Why Ideas Matter. Die Rolle von Ideen und intellektuellen Diskursen in der Politik. China, Japan, Malaysia, Vietnam (2000–2004)

Why Ideas Matter. Die Rolle von Ideen und intellektuellen Diskursen in der Politik. China, Japan, Malaysia, Vietnam (2000–2004)

Ein Forschungsprojekt unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Heberer, Dr. Claudia DerichsKarin AdelsbergerPatrick Raszelenberg und Dr. Nora Sausmikat, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).

Ausgangspunkt des von Prof. Dr. Thomas Heberer und Dr. Claudia Derichs geleiteten Forschungsprojektes war zunächst die Frage nach der politischen Dimension der „Asienkrise“. Die „Asienkrise“ ist mittlerweile weitgehend überstanden. Geblieben ist die Tatsache, dass die Debatten und Diskurse über politische Reform- und Wandlungsprozesse in Ost- und Südostasien im „Westen“ nur marginal wahrgenommen werden. In der Tat sind diese Diskurse wesentlich vielschichtiger und facettenreicher als hierzulande angenommen wird. Ideen spielen in Politikgestaltungsprozessen eine wichtige Rolle. Diese Rolle ist aber, speziell in der Politik und Politikgestaltung, bislang kaum untersucht worden.

Im Mittelpunkt der Untersuchung standen folgende Fragen:

  • Wie vollzieht sich der Diffusions- bzw. Spillover-Effekt von der Diskursebene in die Praxis der Politik hinein? In diesem Zusammenhang interessierten uns auch die Verbindungslinien und Verwebungen zwischen gesellschaftlichen Diskursakteuren und dem Staat (bzw. der Partei).
  • Intellektuelle sind Modernisierungsakteure und befinden sich dabei durchaus in Übereinstimmung mit der politischen Elite. Was, so war zu fragen, bedeutet dies für das wechselseitige Interaktionsverhältnis?
  • Was an den jeweiligen Diskursen ist „indigen“? Hier wurden folgende Ebenen unterschieden: (a) kulturelle Behauptungen von Indigenität sowie entwicklungsbedingte und politische; (b) Abgrenzungen gegenüber „westlichen“ Momenten und deren Begründung; (c) synthetische Argumentationsstränge (Verbindung westlicher und indigener politischer Muster); (d) die Frage, ob die Debatten etwa über das „Indigene“ („Chinesische“, „Vietnamesische“ etc.) lediglich Legitimationscharakter besitzen.
  • Intellektuelle befinden sich heute weitgehend in einer internationalen Diskussion und argumentieren gestützt auf intellektuelles Wissen auch aus dem Westen. Von daher stellte sich die Frage, inwieweit es in Grundfragen der Menschen nicht universale Interessen und Vorstellungen gibt, die eine gewisse Disposition für solche Fragen und Ideen schaffen.
  • Momente der Vergleichbarkeit (und der Differenz) der von uns untersuchten Staaten: Wo existieren scheinbar ähnliche bzw. unterschiedliche Strukturen oder Argumentationsmuster?
  • Momente der Vernetzung der Demokratiediskurse innerhalb der Region Ost- und Südostasien über NGOs, Wissenschaftleraustausch, Internet usw. Dies besitzt nicht nur eine regionale, sondern auch eine internationale Komponente, zumal Fragen der Globalisierung und von Global Governance sehr eng mit internationalen Diskursen verbunden sind und der Zusammenbruch der meisten sozialistischen Staaten sowie autoritärer Staaten in der Region nicht ohne Einfluss auf diese Diskussion geblieben ist.

Diese Fragestellungen wurden am Beispiel zweier autoritärer Staaten (China, Vietnam), eines multiethnischen, formaldemokratischen Staates mit starken autoritären Zügen (Malaysia) sowie eines demokratischen Staates mit signifikanten parochialen Strukturen und Verhaltensmustern (Japan) untersucht.

