Eine Rezension zu Paula Schweers "Inseln" Inseln? - No man is an island!

(von Esther Kalb)

Fraktale – eigentlich ein Begriff aus der Mathematik – zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus mehreren kleinen Kopien ihrer selbst bestehen. Auch Paula Schweers äußerst gelungener Text Inseln, der von der Jury mit einer besonderen Empfehlung bedacht wurde, kann man als Fraktal bezeichnen. Auf allen Ebenen setzt er sich intensiv mit einem einzigen Thema, der Distanz, auseinander. Schon die Tatsache, dass es sich um ein Fragment handelt, verdeutlicht, wie konsequent die 1992 geborene Autorin in ihrem Vorhaben ist. Auch der Titel, in dem der Verweis auf den berühmten Ausspruch John Donnes anklingt, untermalt das Thema: „No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main.“ Schweers zeigt in ihrem Text, wie sich die Protagonistin gegen diese These zu wehren versucht und scheitert.

Der Inhalt ist schnell erzählt: Die Protagonistin versucht vergeblich das Kindheitstrauma der sexuellen Übergriffe der Mutter und das Verschwinden des Vaters zu verarbeiten. Das Besondere an diesem Text ist jedoch nicht das Was, sondern das Wie. Zwei Blöcke rahmen den Kern des Textes, der die traumatische Kindheit unreflektiert und distanzlos erzählt. Den äußeren Rahmen bildet die Forschung des Vaters, die „versucht Abstraktes zu versinnlichen“ (S. 151) und durch deren materielle Präsenz der Vater ständig in der Wohnung der Protagonistin und auch im Text durch die kursivierten Ausschnitte aus seinem Manuskript anwesend ist. Den inneren Rahmen bildet die Erzählung der Jetztzeit der Protagonistin, die mit der Mutter in der ehemaligen Wohnung des Vaters wohnt. Eine Zweckgemeinschaft, die von Kommunikationslosigkeit und mangelnder Zukunftsperspektive geprägt ist. Durch die sexuellen Übergriffe in der Kindheit hat die Mutter Spuren in der Sexualität der Protagonistin hinterlassen. Diese schläft zwar mit Frauen, distanziert sich jedoch sofort wieder: „[…] und ich drehe mich wieder im Bett, fiebrig, verschwitzt, zum vertrauten Körper der Anderen, den ich fortschiebe, durch einen beliebigen Frauenkörper ersetze, dessen Geruch und Geschmack ich im Badezimmer abspüle und ausspucke.“ (S. 150) Es bleibt offen, ob die Andere die Mutter ist.

Auch in der Gesellschaft sucht das lyrische Ich die Distanz: „In den Nasszellen neben mir wechseln sich Frauen- und Kinderkörper ab. Ihr Rufen und Lachen ereignet sich direkt neben mir, die Trennwände sind dünn. Statt in die Schwimmhalle gehe ich zurück zu den Einzelkabinen, dränge mich durch die Gruppen auf den Gängen, werde von Teenagern weitergeschoben, zwischen ihnen eingeklemmt, sie sind nass und riechen nach Chlor.“ (S. 151)

Die Textstruktur zeigt durch komplett fehlende Absätze jedoch, dass sich die Grenzen verflüssigen und der Abgrenzungsversuch deshalb scheitern muss.

Auch in der sprachlichen Gestaltung thematisiert Schweers die Distanz. Sie zeichnet abstrakte Bilder und spielt mit geometrischen Mustern und Farben: „Viertel, die sich als weiße, blaue, gelbe Kompartimente voneinander abheben, als wiederholte Farbfolgen, durchzogen von Wäscheleinen und Stromkabeln.“ (S. 151) Zudem wird die Sprache durch ihre starke Rhythmik geprägt, die durch das immer wieder verwendete Prinzip der Addition hervorgerufen wird. Auch inhaltlich spielt die Rhythmik eine wichtige Rolle als strukturierendes Prinzip, das Orientierung bieten soll, aber nicht kann: „Abends fahren die Straßenbahnen in unruhigerem Turnus, sie teilen die Zeit nicht mehr zuverlässig in Viertelstunden, sondern ziehen sie in unerwartete Längen. Die Zeit streut, sie kann die Unentschiedenheiten, in denen wir uns bewegen, nicht erfassen.“ (S. 154) Denn genauso wie die Grenzen zwischen Personen verschwimmen auch die Zeitebenen.

Der Zugang zu den Gedanken der Protagonistin bleibt weitgehend verschlossen, selbst wenn wir Zeugen ihres Nachdenkens werden: „Im Halbdunkel, langgestreckt auf der Mattratze, entwickle ich aus Details, Sinneseindrücken, Tagesresten kausale Ereignisverläufe mit Einleitung und Klimax, die sich wieder lockern, in lose Sentenzen zerfallen, während das Zimmer sich zusammenzieht, zu einer engen Kammer wird, in der die Erlebnisse weniger Raum als sonst zum Nachhallen finden.“ (S. 152)

Selbst im Vortrag wahrt Paula Schweers, die seit 2011 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert, die Distanz. Sie liest monoton und atmet an den unmöglichsten Stellen. Dies trägt nicht zur Verständlichkeit des Textes bei, bleibt aber seiner Aussage treu. Das zu Beginn in den Gedanken über die Betrachtung der Küstenlinie Frankreichs eingeführte Spiel mit Nähe und Distanz zieht sich also nicht nur durch den Text, sondern begleitet ihn selbst in seiner Performanz: Der Text ist zugleich Fraktal und Insel. Er distanziert sich von den Leser*innen. Man muss sich anstrengen, um ihn zu erreichen, aber wenn man es schafft, wird man belohnt!

Bibliographische Angaben:
Paula Schweers: Inseln. In: 21. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2013. S. 150-155.

Donne, John: Meditation XVII. In: Devotions upon Emergent Occasions. England 1624.