Eine Rezension zu Ann-Kathrin Roth "Bierpferdchen und Blechcowboys" „Kommunikation ist mehr als hundertsechzig Zeichen“

(von Leif Marvin Jost)

In Ann-Kathrin Roths Text  „Bierpferdchen und Blechcowboys“ wird die Identitätssuche in Bezug auf die Welt der Virtualität als postmodernes Problem dargestellt. Die Frage, ob in der heutigen Zeit überhaupt ein Leben in Abstinenz vom Internet möglich ist, der Wandel der sozialen Netzwerke und die Sehnsucht nach Kommunikation, welche als das Kennzeichen für Existenz präsentiert wird, werden zentral thematisiert. Dies geschieht in zeitgenössischer, jugendhaft wilder und ungezähmter  Art und Weise, was sich sowohl durch das beschriebene Szenario, als auch durch das Vokabular, den verwendeten Schreibstil und die Form und Rahmung des Ganzen zeigt.

Inhaltlich handelt „Bierpferdchen und Blechcowboys“ von den fünf Protagonisten Kain, J, Talo, Mickey und einem männlichen Ich-Erzähler, die sich auf die Reise begeben, einen Ort zu finden, „den Google nicht kennt“, um damit die virtuelle Welt ein für alle Mal hinter sich lassen zu können. Dieses Vorhaben jedoch stellt sich als ungemein schwierig heraus und Roth legt in überspitzter Art offen, wie eng der heutige Mensch mit dem Internet verbunden ist und welche Bedeutung diese Verbundenheit für ihn hat.

Der Text besitzt Züge einer Dystopie, welche vor allem durch die Darstellung von Talo deutlich werden. Dessen Gehirn ist „über Kabel und ein kleines schwarzes Kästchen direkt mit der World of Warcraft verbunden“. Er ist „seit drei Jahren daueronline und nur noch über den WOW-Chat zu erreichen“, wobei alleine durch die ungenaue Beschreibung der Apparatur  gezeigt wird, dass eine Unwissenheit darüber regiert, worin die genaue Verbindung besteht. Auch dem Leser wird die Art der Verbindung zwischen Talos Gehirn und der World of Warcraft nicht näher erläutert, wodurch seine physische, soziale Isoliertheit verstärkt zum Ausdruck kommt. Der Leser kann dann jedoch einen Widerspruch zwischen der sozialen Isoliertheit und der Szenerie, in der sich Talo befindet, sehen: Warum treten die anderen Charaktere mit ihm als Gruppe die Reise an, wenn dieser doch ganz in der virtuellen Welt lebt und sein Körper „vor drei Jahren zum letzten Mal gezuckt“ hat? Es scheint so, dass Talo in irgendwelcher Weise auch in der physischen Welt einen Kontakt zu Kain, J, Mickey und dem Ich-Erzähler hat und dieser auch aufrecht erhalten wurde. Doch das steht im Widerspruch dazu, dass Talo lediglich in der Welt der Virtualität lebt.

Der Text kommt in gewisser Weise als Abenteuer-Roman daher, was nicht zuletzt an der Wahl des Titels „Bierpferdchen und Blechcowboys“ liegt, und eine gemeinsame Reise ins Ungewisse unternommen wird. Die Begriffe „Cowboys“ und „Pferdchen“ wurden miteinander verknüpft, wobei ersterer konkrete Assoziationen beim Leser hervorruft  Richtung Exotik, fremde Welten und Abenteuer, dieser zusammen mit Pferdchen auch Bezüge zur Kindheit und dem spielerischen Verkleiden nimmt. Die Geschichte erzählt auf eine Weise von der Sehnsucht nach dem Ausbruch aus dem Alltag, was bei Roths Text für die Protagonisten die virtuelle Welt bedeutet.

