Analyse von Dschinns

Ein Beitrag von Helen-Sophie Krott

 

Der Familienroman Dschinns beginnt mit dem Tod des Familienvaters Hüseyin, nachdem er sich nach Jahren des Arbeitens in Deutschland eine Wohnung in Istanbul gekauft hat. Sein Tod ist der Ausgangspunkt der Überlegungen der einzelnen Familienmitglieder, während sie nach Istanbul aufbrechen oder sich dort mit dem Tod und der Beerdigung des Vaters auseinandersetzen. Jedes der sechs Kapitel fokussiert die Sicht einer anderen Figur, beginnend beim Familienvater Hüseyin. Schließlich werden nacheinander die Perspektiven der Kinder von Hüseyin und dessen Frau Emine beschrieben. Der Roman schließt mit der Sicht Emines ab. Besonders auffällig ist der Wechsel zwischen der Du-Erzählung in den Kapiteln von Hüseyin und Emine und der Erzählweise aus der dritten Person in den Kapiteln von Ümit, dem jüngsten Sohn, Sevda der ältesten Tochter, Peri, der jüngeren Tochter und Hakan, dem ältesten Sohn.
In Dschinns geht es insbesondere um die Identitätsproblematik einer von Migration geprägten Familie und hierbei besonders um den Raum des Nichtgesagten, der die spezifische Familiendynamik erzeugt. Das Nichtgesagte und die Identitätsproblematik hängen unmittelbar zusammen, so verheimlichen die Eltern den Kindern ihre kurdische Herkunft, was bei den Kindern später ein Gefühl von Verlorenheit auslöst. Durch den Tod des Vaters wird das Schweigen gebrochen und die unterdrückten Gefühle kommen mit den Geschichten zum Vorschein.

                          

Hüseyin

Hüseyins Kapitel dient als Einleitung in die Familiengeschichte und ist in der Du-Perspektive verfasst, die zunächst als Selbstbefragung Hüseyins erscheint. Die letzten Momente des Familienvaters spielen sich in der neuen Wohnung in Istanbul ab, wobei er die Reaktion seiner Familie auf das neue Domizil nicht mehr erlebt. Er malt sich das neue Leben aus, während er die Einrichtung und die Umgebung begutachtet. Aber er reflektiert auch seine Vergangenheit, insbesondere das Leben in Deutschland, was durchgängig von harter körperlicher Arbeit geprägt war: „,weil du dir nie zu schade für die Arbeit warst, die kein Deutscher machen wollte“ (S. 12). Auch über die Beziehung zu seinen Kindern denkt er nach, insbesondere die zu Sevda, der gegenüber er sich schuldig fühlt. Die Schuldgefühle versucht er zu relativieren: „Aber das erste Kind ist eben immer ein Experiment, was willst du tun, Menschen machen Fehler“ (S. 15).
Von dem einen Moment zum anderen tritt ein stechender Schmerz in Hüseyins Arm auf und der Erzählton wird hektischer. Hüseyins Gedanken überschlagen sich und er bereut, dass ihm keine Zeit mehr mit seiner Familie bleibt: „du würdest zu Allah beten, du würdest Azrael anflehen, dass er oder sie oder es dir noch eine Woche schenkt“ (S. 19). Hier offenbart sich, dass das Du neben der Selbstansprache auch auf eine von Hüseyin unabhängige Instanz verweist, die von diesem im Augenblick des Todes zum ersten Mal wahrgenommen wird: „aber du musst dich nicht fürchten, Hüseyin, dieser Schatten, das bin nur ich“ (S.20). Eine Entität, die auf die titelgebenden Dschinns anspielt, begleitet Hüseyin also in seinen letzten Momenten und hilft ihm beim Sterben.

 

Ümit

Ümits Kapitel beginnt mit dem Anruf, der die Familie über den Tod des Vaters in Kenntnis setzt. Er ist der jüngste Sohn von Hüseyin und mitten in der Pubertät. Während seine Schwester und seine Mutter am Boden zerstört sind, wirkt Ümit apathisch und von der Situation überfordert: Er „wünscht sich, dass die Welt ihm eine Pause gönnt“ (S. 26). Er trifft in Istanbul auf Familienmitglieder, die ihm fremd sind, aber ihn wie jemanden behandeln, den sie seit Jahren kennen, was ihm unwirklich erscheint: „Wer zum Teufel waren diese Leute?“ (S. 28). Ümit distanziert sich emotional und versucht die überwältigenden Gefühle mithilfe von Tabletten zu unterdrücken. Allerdings wird auch deutlich, dass die Medikamente einen schlechten Einfluss auf seine Gesundheit haben: „Ümits Kopf wird schwer, der Metallgeschmack liegt nun nicht mehr nur auf seiner Zunge, das Metall breitet sich in Ümits Hirn aus“ (S. 31).
In Rückblicken wird deutlich, dass Ümit Gefühle für einen Jungen, Jonas, aus seiner Fußballmannschaft hat. Als er Jonas seine Zuneigung gesteht, wird Ümit von der Mannschaft ausgegrenzt und schließlich von seinem Trainer dazu gezwungen den Therapeuten Dr. Schumann aufzusuchen, andernfalls würde der Fußballtrainer Ümits Vater von seiner Homosexualität berichten. Von Dr. Schumann bekommt Ümit Tabletten, um seine Homosexualität zu unterdrücken.
In Istanbul hat Ümit zum ersten Mal Kontakt mit der Kultur seiner Mutter. Verwundert stellt er fest, dass sie kurdisch spricht. Er hinterfragt darauf seine Identität und schämt sich für seine Unwissenheit: „Mit fünfzehn muss man doch wissen, was man ist, Ümit kann doch jetzt nicht einfach hingehen und fragen, Anne, sind wir Kurden?“ (S. 31). Ümit sieht sich in seiner Identität, die sich durch die Teenagerphase gerade formt, mit den Rollenbildern, die ihn von dem Gesellschaftsideal seines Vaters auferlegt werden, konfrontiert und muss die neuen Eindrücke in Istanbul verarbeiten. Der Tod des Vaters erlöst ihn nicht von den Pflichten des Sohnes, im Gegenteil, auf ihm lastet ein enormer Druck, so ist er es etwa, der an Hakans Stelle den Leichnam des Vaters waschen muss und er „spürt, wie seine Beine wieder zu Hefe werden, wie seine Knie einknicken, wie der weiß geflieste Raum sich in leuchtende Punkte auflöst“ (S. 72), sodass er das Bewusstsein verliert.