Theoretische Einordnung

Mit Beginn des Projektes setzten wir uns in einem ersten Schritt mit der Rolle von Diskursen in Politikprozessen auseinander. Ein zentraler Faktor ist, dass sich die Entwicklung politischer Wandlungsprozesse nicht nur über die Analyse von gesellschaftlichen Interaktionsprozessen und Interessen bestimmen lässt, sondern Ideen und ihnen folgende Diskurse eine zentrale Rolle in der Politikgestaltung spielen. Im Zuge von Entwicklungsprozessen oder – im Falle Chinas und Vietnams –– des Prozesses des Umbaus zu einer offeneren Marktwirtschaft, kann der Staat seinen Willen nicht einfach despotisch durchsetzen. Vielmehr muss er im Interesse der Stärkung seiner Staatskapazität mit der Wissensgemeinschaft, den Intellektuellen und Vordenkern, in einen Diskurs eintreten.

In einem ersten Schritt wurden verschiedene Definitionen von Intellektuellen auf unseren Forschungskontext hin überprüft und angepasst. Auf der Basis einer ersten Kategorisierung ließen sich konstruktive, bewahrende, rechtfertigende, transformatorische und demontierende Diskursstrategien feststellen. Es genügt aber nicht, Ideen nur zu benennen und zu beschreiben. Vielmehr müssen die Wechselwirkung von Ideenproduzenten, Ideenträgern und staatlichem Handeln, das Verhalten der beteiligten Akteure und die Auswirkungen von Ideendiskursen analysiert werden, als Analyse eines wichtigen Segments von Politikgestaltung. Dabei wirken Ideen nicht alleine und für sich als Motoren von Wandel und Entwicklung, sie tun dies vielmehr unter bestimmten historischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen und nicht losgelöst von spezifischen Interessen und Institutionen. Da es noch keine regionalspezifische Theorie zu unserem Forschungskontext gibt, entschieden wir uns für eine Kombination unterschiedlicher Theorieansätze. Auf der Basis von Theorien zu „westlichen“ Gelegenheitskonzepten, Netzwerksanalysen, Ansätzen aus der Bewegungsforschung wie der „Ressourcenmobilisierungstheorie“, des Bourdieuschen Ansatzes des sozialen Kapitals des Haasschen und Mannheimschen Ansatzes zur Funktion von Intellektuellen (Generationstheorien und epistemische Gemeinschaften) sowie des historischen und organisatorischen Institutionenansatzes entwickelten wir die folgenden übergreifenden Parameter für die Diffusion von Ideen in die Politik für die untersuchten Länder: politische Gelegenheitsstrukturen, Offenheit und Geschlossenheit eines Systems, immaterielle Ressourcen (persönliche und intellektuelle Ressourcen, Interessennähe, soziales Kapital, Netzwerkbildung), timing (Ereignis- und Thementiming) sowie Staatslernen (Anpassungsprozesse).

Regionale Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Demokratisierungsdiskurs

Dabei konnten sowohl signifikante Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede der Gelegenheitsstrukturen sowie der Diskursfaktoren und -elemente festgestellt werden. 

