Charakteristika des Werks

Nachts ist es leise in Teheran

von Giovanna Franken

Struktur

Der Roman Nachts ist es leise in Teheran von Shida Bazyar erschien im Februar 2016 und erzählt im Wesentlichen die Flucht einer Familie aus Teheran nach Deutschland, deshalb lässt er sich auch unter die gegenwärtigen Flucht- bzw. Migrationsliteratur subsummieren. Die zentralen Figuren bilden eine fünfköpfige Familie, die aus den Eltern Behsad und Nahid sowie Laleh, der ältesten Schwester, Mo und Tara besteht. Der Roman beginnt mit Behsad im Jahr 1979 in Teheran in Iran und spannt einen Bogen bis zum Jahr 2009 über vier große Kapitel. Jedes Kapitel ist aus der Perspektive einer anderen Protagonist*in heraus geschrieben, wobei nicht nur unmittelbar Erlebtes sowie Eindrücke und Empfindungen, sondern auch politische und gesellschaftliche Themen Gegenstand der Betrachtungen sind. Der ersten Dekade folgt Nahids Erzählung aus dem Jahr 1989. Danach berichten Laleh im Jahr 1999 und Mo im Jahr 2009 von den Erlebnissen und Empfindungen ihrer Gegenwart sowie von ihrer familiären Prägung. Zuletzt folgt ein knapper Epilog aus der Sicht Taras, dem jüngsten Familienmitglied, die anders als ihre Geschwister bereits erwachsen ist. Mit der Technik der wechselnden Ich-Erzählerstimmen, gelingt es Shida Bazyar jeder Figur durch Monologe gestützt eine eigene Stimme zu verleihen und die individuellen Empfindungen der jeweiligen Gegenwart anders darzustellen. Dabei wird deutlich, dass es sich bei den Protagonisten genauso wenig um Einzelfälle im Rahmen von Flüchtlingsgeschichten handelt, sondern um generationenübergreifende Schicksale, wie auch, dass der Roman zu einem großen Teil als autobiografisches Werk zu lesen ist. Themen wie Identitätsraub, Identitätsfindung, Integrationsmöglichkeiten sowie kulturelles und familiäres Erbe werden aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und geben der Leserschaft einen Einblick in die Lebenswelt einer Migrantenfamilie mit gespaltenen Heimatsgefühlen.