 

Sevda

Mit dem nächsten Kapitel wechselt die Erzählperspektive hin zur ältesten Tochter Sevda. Sie ist von ihrer Lebenssituation überfordert, da sie als alleinerziehende Mutter und als Geschäftsfrau trotz des Verlusts des Vaters funktionieren muss. Weil sie jedoch den Flug nach Istanbul verpasst, reflektiert sie in ihrer Wohnung über ihre Kindheit und ihre Lebenssituation. Sevdas Vergangenheit zeigt die Vernachlässigung durch ihre Eltern – sie wurde im Heimatdorf der Familie zurückgelassen und lebte bei ihrer Babaanne, Hüseyins Mutter. Als Sevda schließlich nach Deutschland geholt wurde, war ihre Mutter kalt und streng zu ihr: „Denn von dem Moment an, in dem Sevda zum ersten Mal die Wohnung in Rheinstadt betrat, beäugte Emine sie so, als sei sie ein unwillkommener Gast auf der Durchreise“ (S. 93). Sie fühlt sich in dem neuen Land isoliert und lernt die deutsche Sprache erst sehr spät.
Bevor sie ihren Hauptschulabschluss nachholen konnte, arrangierte Emine die Hochzeit mit Ihsan, mit dem Sevda in eine andere Stadt zog. Sie vereinsamte so noch mehr, bis sie ihre Kinder zur Welt brachte. Bis zu diesem Zeitpunkt ist Sevda jegliche Möglichkeit autonome Entscheidungen über ihr Leben zu treffen verwehrt. Das, was Sevda für sich selbst möchte, wird durch ihre Babaanne, Emine und schließlich Ihsan verhindert. Erst als die Wohnung von Ihsan und Sevda durch fremdenfeindliche Brandstiftung zerstört wird und ihre Kinder knapp von einem Nachbarn gerettet werden, trennt Sevda sich von Ihsan und kommt vorerst bei den Eltern unter. Allerdings ist die Trennung nicht von Dauer, denn Sevda muss an Silvester feststellen, dass ihre Mutter sie bei ihrem Vorhaben, unabhängig von ihrem Ehemann zu leben, nicht unterstützt.
Anstatt dass Ihsan zur Verantwortung gezogen wird, weil er seine Kinder vernachlässigt hat, sieht Emine ihre Tochter als Schuldtragende: „‚Nein, Sevda. Das stimmt so nicht. Du hast die Kinder allein gelassen‘“ (S. 130). Der Bruch in der Mutter-Tochter-Beziehung ist irreparabel, als Emine Sevda mit den Kindern zu ihrem Ehemann zurückschickt. In der neuen Wohnung lernt Sevda allerdings Mariella kennen, der die Pizzeria unter der Wohnung gehört und die ihr eine Stelle in dieser anbietet. Durch diese Arbeitsmöglichkeit schafft sie es, sich gegen Ihsan durchzusetzen und übernimmt die Pizzeria von Mariella. Nach einem weiteren Wutausbruch von Ihsan, trennt Sevda sich endgültig von ihrem Ehemann – dennoch hinterfragt sie diese Entscheidung aufgrund des plötzlichen Todes ihres Vaters.

 