(1) Gelegenheitsstrukturen

Neben den oben angeführten Diskursstrategien konnten übergreifende Parameter für die formelle und informelle Infrastruktur für die Entwicklung, Entfaltung, Diskussion und möglichen „Reise“ von Ideen in die Politikformulierung hinein definiert werden. Sie sind wesentlich bestimmt durch die Gelegenheitsstrukturen, die ein System für die Beteiligung an der politischen Willensbildung bereitstellt. Die komparative Betrachtung legt offen, inwiefern sich hinter den systemischen Unterschieden auch Ähnlichkeiten im politischen Prozess und insbesondere in der Wirkung von Diskursen verbergen. Unabhängig von kultureller und geografisch-regionaler Nähe erscheint die Ergreifung von Gelegenheiten für einen Reformdiskurs ebenso wichtig wie das Einlassen auf gegebene Strukturen, die sich ja in der Regel nur langsam verändern. Unsere Länderstudien legen den Schluss nahe, dass in stabilen politischen Systemen die strukturelle Komponente eine stärkere Rahmenbedingung für die Wirkung von Diskursen darstellt als die Gelegenheitskomponente. Die „Asienkrise“ war zweifellos eine Gelegenheit, die dem politischen Reformdiskurs in den Ländern Ost- und Südostasiens einen enormen Impuls verliehen und zu neuen Problemlösungskonzepten angeregt hat. In Indonesien, wo die Wirtschaftskrise die Struktur des Systems so stark in Mitleidenschaft zog, dass sie instabil wurde, können diese neuen Konzepte realiter getestet werden, denn das Regime (die Struktur) brach dort zusammen. In den von uns untersuchten Ländern blieben die Strukturen so stabil, dass die Krise zwar erhebliche Erschütterungen hervorrief, den politischen Reformkonzepten aber kein „zündender“ Spillover von der Diskursebene auf die Ebene der politischen Entscheidungsfindung gelang. Die Reformdiskurse bewegen sich nach wie vor innerhalb der gegebenen Strukturen und harren offenbar noch anderer Gelegenheiten, um mit den diskutierten Reformideen und Problemlösungsvorschlägen tatsächlich machtvoll vorzustoßen. Während dieser Zeit vollzieht sich ein langsamerer, aber gleichwohl fruchtbarer Prozess struktureller Veränderungen, die nicht zuletzt auf die Ideen zurückgehen, die in den Reformdiskursen strategisch eingebracht und vorgestellt wurden.

Politische Gelegenheitsstrukturen (opportunity structures) können die Diffusion von Reformideen in die Politikformulierung hemmen oder fördern. Zu den förderlichen Gelegenheitsstrukturen zählen die Möglichkeit, Koalitions- oder Kooperationspartner in der politischen bzw. der Regierungselite zu finden, ein für die Willensbildung offenes System und entsprechende Institutionen, die die Artikulation von Interessen auf einer breiten Ebene erlauben. In den untersuchten Ländern offenbarten sich die politischen Gelegenheitsstrukturen als wenig förderlich für die Diffusion von Reformideen. Gleichwohl lassen sich in allen vier Ländern Veränderungen der Gelegenheitsstrukturen erkennen – so nutzen japanische Intellektuelle informelle und formelle Verbindungskanäle mit der politischen Elite; chinesische Intellektuelle agieren durch epistemische Gemeinschaften, patron-client-Netzwerke und generationsbedingte Allianzen; und malaysische Intellektuelle nutzen vor allem auch religiöse Einrichtungen für den informellen Austausch.  

Die Gelegenheitsstrukturen zur direkten oder indirekten Beteiligung an Politikformulierungsprozessen sind – erwartungsgemäß – je nach politischem System verschieden. Allerdings lassen sich auch Gemeinsamkeiten erkennen, die weniger auf die formalen systemischen Gegebenheiten als vielmehr auf die Ähnlichkeiten in der sozialen Organisation und die Bedeutung informeller Verfahren zurückzuführen sind. Die Regierungen ermutigen nicht aktiv einen kritischen Diskurs, sondern tolerieren ihn allenfalls; Beratung und Input sind willkommen, aber i.d.R. nur von ausgewählten Personen. Dies gilt in intensiverem Maße für China und Malaysia, in weniger intensivem, aber gleichwohl deutlichem Maße auch für Japan. Symbolische und strategische Muster wie strategisches Abwarten, „stillschweigende Transformationen“ in Form von längeren, prozesshaften Übergängen und Wirksamkeit durch Immanenz, d.h. durch die Kraft des Moralischen, sowie die Kunst der Manipulation der Macht durch strategische Geschmeidigkeit unterscheiden subjektive Gelegenheitsempfindungen in den von uns untersuchten Ländern von „westlichen“ (als „rational“ verstandenen) Gelegenheitskonzepten.

