Eine Rezension zu Benjamin Quaderer "Für immer die Alpen" Kuck mal, wer da spricht!

(von Marie Kramp)

 

 

Mit seinem Romanauszug Für immer die Alpen landet Benjamin Quaderer beim 24. open mike Wettbewerb für junge Literatur gleich einen Volltreffer. Den zweiten Platz belegt er mit dem grotesk, ja fast surreal anmutenden Text, der wohlgemerkt auf einer wahren Begebenheit, einer realen Person beruht: dem Leben und Schaffen eines ausgebufften Datendiebs, Manipulateurs und Hochstaplers in Liechtenstein, Heinrich Kieber. Das, was den Text so besonders macht, ist neben der sprachlichen Sicherheit wohl vor allem die innovative Erzählperspektive. Quaderer schafft es, wie Sasa Stanisic in seiner Laudatio bemerkt, „uns auf einen ganzen Roman neugierig“ zu machen.

Zunächst glaubten wohl die meisten Zuhörer*innen, dass es sich um eine weibliche Erzählerin handele, die auf die Geburt ihres Kindes zurückblicke, wenn es heißt, dass „[d]as Licht im Kreißsaal […] schwach [war]“ (S. 133) und „Alfred […] am Bett [saß] und sich […] das Bein [hielt] (ebd.). Doch Überraschung geglückt: Der Erzähler ist der frischgeborene Protagonist, der das Szenario seiner eigenen Geburt nicht nur selbst zu erinnern scheint, sondern darüber hinaus ein omnipotenter auktorialer Erzähler im Kleinkindalter ist. Ein „Klugscheißerbaby“, wie die Blogger des 24. open mikes es nennen, das seinen Vater beim Vornamen nennt und mit dem Geist eines Erwachsenen ausgestattet ist – umso skurriler die Situationen, in denen dies Wissen und sein „Baby-Sein“ aufeinander prallen, etwa, wenn seine Mutter jeden seiner Laute „als Ausdruck von Hunger [deutete] und [sich] die Bluse auf[knöpfte]“, damit er „aus Höflichkeit an ihrer Brustwarze saugte“ (S. 135).

Sein Schrei, den er bei dem Gedanken ausstößt, dass er „mit diesen Menschen den Rest [s]eines Lebens verbringen würde“ (ebd.), verselbstständigt sich, wird zu etwas Lebendigem, das umschwirren, eindringen, sich Zutritt verschaffen und einen Hang hochrasen kann (vgl. S 133). Wir verfolgen dieses Schallereignis vom Kreißsaal in den Kirchturm, von dort aus ins Regierungsgebäude, durch die Hauptstadt Liechtensteins am Juwelier vorbei ins Schloss der Fürstenfamilie und bis auf den höchsten Punkt des Landes, den Gipfel des Grauspitz. Als wäre dieser Schrei eine Vorausahnung dessen, was den Erzähler später ausmacht, nämlich einen Menschen, der skrupellos an allen Institutionen vorbeiziehen und sein großes Geschäft mit illegalem Datenverkauf machen wird. Eine subtile Vorausahnung verglichen mit dem Lesen in den Sternen, das der Hebamme erlaubt, Alfred vorherzusagen, dass „der kleine Johann viel Energie darauf verwenden [wird], Besitz anzuhäufen“ (S. 134).

Quaderer mag Überraschungen, denn es soll nicht bei der einen bleiben. So streut er Andeutungen ein, wie: „Das Zimmer, das ich in den ersten Jahren bewohnte, war in hellblauer Farbe gestrichen, hinter der man den vormaligen Rosaton durchschimmern sah (S. 135).“ Und schon kurze Zeit später werden wir mit den bösen Zwillingsschwestern des Protagonisten bekannt gemacht, die sich zum Ziel gesetzt haben, sich an ihrem kleinen Bruder für den Diebstahl des Zimmers zu rächen. Während eigentlich leblose Dinge wie der Schrei vom Erzähler anthropomorphisiert werden, so ist seine Darstellung der Schwestern eher die eines einzigen Wesens, reduziert auf die vier Zöpfe und Gesichter „wie zwei Sonnen“ (S. 138). Das Wort ‚Sonne‘ ist für den Erzähler negativ konnotiert, weil er sich mit dem Geist eines erwachsenen Genies im Körper eines Säuglings an die „Orte, die mit Einbruch der Dunkelheit zu existieren begannen“ (S. 137), zurückzieht, also in die Traumwelt, in der er laufen, sprechen und sogar fliegen kann. Beide Male, die die Mädchen sich an ihrem Bruder zu schaffen machen, enden nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich identisch: Eines der Elternteile „hielt in jeder Hand zwei Zöpfe“ (S. 138). Auch der Vorgang des Stillens ist im gesamten Text immer gleich mit dem Ausdruck ‚Bluse aufknöpfen‘ umschrieben. Für den Erzähler sind diese ‚Wiederholungstaten‘ traumatisch, weshalb er sich letztlich endgültig in seine Traumwelt zurückzieht: „Ich schloss meine Augen und zählte bis dreißig. […] In dieser Welt gab es nichts, was mich hielt“ (S. 138).

Das einzige, was inkonsistent scheint, wenn das in dieser surrealen, grotesken Welt Quaderers überhaupt möglich ist, ist das Allgemeinwissen des Baby-Erzählers. Er ist vertraut mit Platons Höhlengleichnis, weiß aber nicht, wer die Sowjets sind. Insgesamt wirkt die Darstellung des Erzählers seiner ersten Lebensmonate wie die Grundlage dafür, was aus ihm werden wird. Anstelle eines Gottes betet er einen sowjetischen Satelliten an; eine Intertextualität zum Vater Unser ist mit „Molnija-1, du bist im Himmel“ (S. 136) nicht von der Hand zu weisen, aber wie soll ein Kind es auch besser wissen, wenn der Vater nur betet, „wenn er sich etwas wünscht[]“ (ebd.). Misshandelt von den Schwestern und missverstanden von den Eltern – das, zusammen genommen mit der Ahnung der Hebamme und dem Weg, den schon sein erster Schrei auf der Erde in die privaten Gemächer und wichtigen Orte der Nation nimmt, begründet seine „Radikalisierung“ (S. 138) im Kleinkindalter. Das macht tatsächlich neugierig auf den Rest, der hoffentlich bald folgt.

 

Bibliographische Angaben:
Quaderer, Benjamin: Für immer die Alpen. In: 24. open mike. Wettbewerb für junge Literatur – Die 22 Finaltexte. München: Allitera Verlag 2016. S. 133-138.