Peri

Peris Erzählung beginnt am Abend nach der Beerdigung. Sie ist die jüngste der Geschwister, nach Ümit. Sie reflektiert ihre Beziehung mit ihrem Vater, von dem sie sich jahrelang distanziert gefühlt hat. Der Tod des Vaters weckt in Peri die Erinnerung an Armin, ihren Exfreund, der sich nach ihrer Trennung das Leben genommen hat. Peri ist eine Person, die den Stand der Dinge hinterfragt, so fungiert ihr Kapitel auch als Gesamtreflexion über die Situation der Familie und insbesondere den Raum des Nichtgesagten. Sie fragt sich, ob es notwendig ist gewisse Themen nicht anzusprechen, weil „die Wahrheit, die ganze Wahrheit, unmöglich zu ertragen wäre“ (S. 190). Sie ist die einzige der Familie, die aktiv bemüht ist, den Bruch in ihrer Identität aufzuarbeiten.
Durch ihr Studium versucht sie die Rollenideale der Mutter zu hinterfragen und auch jene zum Umdenken zu motivieren. Mit einem Therapieangebot möchte sie der depressiven Emine nach ihrem Selbstmordversuch helfen, aber Emine blockt jede Hilfe ab. Peri hingegen ist bestrebt, die Muster der Familie zu durchbrechen, indem sie z.B. Ümit Raum gibt, Fragen zu stellen. In ihrer Interaktion mit Ümit findet sich eine Definition der Dschinns: „Dschinns sind alles, was wir komisch finden, anders, unnatürlich“ (S. 185). Das Wort bezeichnet also die Phänomene und Eigenschaften, die von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden wie z.B. bestimmte sexuelle Neigungen. Peri vermutet nämlich, dass Ümit homosexuell ist, erkennt, dass er noch nicht bereit ist, darüber zu reden.
Während ihres Studiums lernt sie Ciwan kennen, der sich regelmäßig mit ihr trifft und durch den sie ihre Herkunft hinterfragt. Die Gespräche mit ihm führen sie zu ihrer Identität als Kurdin, die ihrer Mutter und damit auch ihr durch den Krieg und den Umzug nach Deutschland genommen wurde. Ciwan wirkt geheimnisvoll und gibt nur sehr wenig von sich preis. So plötzlich wie er in Peris Leben getreten ist, verschwindet er, nachdem er Peris Gefühle zurückgewiesen hat. Erst in Emines Kapitel wird aufgelöst, dass es sich bei Ciwan um Emines und Hüseyins erstes Kind handelt, welches sie an ihre Schwägerin abgeben musste. Allerdings offenbart Emine dies nur Sevda, kurz bevor sie stirbt.
Peri teilt mit Ümit ihre Verletzlichkeit über den Selbstmord von Armin, ihrem Ex-Freund, und durchbricht so zum ersten Mal das Schweigen der Familie. Ein ähnliches Durchbrechen des Schweigens gelingt auch Emine in ihrer Aussprache mit Sevda. Peris Kapitel endet mit Sevdas Ankunft, die von Emine ironisch kommentiert wird: „‚Oh Sevda Hanוm‘, sagt sie und nickt in die Runde. ‚Was eine Ehre, Sie zu Gast zu haben‘“ (S. 222).

 

Hakan

Hakans Erzählperspektive ist so wirr und wechselhaft, wie seine Emotionslage. Mit der Hilfe von Energydrinks fährt er mit dem Auto nach Istanbul, da er – wie Sevda den ihren – seinen Flug verpasst hat. In seinem als Bewusstseinsstrom angelegten Kapitel verschmelzen Erinnerungen, die Gedanken an seine deutsche Freundin Lena und die Fassungslosigkeit über den Tod des Vaters mit Hakans rasendem Fahrstil auf der Autobahn. Hakan hat es bisher vermieden Lena seiner Familie vorzustellen, obwohl sie ihm wichtig ist. Er ist sich sicher, dass Lena aufgrund ihrer deutschen Herkunft in seiner Familie nicht akzeptiert werden würde. Außerdem macht Lenas Vater rassistische Bemerkungen, bei welchen Hakan dem Vater sagt, was er hören möchte, anstatt zu widersprechen. Die Beziehung zu seinem eigenen Vater war immer angespannt, da Hakan Hüseyins Arbeitsmoral und Maskulinitätsideal nicht teilt, so erinnert er sich an seine Kindheit, in der er und sein Freund Musti davon träumten Rapper zu werden, weil die Songtexte von schwarzen Künstlern in ihnen eine Resonanz fanden. Der Gedankenstrom wird dann jäh abgerissen, als er auf der äußeren Handlungsebene von der Polizei aus dem Straßenverkehr gezogen wird. Die Auseinandersetzung mit den beiden Polizisten ist geprägt von ihren Vorurteilen, die sie auf Hakan projizieren. Nach einigen Anschuldigungen soll Hakan schließlich bis dreißig zählen, um zu beweisen, dass er fahrtauglich ist. Zwischen dem Zählen erinnert Hakan sich an seinen ersten Kontakt mit der Polizei, nachdem er und Musti im jugendlichen Leichtsinn „Fuck tha Police“ (S. 251) an die Bahnhofswand gesprüht hatten. Als Hakan das Zählen misslingt, wird er zur Polizeiwache gebracht, die ihn in die Situation zurückversetzt, in der er von der Polizei nach dem „Zerbrechlichstem in ihm“ (S. 256) durchsucht wird. Hakan selbst bezeichnet das Zerbrechlichste in ihm als seinen Stolz, aber es kann sich dabei auch um eine Metapher für sexuellen Missbrauch handeln. Die Reaktion von Hüseyin auf die Festnahme zerrüttet das Verhältnis zwischen Vater und Sohn, denn anstatt den Sohn wegen der erlittenen Polizeigewalt zu unterstützen, ignoriert Hüseyin den Vorfall, weil er keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen will. Hakan kommt in der Nacht in der Wohnung in Istanbul an. Obwohl alle Familienmitglieder nun anwesend sind, ist das erste, das Hakan bemerkt, das Schweigen der Familie. Schließlich ist er derjenige, der das Schweigen bricht und Emine offenbart daraufhin, dass sie die Wohnung, in der ihr Ehemann verstorben ist, verkaufen will. Eine Diskussion bricht aus und da die Situation zu eskalieren droht, bricht Hakan mit Sevdas Kindern, Peri und Ümit nach Antayla auf.

