Eine Rezension zu Hakan Tezkan "Wolf" Der Moment des Schweigens als unerträgliche Antwort

(von Alexandra Claassen)

„Ist es vorbei, fragte M und rieb sich übers Gesicht. Die Mutter nickte, die Tante ballte die Hände, und die Oma starrte auf ihre Füße, während der Vater und der Onkel bereits aufgestanden waren und nicht wussten, wohin mit ihren Körper.“ (S. 149)

Dieser Ausschnitt kennzeichnet die Sprachlosigkeit, die entsteht, wenn geliebte Menschen von uns gehen. Mit dieser Sprachlosigkeit gestaltet Hakan Tezkan gekonnt in seinem Romanauszug Wolf aus dem Roman Den Kern schluckt man nicht. Er stellt dabei ein bedrückendes Schweigen und Warten in den Vordergrund, welches dadurch Leben gewinnt, dass nonverbale Handlungsabläufe detailgetreu und lebensnah dargestellt werden, wodurch der Text die LeserInnen gelungen in seinen Bann ziehen kann.

Die Textauswahl ist in zwei klare Auszüge geteilt, wobei sich der erste thematisch noch weiter gliedern lässt. M, Sohn in einer Familie, wartet mit Vater und Onkel auf etwas. Was dieses Etwas ist, wird zunächst nicht deutlich. Durch verschiedene Andeutungen kann vermutet werden, dass es sich dabei um den baldigen Tod des Opas handelt, was im zweiten Teil des ersten Abschnitts bestätigt wird. Mutter, Oma und Tante kommen nach Hause – aus dem Krankenhaus – und bestätigen den Tod durch ein Nicken. Was dann folgt, ist eine Verkettung von beschriebenen Handlungsabläufen, die allesamt kennzeichnen, wie sich die Gefühle der Ohnmacht und der Trauer verbreiten. Auch M scheint damit nicht umgehen zu können und flieht aus der unerträglichen Stille. Damit endet der erste Textabschnitt. Der zweite repräsentiert die Flucht von M in eine ihm bekannte Hütte. Dort angekommen trifft er einen Jungen mit Namen Wolf.

Mit starker atmosphärischer Beschreibung wird dem Leser schmerzlich bewusst, wie anstrengend und bedrückend es sein kann, auf etwas zu warten, von dem man weiß, dass sein das Eintreten einen mit voller Wucht treffen und emotional belasten wird. Es werden eher nebensächliche Handlungsabläufe dargestellt und das Bewusstsein dafür geschaffen, dass in der momentanen Situation des Wartens auch an nichts anderes zu denken ist. Den Protagonisten M scheint nichts Besonderes zu interessieren. Seine Gedanken sind überall und nirgendwo: „Der Vater stand auf und legte M die Hand auf die Schulter. Nach ein paar Sekunden räusperte er sich und nahm die Hand wieder weg, goss sich eine Tasse Kaffee ein. M sah zu, wie die Milch in die braune Flüssigkeit eindrang, darin verschwand, beim Umrühren erneut sichtbar wurde, allmählich mit dem Kaffee sich vermischte“ (S. 146 f.). Die erzählerische Kraft, die diese eigentlich banalen Handlungsabläufe mit sich bringt, lässt den Leser/die Leserin die Situation im Wohnzimmer der Familie quasi spüren. Alle Beschreibungen sind nahezu in Zeitdeckung geschrieben, sodass das Warten adäquat literarisch gestaltet und somit erlebbar wird. Es handelt sich um Situationen, in die sich jeder vermutlich hineinversetzen kann, weil sie bereits auf die eine oder andere Weise selbst erlebt wurden. Es ist ein Thema, das berührt und in seiner klarsten Art und Weise dargelegt wird. Doch was passiert, wenn es – also der Tod des Opas – geschehen ist? Auch hier weiß der Autor gekonnt mit der Situation zu spielen und dem Leser/der Leserin das Gefühl zu geben, Teil der Familie zu sein. Das oben erwähnte Zitat macht die Sprachlosigkeit, die nun noch mehr den Raum ergreift, deutlich. Die Ohnmacht, die um sich greift, wird spürbar vergegenwärtigt: „Während die Mutter sich an den Nacken fasste, schob die Tante den Ärmel hoch und kratzte sich am Unterarm und der Onkel blieb einen Schritt vor der Tante stehen, und der Vater blieb einen Schritt vor der Mutter stehen, und M lehnte noch immer am Fensterbrett und krallte sich daran fest, als der Vater versuchte, die Mutter zu umarmen, jedoch keinen Schritt weiter auf sie zugegangen war, sich also mit dem Oberkörper nach vorne beugen musste, die Arme ausbreitend, und auch die Mutter breitete die Arme aus und beugte sich mit dem Oberkörper vor, sodass sie sich genau in der Mitte fanden und die Mutter ihren Kopf auf die Schulter des Vaters legte, während der auf ihrem Rücken einen Platz für seine Hände suchte“ (S. 149 f.).

Die undurchbrechbare Stille und die schwer lastenden Handlungsabläufe bewegen M am Ende dazu, den Raum, sogar das ganze Haus zu verlassen und vor der traurigen Kenntnis zu fliehen und Zuflucht zu suchen. Erst jetzt erfährt der Leser, dass M männlich ist, denn es wird das erste Mal das Personalpronomen „er“ (S. 150) verwendet. Das Ganze bekommt nun einen noch persönlicheren Bezug. M hat sich in eine ihm wohl bekannte Hütte geflüchtet, in welcher er völlig unerwartet auf einen Jungen namens Wolf trifft. Damit endet der Romanauszug. Der Schreibstil hat etwas Kafkaeskes und ist gewissermaßen bedrückend, ja gar unheimlich und stellt die Verlustangst und den Umgang mit dem Tod im Zentrum.

Der kurze Schlussteil lässt viele Fragen offen und – so brillant die Schreibweise auch sein mag – er kommt so plötzlich und kurz daher, dass unklar ist, warum dieser Teil unbedingt noch abgedruckt werden musste.

Dennoch erweckt der Ausschnitt Interesse, mehr zu erfahren, mehr zu lesen und herauszufinden, welche Rolle Wolf nun spielen wird, wie in der Familie weiter mit der Trauer umgegangen wird und was zuvor noch stattgefunden haben könnte. Insgesamt ein sehr lesenswerter Ausschnitt.

Bibliographische Angaben:
Hakan Tezkan: Wolf. In: 23. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2015. S. 146-151.