Gerahmt ist die Geschichte durch eine Wikipedia-Definition von virtuell. Hierbei wird die Ironie deutlich, dass das Internetlexikon Wikipedia auch lediglich virtuell existiert, wodurch etwas Virtuelles das Virtuelle definiert. Wikipedia wird hier personifiziert, was die Bedeutung und Stellung Wikipedias für die Menschen heute darstellt. Auch, dass die Definition ungeprüft als wahr ohne eigene Prüfung angenommen wird, demonstriert das Verlorengehen der Fähigkeit zu kritisieren, zu hinterfragen und selbst einen Standpunkt anzunehmen. Leider jedoch scheint auch an dieser Stelle recht inkonsequent gearbeitet worden zu sein, da im Laufe der Geschichte das Wort virtuell, welches den zentralen Moment ausmacht, sehr schwammig verwendet worden ist. Soll virtuell gerade nicht das Gegenteil von real, sondern von physisch sein, heißt es im Text „Goodbye Reality“ und „in der Realität hat es uns nie gegeben“. Auch wird die Verschiedenheit und Grenzen von diesen beiden Begriffen nicht gemacht, sodass sich dem Leser  die Frage stellt, worin sich genau real von physisch unterscheidet. Ist es beispielsweise überhaupt möglich, physisch, aber nicht real anwesend zu sein? Kann Kains Internetfreundin Stacy, da diese die Eigenschaft  besitzt, virtuell zu sein, nicht physisch, aber vielleicht real sein? Und was für ein grundlegender Realitätsbegriff ist diesem Gedanken vorausgesetzt, um diese Unterscheidung machen zu können. Es ist sehr schade, da genau dieser Punkt, mit welchem „Bierpferdchen und Blechcowboys“ steht oder fällt und worum es in der Geschichte primär geht, inkohärent behandelt wurde. Vielleicht war die inhaltliche Ausführung Roths doch ein wenig zu wild.

Roth legt ihren Text als Film an, genauer als Drehbuch, um ihren Text zu strukturieren. Es ist sehr auffällig, dass die einzelnen Szenarien durch Schnitte, welche explizit gekennzeichnet werden durch [Schnitt] und allein deswegen immer der Bezug zum Kinofilm im Hinterkopf des Leser herumgeistert, voneinander getrennt werden. Übergänge lassen sich nicht finden, wodurch sich bei einigen Szenen die Frage stellt, in wie fern diese für den Verlauf der Geschichte von Bedeutung sind. Eine mögliche Deutung, die ich anbieten kann ist, dass der Eindruck eines Videogedächtnisses erweckt werden soll. Filmisch könnten die einzelnen Szenen gut umgesetzt funktionieren, da die Dynamik über die Einstellung an Lebendigkeit gewinnt. Es wird mit Perspektiven und Kamerabewegungen gespielt. Nicht zuletzt dadurch bekommt der Text einen gewissen Charme und bekräftigt den frischen, ungezähmten Stil der Autorin. Auch bricht die Autorin in gewisser Weise die Schreibkonvention, da der erste Schnitt erst spät, relativ zur Länge des Textes gesehen, gemacht wird und der Leser dann, an gegebener Stelle, sehr plötzlich und ruckartig aus dem Verlauf der Geschichte gerissen wird, was einen Überraschungsmoment zur Folge hat und den Text allein von der Form her interessanter macht.

Ein weiterer nennenswerter Aspekt in Roths Text ist die Thematisierung von Denkstrukturen. Gewisse Gedanken werden als Kombinationen von Tasten einer Computertastatur wiedergegeben, was sehr viel über das Funktionieren von Denkstrukturen und dessen Ausdruck aussagt: „Control-Alt-Delete, denke ich ganz fest. Control-Alt-Delete. Ich will hier raus. Control-Alt-Delete. Escape.“  Auch lässt sich in Js Tätigkeit, stets seinen momentanen „Status“, seine Gedanken oder das, was er einer Person mitteilen möchte, auf Post-its zu schreiben und an denjenigen zu kleben, an welchen diese adressiert sind, eine Substitutionshandlung erkennen. Ist dieser in der virtuellen Welt, besonders beim sozialen Netzwerk Facebook, in der Lage, sich durch das Posten seines aktuellen Status‘ mitzuteilen, was seine virtuellen Alltag ausmacht, geschieht diese Art der Kommunikation in der physischen Welt durch das Schreiben von Post-its, wobei allein durch die Wortfamilie die Verbindung zwischen den beiden Welten geschaffen wird. Jedoch ist dieses in der physischen Welt eine einseitige Kommunikation und nicht befriedigend für J, wodurch sich der folgende Dialog ergibt, welcher auch unter philosophischen Gesichtspunkten interessant und von Bedeutung ist: Existenz in Abhängigkeit von Kommunikation.

„‘Du existierst‘, sage ich, ‚beruhige dich.‘

‚Ach ja‘, sagt J, ‚wieso antwortet mir dann niemand?‘“

Bibliographische Angabe:
Ann-Kathrin Roth: Bierpferdchen und Blechcowboys. In: 19. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2011. S. 116-124.