 

Emine

Emines Kapitel ist wie Hüseyins Kapitel in der Du-Perspektive verfasst und bildet den Schluss des Romans. Durch den narrativen Wechsel bildet ihr Kapitel den Rahmen mit dem Kapitel von Hüseyin. Emines Erzählung ist ein Selbstgespräch, das zudem die Leerstellen der vorhergegangenen Kapitel füllt. Dadurch erscheint die Rede als eine Beichte sowie der Versuch einer Rechtfertigung für die eigenen Lebensentscheidungen.
Hüseyins Tod trifft Emine hart: „Alle seine Hoffnungen, die irgendwann auch dich ansteckten, sind abgestürzt in ein tiefes Loch, das man heute Nachmittag mit Erde und Käfern und Tränen verschüttet hat“ (S. 290f.). Emines Sicht bietet die Auflösung offener Fragen, so offenbart sie Sevda gegenüber die Identität von Ciwan als ihr und Hüseyins erstes Kind. Sie wurde dazu gezwungen, ihr Erstgeborenes der Frau von Hüseyins Bruder zu geben, weil diese unfruchtbar ist. Ihre Depression hat im Verlust des Kindes ihren Ursprung. Zu diesem ersten, vermeintlich perfekten Kind steht Sevda im Kontrast. Sevdas Geburt war für Emine ein Alptraum und auch als Baby war ihr Zweitgeborenes schwieriger zu beruhigen als das Erstgeborene.
Emines Ablehnung Sevda gegenüber ist in der Ähnlichkeit der beiden Frauen begründet. Bei ihrer Begegnung in Deutschland zeigt sie sich eifersüchtig auf die Zeit, die Sevda allein mit Hüseyin verbringen konnte, wobei ihr diese Selbsterkenntnis zugleich peinlich ist (vgl. S. 332). Emine erzählt Sevda auch von dem Schicksal ihres ersten Kindes, dass sie o/onun nennt. Es wird deutlich, dass es sich bei dem geheimnisvollen Ciwan aus Peris Kapitel um Emines o handelt und dass er als Tochter geboren wurde. Obwohl Ciwan sich mit Hüseyin trifft, soll Emine ihm nie selbst begegnen, bevor er bei einem Autounfall stirbt. Emine bekennt, dass sie es bereut, Ciwan weggegeben zu haben und beteuert, dass sie seine Transidentität akzeptiert hätte. Diesbezüglich ist Sevda anderer Meinung: „Ich will nur, dass du aufhörst dich selbst zu belügen und das arme Opfer zu spielen“ (S. 352). Ihrer Ansicht nach kann Ciwan von ihrer Mutter nicht akzeptiert werden, solange sie ihn noch onun nennt. Sevda ist überzeugt, dass Emine Ciwan verstoßen hätte, wenn er die Akzeptanz seiner Identität eingefordert hätte.
Sevda und Emine sind nicht in der Lage sich anzunähern, da die Verletzungen in Sevdas Kindheit zu tief liegen, als dass sie nun aufgearbeitet werden können. Stattdessen spitzen sich der Streit und Sevdas Anschuldigungen weiter zu. Ein Erdbeben überrascht die beiden Frauen und sie werden in der Wohnung verschüttet. In diesem Augenblick erinnert sich Emine an ein Gespräch mit Hüseyin: Ihr wird klar, warum Hüseyin ihr verbot Kurdisch zu sprechen – er hat im Krieg auf der Seite der Türken Kurden getötet. Der Riss in der Identität der Familie hat ihren Ursprung in Hüseyins Ablehnung seiner und Emines Herkunft und die Verleugnung ihrer kurdischen Abstammung. In ihren letzten Momenten vor ihrem Tod hat Emine eine Vision von einem perfekten Silvesteressen, in der sie Sevda nicht zu ihrem Ehemann zurückschickt und in der Ciwan zur Familie gehört. Es wird offengelassen, ob auch Sevda bei dem Erdbeben stirbt. Mit dieser Vision am Ende wird der Familienkonflikt idealisiert gelöst. Die Wahrheit über Emines und Hüseyins Geheimnisse werden mit dem Erdbeben und ihrem Tod allerdings vergraben.

 

Inhaltliche Aspekte

 

