Eine Rezension zu Bettina Wilpert „Alex, Selfie“ #Kulturschock

(Johanna Haars)

„Aslanbek nennt mich: Junges Mädchen, schöne Frau“ (S. 165). In Bettina Wilperts Erzählung „Alex, Selfie“ reist die Protagonistin Alex mit ihrem Freund Lorenz ins russische Murmansk. Unterwegs treffen die beiden auf den Tschetschenen Aslanbek. „Lorenz sagt, er weiß nicht, ob er froh ist, Aslanbek kennengelernt zu haben“ (S. 165). Denn Aslanbek ist irgendwie anders. „Aslanbek hat viel zu große Hände. Aslanbek lacht zu laut. Aslanbeks Bart ist zu lang“ (S. 165). Trotzdem kommen sie mit dem Fremden ins Gespräch und werden auf diese Weise mit dessen Lebensgeschichte konfrontiert, die alles andere als glücklich ist.

 

„Alex, Selfie“ besteht aus fünfzig sehr kurzen Absätzen, die zum Teil nur wenige Worte ausmachen: „Aslanbek redet, redet, redet“ (S. 167). Sie folgen in harten Schnitten aufeinander, wobei ihre Reihenfolge kaum eine Rolle für den Handlungsverlauf zu spielen scheint. Durch wechselnde Zeitebenen verliert man schnell den Überblick. Der Text erinnert an eine Instgram-Pinnwand, auf der die Protagonistin in unregelmäßigen Abständen willkürlich Informationen und Impressionen der Reise postet. Dieser Eindruck verstärkt sich aufgrund der eingestreuten Hashtags am Ende einiger Absätze „#berlin #football #champion“ (S.166).  Mitteilungen werden in Häppchen serviert. Man muss dabei gewesen sein, um sie vollständig zu verstehen.

Die stählerne Sprache evoziert eine düstere Atmosphäre, die nicht nur zu den beschriebenen Örtlichkeiten sondern auch zu Aslanbeks Erzählungen passt. Er spricht von Kindheitserinnerungen, Krieg, Waffen und wie er als Junge den Unterschied zwischen Feuerwerk und Granaten lernen musste. Für Alex und Lorenz sind diese Geschichten fremd und unwirklich. Die knappen, sachlichen Ausführungen des Tschetschenen rufen keine erkennbaren Emotionen bei dem Paar hervor. Während Aslanbeks Redepausen gehen sie Klamotten einkaufen, spielen Spiele oder beschäftigen sich mit Sightseeing. „Als die erste Granate einschlug, waren Aslanbek und sein Bruder auf dem Dach, sondern im Keller; erst da lernten sie den Unterschied zwischen Feuerwerk und Granate. Lorenz und ich wollten einen Pulli kaufen“ (S. 167). Die bedrückenden Geschichten bleiben unkommentiert und letztendlich unverstanden.

Trotz der traurigen Grundstimmung lebt Wilperts Text von einem schwarzen Humor, der vielleicht nötig ist, um die gewonnenen Eindrücke besser verarbeiten zu können. „Lorenz und ich sind auf dem Friedhof der gestürzten Denkmäler. Wir zählen Stalins. Wir verzählen uns und gehen“ (S. 170).

Am Ende der gemeinsamen Reise schießt Aslanbek noch ein Selfie mit Alex. „Alex, Selfie“ (S. 170) sagt er und lädt es bei Instagram hoch. Dieser ständige Kontrast von Banalität und Grausamkeit, den die Autorin bis zum Schluss beibehält, wirkt nachhaltig und macht Wilperts Erzählung zu einem besonderen Leseerlebnis.

Bibliographische Angaben:
Bettina Wilpert: Alex, Selfie. In: 23. Open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. Die 20 Finaltexte. München: Allitera Verlag 2015. S. 165-170.