(2) Diskursfaktoren und -elemente

In allen drei Ländern werden Diskursstrategien in dem Maße zur Beteiligung am politischen Input genutzt, in dem sie angesichts der gegebenen Gelegenheitsstrukturen anwendbar sind und von einer politisch interessierten Öffentlichkeit auch angenommen werden. Eine demontierende Strategie stößt auf wenig Akzeptanz, deshalb findet sie kaum Anwendung. Während in Japan die Unterscheidung zwischen westlichen und nicht-westlichen Orientierungen keine bedeutende Rolle spielt, wirkt sie in Malaysia und China kategorisierend. In Malaysia und China erfolgt die Kategorisierung allerdings vornehmlich von Seiten des Staates, der mit dem Label „westlich“ eine diffamierende Note verteilen möchte. Im intellektuell-kritischen Diskurs spielt die Unterscheidung in beiden Ländern keine Rolle bzw. wird sie gar nicht erst vorgenommen. Im islamischen Diskurs wird „westlich“ nur insofern negativ interpretiert, als Merkmale von Ungläubigkeit, Apostasie oder Verunglimpfung des Islam damit in Verbindung gebracht werden. Während (bis auf Japan) die Befürworter „westlicher“ Demokratie ebenso in der Minderheit zu sein scheinen wie die Befürworter einer allein auf indigenen Momenten beruhenden Demokratie, wächst die Zahl derjenigen, die über eine Synthese nachdenken. Die Diskussion über eine weitere Demokratisierung Japans und den Nutzen „japanischer“ Verfahrensregeln (wie „Sondieren hinter den Kulissen“, innerparteilicher Faktionalismus etc.) erscheint ebenso als Teil dieser Synthesedebatte wie die Demokratisierung „von unten“, d.h. über die Dorfwahlen oder über eine Liberalisierung etwa der Medien unter Kontrolle einer starken gesellschaftlichen Instanz (wie der KP in Vietnam oder China).

Zwar scheint die Diskussion in den einzelnen Ländern ganz unterschiedlich zu verlaufen, gleichwohl lassen sich transnationale Gemeinsamkeiten erkennen, die hier thesenhaft gekennzeicht werden können.

  • Die wachsende Erkenntnis in allen vier Gesellschaften (wenn auch in unterschiedlichem Grad), dass die „Asienkrise“ eine Veränderung der politischen Strukturen notwendig erscheinen lässt.
  • Eine Auseinandersetzung, die auch eine Verbindung „westlicher“ oder inzwischen eher universaler demokratischer Institutionen mit indigenen Strukturen und Werten sucht.
  • Ein wachsendes Selbstbewusstsein im Hinblick auf autochthone demokratische Traditionen, wobei die Vertreter dieser Richtung in „Demokratie“ keine europäische Erfindung sehen, sondern eine Rückbesinnung auf eigene demokratische Traditionen suchen.

Es handelt sich dabei um parallele Entwicklungen, die als tendenziell transnational zu begreifen sind. Darüber hinaus lassen sich jedoch auch offene transnationale Prozesse ausmachen. Vor allem supranationale Diskussionsforen, die Zusammenarbeit von NGOs, Wissenschaftstagungen und Internet-Newsgroups fungieren in diesem Kontext quasi als Katalysatoren und tragen zur Entwicklung transnationaler Prozesse bei. All dies bedeutet für sich genommen noch keine „Asiatisierung“. Die Asienkrise war aber Mitauslöser einer Neubesinnung auf gemeinsame „demokratische“ Werte und Institutionen und hat die Notwendigkeit eines politischen Veränderungsprozesses in der gesamten Region deutlich werden lassen. Galten lange Zeit autoritäre Strukturen als günstige Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung, so verlautet nun mehr und mehr, allein demokratische Verhältnisse garantierten besseres Krisenmanagement und good governance, auch wenn es dazu angepasster Spezifika bedürfe. 

Das Forschungsprojekt stützte sich auf Verfahren qualitativer Sozialforschung wie themenzentrierte Interviews und Inhaltsanalyse und einen primär induktiven Forschungsansatz. Neben einer Publikationsanalyse wurden Vertreter der intellektuellen Elite, der Politik auf der mittleren Ebene und von NGOs bzw. Verbänden befragt.

Publikationen

Im Rahmen dieses Forschungsprojektes sind etliche Aufsätze entstanden, die in der Reihe Discourses on Political Reform and Democratization in East and Southeast Asia in the Light of New Processes of Regional Community-Building („Orange Reihe“) veröffentlicht wurden.