Identität und das Nichtgesagte

Ein wiederkehrender Aspekt aller Charaktere ist die Frage nach der eigenen Identität. Der Verlust der kurdischen Identität der Eltern wirkt sich auch auf die Kinder aus, die aufgrund dieser Lücke mit ihrer eigenen Selbstdefinition kämpfen.
Ümits Probleme kreisen sich um die Problematik der Maskulinität. Er ist konfrontiert mit den Anforderungen als einzig anwesender „Mann im Haus“ (S. 54). Unreflektiert strebt Ümit dem Maskulinitätsideal seines Vaters nach, weshalb er instinktiv seine Sexualität verheimlicht. Auch Peri bemerkt Ümits Kampf mit den Genderidealen der Eltern, als seine lackierten Fingernägel einer Freundin der Mutter auffallen. Ümit wird schon früh einer Norm ausgesetzt, die streng binär ist: „‚All diese Männer, die sie im Fernsehen zeigen, die in Frauenkleidern herumlaufen. Gott bewahre, nachher meint der Junge, das sei normal‘“ (S. 176). Mit anderen Worten: Männer die sich für feminin konnotierte Ausdrucksweisen interessieren, gelten als unnormal. Sein Bruder Hakan setzt sich ebenfalls mit dem Männlichkeitsideal des Vaters auseinander. Während Ümit sich mithilfe seiner schulischen Leistungen bemühte, Hüseyins Wünschen gerecht zu werden, fürchtet Hakan die Möglichkeit, seinem Vater zu ähneln. Sein Ziel ist es, keinen Chef zu haben, sondern sein eigener Chef zu sein (vgl. S. 271). Die Ablehnung des Lebensstils des Vaters ist eine direkte Folge von Hüseyins Umgang mit der traumatischen Auseinandersetzung zwischen Hakan und der Polizei. Anstatt seinen Sohn in Schutz zu nehmen, sieht er Hakan in der Schuld und sagt: „Du wirst es vergessen, ich werde es vergessen, und du wirst endlich lernen, ein richtiger Mann zu sein‘“ (S. 263). Damit zeigt sich Hüseyins Taktik, das Trauma seiner Familie in Schweigen zu hüllen, in der Hoffnung, dass es so in Vergessenheit gerät.
Mit derselben Taktik versucht er seine und Emines kurdische Herkunft zu kaschieren. Er verbietet seiner Frau kurdisch zu sprechen, weil er im Krieg auf der Seite der türkischen Armee gekämpft hat: „Weil man uns in der Armee beigebracht hat, dass es keine Kurden gibt“ (S. 365). Tatsächlich ist es die Angst vor Verfolgung und der Brutalität der Armee, die Hüseyin dazu treibt die kurdische Identität abzulehnen. Emine übernimmt dieses Verhalten insbesondere Sevda gegenüber, die von ihren Kindern die längste Zeit in dem Heimatsdorf verbracht hat. Sevda erinnert sich, dass Emine sie schlug, damit sie nach dem Umzug vom Dorf in die Stadt kein Kurdisch mehr spricht. Emine bedroht Sevda: „[…], wenn du nochmal auf Kurdisch antwortest, bring ich dich um“ (S.101) und setzt Hüseyins Willen durch, den sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht versteht, weil sie erst in Deutschland von Hüseyins Kriegserlebnissen erfährt. Peri, Hakan und Ümit wissen nichts von ihrer kurdischen Herkunft. Peri setzt sich erst durch ihre Begegnung mit Ciwan mit ihrer Identität auseinander, während Hakan diese Identität ablehnt, weil er ohnehin schon wegen seines Migrationshintergrundes angefeindet wird (vgl. S. 270). Ümit ist verwundert als Emine kurdisch spricht: „Wie kann es sein, dass Ümit nicht mitbekommen hat, dass seine Mutter kurdisch ist?“ (S. 31). Für dieses Unwissen schämt er sich.
Der Raum des Nichtgesagten in Dschinns ist groß und umfasst die Gefühlswelt der Figuren, Dinge, die sie sich nicht eingestehen können, Konflikte, die sie nicht lösen können und Lebensstile, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Der Verlust der kurdischen Sprache sorgt dafür, dass die Emotionen, die die Familie beschäftigen, keinen Ausdruck finden können. Die verlorene Sprache ist gleichgesetzt mit ihrer verlorenen Identität. Peri reflektiert, dass sie sich nicht sicher ist, ob sie sich als Kurdin identifizieren kann, sie spreche ja nicht einmal die Sprache (vgl. S. 208). Erst durch Ciwans Einfluss fühlt sie sich bestärkt, sich mehr mit der kurdischen Kultur zu identifizieren.
Ciwan kann als Personifikation des Nichtgesagten interpretiert werden, denn keiner der Geschwister ist in der Lage ihn zu identifizieren und bis auf Sevda weiß niemand, dass Hüseyin und Emine ein weiteres Kind hatten. Als trans Mann stellt Ciwan einen Tabubruch der cis heteronormativen Weltanschauung der Eltern dar und Hüseyin verhindert, dass Ciwan ein Teil der Familie werden kann. Er lehnt Ciwan zwar nicht direkt ab, findet jedoch nicht die richtigen Worte und bittet ihn lediglich, Emine nicht zu kontaktieren (vgl. S. 349). Hüseyins Bitte um das weitere Schweigen ist der Auslöser, dass Ciwan sich von ihm abwendet. Auch danach ist Hüseyin nicht in der Lage, Ciwans bei seinem Namen zu nennen, und redet weiterhin von onun. Erst in dem Moment seines Todes ist der Name seines ersten Sohnes auch sein letztes Wort: „Da wusstest du endgültig, was Hüseyin zuallerletzt gesagt hatte. ‚Er hat Ciwan gesagt‘“ (S. 337). Auch wenn Emine von Ciwans Identität weiß, bleibt er für sie unerreichbar. In demselben Gespräch, bei dem sie von seinem Kontaktversuch erfährt, ist er bereits tot. Ciwan, als einziges Kind, das die kurdische Identität nicht verleugnet, der perfekt kurdisch spricht, ist für Emine verloren, genauso wie ihre Sprache und ihre Identität.
Der Roman bietet keine Lösungen für die fragmentierten Identitäten der Charaktere und auch die Konflikte, die durch die Missverständnisse als Folgen des Nichtgesagten entstehen, können nicht gelöst werden. Die Verweigerung der Eltern, ihre Vergangenheit zu akzeptieren und aufzuarbeiten, hat die Auswirkung, dass auch ihre Kinder mit ihrer Identität kämpfen und in Ümits und Hakans Fall, sich ihren kurdischen Wurzeln nicht bewusst sind. Dass die Familie nicht funktioniert und etwas in ihr zerbrochen ist, spüren alle Mitglieder auf unterschiedliche Weisen. So ist Sevda nicht in der Lage, auf die Beichten ihrer Mutter mit Verständnis zu reagieren, da die Verletzungen in ihrer Beziehung zu tief liegen. Peri hingegen versucht Verständnis für die Gefühle ihres kleinen Bruders aber auch für ihre Mutter nach dem Selbstmordversuch aufzubringen, allerdings wird jede Hilfe von Emine abgeblockt. Der Roman bietet trotzdem eine Version eines idealen Silvesteressens als Traumsequenz kurz vor Emines Tod an, in dem sie ihre Prioritäten der Akzeptanz ihrer Kinder widmet. Die Szene symbolisiert die Aussöhnung mit der Vergangenheit und die Akzeptanz ihrer Herkunft. Wie schon bei Hüseyin erscheint ihr kurz vor dem Tod Ciwan, dessen Namen sie in diesem Augenblick akzeptiert und ausspricht.

