleines Mädchen mittags von der Schule ab, […] las ihr etwas vor, […] machte ihr Grießbrei“. Die Krankheit der Mutter lässt Helene realisieren, dass sich ihre Rollen nach und nach vertauscht haben, sie, Helene, wird zur Mutter und die Mutter wird zum Kind, welches nun „in ihren Armen“ landet und nach Halt sucht. Nach dem Tod der Mutter „hatte [sie] nicht gewusst, was sie hätte tun oder sagen sollen“ (S. 114), wie auch, es wurde ihr gerade der Lebensmittelpunkt entrissen, der ihr jahrelang Halt und Stabilität gegeben hatte.

Die Zukunft des „sechzigjährigen Waisenkindes“ (S. 118), das seine besten Jahre für die Pflege der geliebten Mutter geopfert hat, scheint also zunächst sehr aussichtslos und düster. Doch Ohdes Sprache und der runde Aufbau ihrer Kurzgeschichte lässt anderes vermuten. Die Farbpalette in ihrem Text wird dominiert von Farben wie weiß, aschbraun, grau, silbern, weiß, milchig-gelb, hellgrau, dunkelblau, graublau, weiß, silber, weißgrau (S. 114-118), welche die „Kaltfront aus der Arktis“ (S. 119) untermalen, mit welcher Helene seit dem Tod der Mutter zu kämpfen hat. Doch wenn man genau hinsieht, gibt es Anzeichen, dass diese Kaltfront nicht von permanenter Natur sein wird: Denn „[d]ie Bäume trugen schon hellgrüne Blätter“ (S. 113) und „das Hellgrün drang in den Hagel ein wie ein schiefer Ton“ (S. 118) – ein schiefer Ton, der bewirkt, dass die Geschichte eben nicht auf einer traurigen Note endet. Im Gegenteil, Helene, die das Zigarettenetui ihrer Mutter als Talisman „in der Jackentasche [umfasst]“ (S. 119), schließt symbolisch den Schirm (S. 119), den sie zu Beginn der Erzählung zum Schutz noch geöffnet hatte (S. 113) und stellt sich der Kaltfront in der Hoffnung auf einen zweiten Frühling.

Bibliographische Angaben:
Deniz Ohde: Arktisluft. In: 24. open mike. Wettbewerb für junge Literatur – Die 22 Finaltexte. München: Allitera Verlag 2016. S. 113-119.