Eine Rezension zu Jan Snela "Milchgesicht" Sprachakrobatik zu Milch, Trennungen und Tankstellen

(von Leonie Krafzik)

In der Erzählung „Milchgesicht", für die Jan Snela den ersten Prosapreis des 18. open mike-Wettbewerbes erhielt, macht sich der Ich-Erzähler auf den Weg in eine Tankstelle, um dort etliche Liter Milch für ein Milchbad zu kaufen, das er in seiner seit dem Auszug seiner Freundin fast leeren Wohnung nehmen möchte. So unspektakulär und gleichzeitig skurril kommt der Inhalt der Geschichte daher, doch das Adjektivfeuerwerk, das Jan Snela auf seine Leser bzw. Hörer loslässt, macht die Erzählung zu einem denkwürdigen Erlebnis. Beispielhaft kann hier die Beschreibung der Milch zu Beginn der Erzählung genannt werden: „[...] von Kühen für Kälber den dauerverdauten im Wind weh´nden Gräsern entschnaubte, geraubte, verrührte, maschinell Molkerei´n zugeführte, von Lastwäg´n in Supermärkte chauffierte Flüssigkeit [...]"

Der Ich-Erzähler, der wie ein einsamer Außenseiter wirkt, führt den Leser durch assoziative Gedankenketten, die eine Fülle von Themen anreißen und gleichzeitig einen „schlaksigen" Antihelden vorstellen, der sich der Mission Milchbad verschreibt, um sich nicht mit der Einsamkeit nach seiner gescheiterten Beziehung auseinandersetzen zu müssen. Dass der Erzähler diese Trennung noch nicht überwunden hat und weiterhin seiner Exfreundin „Karen" nachtrauert, verdeutlicht die Namensgebung der beiden anderen weiblichen Figuren, die in der Erzählung auftreten: So heißt die Verkäuferin in der Traumszene „Carmen" und die Verkäuferin in der Tankstelle „Caro", wodurch implizit immer wieder Bezüge zu „Karen" hergestellt werden, als ob jede Frau die Hauptfigur an seine Exfreundin erinnern würde.

Der Erzähler präpariert, bevor er sich auf den Weg in die Tankstelle macht, ein Nike-Stirnband mit einer 14 cm langen Messingschraube, sodass er ein Horn vor der Stirn trägt. Auf dem Weg in die Tankstelle erkennt der Erzähler, dass es Sommer geworden ist und begutachtet zahlreiche Sommerrequisiten, die er in geparkten Autos entdeckt. Vor der Tankstelle begegnet er mehreren coolen Typen, die tanken, sprachlich jedoch derartig degradiert werden, dass der Lesende keinerlei Sympathie für sie aufbringen kann: „Schon von Weitem sah ich, in Blazern und schreienden Hemden, die hinter ihre beatwummernden, türenschlagenden Schlitten geduckten, einander mit Zapfcolts bedroh´nden, Stutzen in seitliche, lackfarbumgrellte Löcher rammenden Kerle herumulkend um die Wette tanken." Bevor der Erzähler wirklich die Tankstelle betritt, folgt eine Traumsequenz, in der sein Minderwertigkeitskomplex wundervoll umschrieben wird, hier jedoch durch einen personalen Erzähler: Überfordert von all den Konsumzwängen, denen man sich in Geschäften durch die Flut der Kaufartikel ausgesetzt fühlt, geht der Träumende, der in der Traumpassage „Hannes" genannt wird, auf eine Verkäuferin zu, um von ihr ein Lächeln, vielleicht sogar einen Kuss zu erhalten. Doch die Verkäuferin malt Hannes einen Strichcode auf die Stirn und ermittelt, indem sie den Code mit ihrer Infrarotpistole scannt, dass er gerade einmal 95 Cent wert ist, woraufhin Hannes im Boden versinkt. Nach dieser surrealen Episode betritt der Ich-Erzähler nun den Shop der Tankstelle. Nachdem er sich dort einige Verkaufsartikel angeschaut hat, erinnert ihn der Anblick von „Milky Ways" daran, dass er eigentlich Milch kaufen wollte. Beim Vorgang des Milchaufladens lässt er sich von einem muskulösen Mann unterstützen, der ihm die Milchpackungen auf die Arme stapelt. Die beiden Männer werden von der Verkäuferin dabei beobachtet und der Erzähler unterstellt ihr Assoziationen zu Holz holenden und Feuer machenden Männern. Das Spiel mit männlichen und weiblichen Klischees, das der Text vornimmt, kulminiert an dieser Stelle, wenn das Aufladen der Milch als eine Art heterosexueller Balztanz zur Bezirzung der Verkäuferin erscheint. Beim Bezahlen der Milch wird jedoch die Distanz der Verkäuferin zur Hauptfigur deutlich, indem sie ihm die EC-Karte „mit spitzen Fingern" aus dem Mund nimmt. Hier findet das zuvor so seltsam anmutende Horn des Erzählers sogar seine praktische Bedeutung, indem damit die Geheimzahl in das EC-Kartengerät eingetippt wird und der Erzähler „galoppiert" die Tankstelle hinter sich lassend nach Hause.

Jan Snelas Erzählung beeindruckt vor allem durch ihre sprachgewaltige Umsetzung. Zahlreiche Aufzählungen, adjektivlastige Umschreibungen im besten Sinne, spannende Neologismen, wie „zumzerfieselnstudenzeithabig", die mehr ein Gefühl als einen Sinn vermitteln und ein starker Textrhythmus, der teilweise in fantastischen Reimketten seinen Höhepunkt findet, machen den Text „Milchgesicht" zu einer sprachlich dichten Geschichte, die den Leser in ihren Bann zieht und über eine sprachlich ausgefeilte Form den Trennungsschmerz der männlichen Hauptfigur und deren Sehnsucht nach Gesellschaft und Leichtigkeit ebenso zartfühlend zu vermitteln weiß, wie sie gleichzeitig höchst bissig das Konsumzeitalter und einige seiner Prototypen kritisch in den Blick zu nehmen vermag. Zu Jan Snelas Stil bleibt, ganz im Sinne der Konsumgesellschaft, nur noch eines zu sagen: Bitte mehr davon!

Bibliographische Angabe:
Jan Snela: Milchgesicht. In: 18. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2010. S. 141-145.