 

Der Aspekt des Übernatürlichen


Das Übernatürliche wird im Titel Dschinns bereits angedeutet: Dschinns sind mythologische Wesen aus der islamischen Kultur, die in der Regel aus rauchlosem Feuer bestehen. Im Roman selbst versucht Peri Dschinns zu definieren: „Das Vage, das Ungewisse, das Dunkle, das die Menschen verängstigt, weil es nichts Greifbares ist“ (S. 185). Dschinns stellen das dar, was keinen Platz in der ausgesprochenen Welt findet, sie leben im Raum des Unausgesprochenen und werden ebenso verschwiegen, wie die Herkunft der Eltern: „Sind nicht alle ihre Geschwister und Cousinen und Nachbarn in der ständigen Angst vor diesen unsichtbaren Wesen aufgewachsen, von denen man selten redet, ja, deren Namen man lieber nicht ausspricht?“ (ebd.). Peri erkennt außerdem, dass Dschinns insbesondere das symbolisieren, was in der Weltvorstellung ihrer Eltern als unnormal gilt: „Wenn jemand nicht dem entspricht, was die meisten Menschen als normal empfinden, heißt es schnell: Der und der ist von einem Dschinn besessen‘“ (ebd.).
Sowohl Hüseyins als auch Emines Perspektiven werden in der Du-Perspektive erzählt, die einen umfassenden Einblick in die Gefühlswelt der Figuren gewährt. Das Du ist beides, Selbstbefragung und Beobachtungsinstanz, die sich Hüseyin als ein Schatten an der Wand erscheint. Das Du begleitet Hüseyins Sterben und bekennt, dass er in der Wohnung bleiben wird: „Ich verspreche dir, ich werde hierbleiben, in diesem Haus, in deiner Wohnung, und ich werde über deine Familie wachen, wenn sie hier eintrifft“ (S.20). Der Schatten erscheint schließlich auch Emine und spricht zu ihr, allerdings definiert er sich hier als „die Stimme in deinem Kopf“ (S. 365). Die Selbstreflexion manifestiert sich für beide Figuren als Referenzpunkt, der es erlaubt im Angesicht des eigenen Todes jene Wahrheiten, die die Figuren sich selbst verwehren, einzugestehen und Fehler zu bekennen. Die Erzählerstimme ist Teil des Unsagbaren, der Familientabus und fungiert somit als phantastisches Moment des Romans: „Ich bin die Kluft zwischen deinem Glauben und deinem Handeln. Ich bin der Widerspruch zwischen dem Bild, das du von dir selbst hast, und dem Gesicht, das du anderen zeigst. Ich bin die Lücke zwischen dem, was du für richtig hältst und für falsch, der feine Riss deiner Moral, der Zwiespalt zwischen deinem Sein und deinem Sollen.“ (ebd.)
Die Lesart, dass es sich bei der Erzählentität um einen Dschinn handelt liegt nahe. Insbesondere, da Emine kurz vor ihrem Tod Funken wegschlägt und Dschinns aus rauchlosem Feuer bestehen. Allerdings lautet der Titel des Familienromans Dschinns, also muss es logischerweise mehr als nur einen Dschinn geben. Die Dschinns im Roman könnten somit die Geheimnisse der Familienmitglieder sein, die Dinge, die sie nicht wagen miteinander zu teilen. Die Dschinns sind die unausgesprochenen Wahrheiten und jeder in der Familie besitzt diese: Ümit in Form seiner Sexualität, Peri verschweigt den Selbstmord ihres ersten Freundes, Hakan den Ausmaß des Übergriffs der Polizei und Sevda die Tatsache, dass ihr Ehemann zum Alkoholiker wurde.
Möglich ist auch die Deutung, die Erzählentität, der Schatten in Hüseyins Kapitel und die Stimme im Kopf von Emine als Ciwan zu lesen, der im Augenblick des Todes in der Lage ist, mit seinen Eltern zu kommunizieren. Sein Name ist das letzte Wort seiner Eltern und er ist der Einzige der Geschwister, dessen Perspektive nicht beschrieben wird, weil er schon vor dem Zeitpunkt der Handlung bei einem Autounfall ums Leben kam. Die Eltern sind nicht in der Lage, seinen Namen auszusprechen, sondern nennen ihn onun. Peri ist die Einzige, die Ciwan kennenlernt – Vielleicht weil sie versucht das Ungesagte aufzuarbeiten. Durch seine Hilfe kann sie sich ihrer Identität als Kurdin annähern und sich als solche identifizieren. Ciwans Existenz ist die Wahrheit, der sich beide Eltern im Moment ihres Todes stellen. Er symbolisiert als letzter Gedanke der Eltern das Schweigen und die verdrängte kurdische Identität von Hüseyin und Emine.

 

Formale Aspekte

 

Erzählperspektiven

Um die Misskommunikation zwischen den Familienmitgliedern darzustellen, wechselt in Dschinns mit jedem Kapitel der Fokus auf ein anderes Familienmitglied. So erfahren die Leser*innen, welche Erlebnisse die Figuren prägen, was die scheiternde Kommunikation umso interessanter macht. Ein Beispiel hierfür ist etwa, was Peri von ihrer Schwester Sevda als Analphabetin denkt, während die Leser*innen wissen, dass Sevda sich ohne Erfolg bemühte zur Schule gehen zu können. Des Weiteren wird durch die Wechsel deutlich, was die Figuren unterdrücken und worüber sie nicht miteinander sprechen. So kann Ümit sich mit seiner Homosexualität seiner Familie anvertrauen, sondern sein Schweigen trifft auf die Tabuisierungen seines sozialen Umfelds. Peri versucht den Kreislauf der Familie zu durchbrechen und erzählt Ümit von Armins Selbstmord, auch wenn sie diesen zu verdrängen versucht.
Zudem reflektiert Peri, dass eine Familie ein „Gebilde aus Geschichten“ sei und dass die Leerstellen und das Schweigen entweder für den Einsturz sorgen oder aber Luft lassen für die Wahrheit, die „unmöglich zu ertragen“ wäre (S. 189f.). Die Erzählung fügt sich wie ein Lückentext zusammen, indem verschiedene Punkte wieder aufgenommen und aus einer anderen Sicht beleuchtet werden. Auf der Handlungsebene werden die einzelnen Erzählungen durch den immer wieder aufgenommenen Erzählfaden über die Schilderung der Beisetzung Hüseyins verbunden. Die Du-Erzählung nach Hüseyin wird abgelöst von dem Erzählen aus der dritten Person, bis zu Emine, wo wieder in die Du-Form gewechselt wird und die Geschichte mit ihrem Tod abschließt. In diesem Sinne beginnt Dschinns mit dem Tod und endet auch mit ihm. Um die Erzählungen der Geschwister bilden die Kapitel der Eltern also einen Rahmen, der die Kinder wie eine Umarmung umschließt. Was im wirklichen Leben fehlt, holt die Literatur nach.
Die einzelnen Kapitel sind nicht chronologisch aufgebaut, sondern von Analepsen durchzogen, sodass die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart hervorgehoben wird. Der Tod des Vaters konfrontiert die Familienmitglieder mit ihren bisherigen Lebensentscheidungen und den zwischenmenschlichen Beziehungen: beides wird über die jeweiligen Rückblenden mit der Gegenwartsebene, dem Tod des Familienvaters, verwoben. Auch in den beiden Rahmenkapiteln der Eltern, Hüseyin und Emine, finden sich derartige Brüche zwischen Gegenwart und Vergangenheit, allerdings sind die Vergangenheitseinblicke bei Hüseyin recht vage gehalten. Emines Rückblicke erscheinen dagegen als eine Beichte und Eingeständnis in die eigenen Fehler, wenn sie nun ihr langes Schweigen bricht. Auf der Ebene der Kindergeneration dienen die Erinnerungen dazu, sich kritisch sowohl mit den Eltern als auch mit dem eigenen Selbstentwurf auseinanderzusetzen. Insbesondere bei Hassan und Peri wird deutlich, dass bei ihnen die Wunden ihrer Vergangenheit tief sitzen. Peri umkreist in ihrer Erzählung Armins Selbstmord, bis sie in der Lage ist, das Tabu zu brechen und über den Suizid zu sprechen. Der Satz: „Es gibt Gedanken, die nur im Dunkeln zu uns kommen“ (S. 183f) wiederholt sich mehrfach, mit der Schilderung der Trennung und dem Grund für den Selbstmord und wirkt wie ein Mantra, das Peri hilft die Vergangenheit zu konfrontieren.

 

Verbindungspunkte der Erzählfäden

In Dschinns bilden der Tod und die Beerdigung des Vaters den Verbindungspunkt der Geschichten. Ferner sind die einzelnen Binnenkapitel alternierend nach den Handlungsorten angeordnet, so wechseln die Kapitel zwischen Familienmitgliedern, die bereits in Istanbul anwesend sind, zu denjenigen, die noch auf dem Weg sind: Ümit – in Istanbul; Sevda – auf dem Weg nach Istanbul; Peri – in Istanbul; Hakan – auf dem Weg nach Istanbul. Dieser Wechsel markiert die Nähe und Distanz der jeweiligen Kinder zu den Eltern.
Weitere Verknüpfungen werden von Erinnerungen an Familienereignisse geschaffen, die von den verschiedenen Figuren – unterschiedlich akzentuiert – erwähnt werden. Signifikant dafür ist etwa der Brand, bei dem Sevda ihre Wohnung verlor, der auch von Peri aufgegriffen wird: „Auch Sevda erzählt niemals von der Nacht des Brandes“ (S. 190). Noch bezeichnender ist die Erinnerung an das Silvesteressen, „an dem der Gänsebraten verbrannte“ (ebd.). Sevda erinnert sich ferner an den Streit mit Emine, bevor sie zu Ihsan zurück gezwungen wurde, während für Peri, die im selben Jahr Armin verlor, das Silvesteressen vom Maskieren ihrer Depression geprägt war. Hakan hingegen hat kurz vorher seine Anstellung in der Fabrik seines Vaters verloren, was ihn an dem Abend besonders beschäftigte. Es tauchen auch Andeutungen auf, die erst in späteren Kapiteln zur Auflösung kommen. So wird erst in Emines Kapitel aufgeklärt, dass das Kind, das vor Sevda geboren wurde und dessen Geburtsurkunde für sie verwendet wurde, Ciwan ist und auch der Selbstmordversuch, über den Peri berichtet, wird erst von Emine in einen Kontext gesetzt.
Auch Ciwan ist ein Verbindungspunkt, der in den verschiedenen Kapiteln unabhängig voneinander auftaucht. In Ümits Kapitel deutet eine Wahrsagerin an, dass es ein weiteres Kind, nämlich Ciwan gibt, als sie die Anzahl der Geschwister vorhersagt: “‘Ich sehe vier. Mit dir seid ihr zu fünft‘“ (S. 45). Sevda trifft auf Ciwan, als er ihr Restaurant aufsucht, allerdings verwechselt sie ihn mit einem Freund von Ihsan und scheucht ihn fort. Peri ist die Einzige in der Familie neben Hüseyin, die Ciwan kennenlernt, aber weil sie versucht mit ihm zu schlafen, verschwindet er auch aus ihrem Leben wieder. Schließlich wird in Emines Kapitel Ciwans Identität, Lebensweg und Tod aufgelöst. Erst mit ihrem Tod kann Emine Ciwan begegnen, als ihren Sohn, der in der perfekten Version des Silvesteressens ebenfalls anwesend ist. Ciwan ist also die Leerstelle des Romans, der (auch) die Problematik von Familientabus zentral diskutiert.

 

Pressespiegel

Der Familienroman Dschinns behandelt mehrere aktuelle Themen, die gesellschaftliche Probleme anprangern, von Homophobie zu Misogynie und Fremdenfeindlichkeit. Die Reaktion der Öffentlichkeit war weitgehend positiv und Dschinns wurde für den Deutschen Buchpreis 2022 nominiert. Christoph Schröder schreibt für Deutschlandfunk: „‚Dschinns‘ ist sowohl ein Buch der Zeit als auch des Zeitgeistes.“ Auch Meike Fessmann hält in der Süddeutschen Zeitung fest, dass die Stimmenvielfalt des Romans ebenso außerordentlich sei wie die Nonchalance, mit der die „gängigen Diskurse zu Herkunft, Geschlecht und Identität ins Erzählen überführt“ werden.
Eva Töhne geht im Spiegel insbesondere auf die Emotionalität des Romans ein. Sie argumentiert, dass der Tod der geliebten Person, des Vaters, das Ungesagte aufbricht und es sich bei diesem Ungesagten um Gefühlsgeheimnisse handelt. Eben jene Gefühle, die man einander nie gesagt hat. Der Tod des Vaters breche nun all das Ungesagte auf, wodurch die Gefühle zum Vorschein kommen. Über den Wechsel der Erzählperspektiven bemerkt Töhne: „Es liegt eine Gerechtigkeit in Aydemirs Erzählweise, jeder und jede bekommt Raum, wird gesehen; nur bei den Nebenfiguren zeichnet sie etwas flach.“ Als Unterhaltungsliteratur sieht sie Dschinns als perfekt geeignet, da der Bruch des Ungesagten eine spannende Dynamik erzeugt, die „dafür sorgt, dass man ‚Dschinns‘ kaum aus der Hand legen kann.“
In der Zeit äußert sich Iris Radisch eher kritisch zu Dschinns, wenn sie bemerkt, dass Deutschland als ein „angeklagtes Gastland“ inszeniert werde. Die Familie sei „ein Jammertal der brennenden Migrantenhäuser, des Rassismus, der Unterdrückung sexueller Minderheiten und der Niedertracht“ dargestellt. Radisch kritisiert, dass die wechselnden Erzählungen immer im selben „Klagemodus“ verfallen, wodurch wenig Abwechslung vorhanden sei. Radisch bewertet Aydemirs Darstellung als stereotype Beschreibung der deutschen Kultur und demnach nicht als „überzeugende engagierte Literatur“.

 

Literaturverzeichnis

 

Primärliteratur

 

Aydemir, Fatma: Dschinns. München: Hanser 2022


 

Rezensionen

 

Fressmann, Meike: Fatma Aydemirs Roman „Dschinns“. Verdichtete Trauer. In: Süddeutsche, 15.02.2022.

Radisch, Iris: „Dschinns“ von Fatma Aydemir. „Verficktes Land“. In: Zeit, 27.02.2022.

Schröder, Christoph: Fatma Aydemir: „Dschinns“. Leben ohne Partykeller. In: Deutschlandfunk, 13.02.2022.

Töhne, Eva: Familienroman „Dschinns“. Lauter Gefühlsgeheimnisse. In: Spiegel, 14.03.2022.