Inhaltsangabe

Der Roman setzt 1979 wenige Wochen nach der iranischen Revolution mit dem Bericht der Figur Behsad, einem politischen jungen Mann, ein, der nach der Vertreibung des Regimes durch die kommunistische Widerstandsbewegung mit seinen Genossen für ein neue politisches System in seiner Heimat Teheran kämpft (vgl. S.12). Er ist ein sehr reflektierter Mann mit revolutionären Hoffnungen, die er nicht nur für seine eigene Generation, sondern auch für seine jüngeren Geschwister und die Kinder seiner Heimat verteidigt: „Sie sollten nicht Teil der Bewegung sein, sich ihre Zukunft nicht schon erkämpfen müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Kleinen und die Großen nach dem Leben in diesem Haus zurück in die Städte reisen“ (S. 57). Seine Erzählung ist die eines Anführers gegen die Regierung des Schahs und zunächst geprägt vom Glauben an eine bessere Zukunft und von revolutionärem Aktivismus. Doch muss er erkennen, dass seine Hoffnung auf Veränderung vergeblich ist, da die linke liberale Seite schnell von einem neuen feindlichen Herrschaftsbild verdrängt wird, da eine religiös-klerikale Gruppierung und ihre Anhänger an die Macht gelangen. Die Mullahs gehen ähnlich dem gestürzten Regime vor, wenn nicht sogar noch brutaler, sodass politische Aktivist*innen um ihr Leben fürchten müssen. Unter anderem wird Behsads bester Freund Peyman, dessen Bruder sich der gefürchteten neuen Macht anschließt, zum Opfer des Regimes, indem er zunächst inhaftiert und später durch ein „Bombeneinschlag in dem Gefängnis“ stirbt (S. 90). Das alles passiert, nachdem Behsad bereits nach Deutschland geflohen ist. Bei Behsad und seiner Familie erzeugt dieser Vorfall Schuldgefühle, unter denen sie noch lange Zeit leiden werden. Noch bevor ihm die Flucht gelingt, die in diesem Kapitel zunächst noch gar nicht thematisiert wird, verliebt er sich in die Literaturwissenschaftlerin Nahid, die ebenfalls mit ihm in die neue Heimat geht. Angekommen in einem völlig fremden Land werden kulturelle Unterschiede, Orientierungslosigkeit und eine veränderte gesellschaftliche Position zu den alltäglichen Herausforderungen für Behsad und seine Frau Nahid: „Erst wenn er abends vom Sprachkurs oder den Gelegenheitsarbeiten zurückkommt und ich ihn später durch die Wand den Kindern Einschlafgeschichten erzählen höre, ist unsere kleine Wohnung mein Zuhause“ (S. 75).
Zehn Jahre später wechselt die Perspektive zu Nahids Erfahrungen und Eindrücken in Deutschland. Das rastlose Paar verbringt viel Zeit vor dem Radio und erwartet Neuigkeiten von den Freunden, die in der Heimat untertauchen mussten. Sie wollen unbedingt zurückkehren, suchen aber zugleich eine Heimat in der Fremde und versuchen daher mehrmals Asyl in Deutschland zu beantragen. Häufig werden sie von den Behörden abgewiesen und hören den Satz: „…haben Sie aus bekannten Gründen kein Anrecht auf politisches Asyl in der Bundesrepublik Deutschland“ (S. 92). Nahids Stimme ist eine Stimme der Flucht und des Exils, die die Schwierigkeiten des Verlassens und des Ankommens zum Ausdruck bringt. Die gebildete Revolutionärin wird in Deutschland zu einer Migrantin, die die Sprache nicht beherrscht und die ihr gewährte Integration nur teilweise annehmen kann, da der Wunsch, in die eigentliche Heimat zurückzukehren, allzeit präsent ist. Obwohl Nahid noch am stärksten mit Teheran verbunden ist, wird in ihrer Erzählung hauptsächlich von dem eintönig passiven Leben in der deutschen Nachbarschaft berichtet, mit der Ausnahme des Berichtes über den Abend vor der Flucht, an dem sich Behsad, sie und Laleh von Peyman verabschieden: „Pass auf dich auf, sagte Behsad zu Peyman wie nebenbei, und Peyman sagte, Pass du lieber mal auf dich auf, ich weiß wenigstens, dass mir drei ganze Tage in Freiheit bleiben, diese Sicherheit fehlt dir, Genosse“ (S. 86).
Erst als im Jahr 1999 Laleh mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester Tara zu Besuch in den Iran reist, wird von einem reformorientierten Teheran berichtet. Während ihres Urlaubes an Orten, die sie nur teilweise wiedererkennt, lernt Laleh neue Familienrituale und einige Familiengeheimnisse kennen, von denen sie zuvor nichts ahnte. Auf den Spuren ihrer Vergangenheit erkennt sie vor allem die Verantwortung, die vom eigenen familiären und kulturellen Erbe ausgeht, aber auch die damit verbundene emotionale Irritation und Zerrissenheit. Es werden im Kapitel Taras vor allem Eindrücke aus der weiblichen Gesellschaft Teherans vermittelt und immer wieder direkte Vergleiche zwischen den ‚Heimaten’, der deutschen Kleinstadt und dem neuen und zugleich altbekannten Lebensumfeld in Teheran, gezogen. Emotionale Bindungen und Identitätsfindung werden zu zentralen Themen in der Gegenwartserzählung aus dem Jahr 1999.
Viel weniger verwurzelt mit Teheran und der iranischen Kultur ist Lalehs Bruder Morad, der im Jahr 2009 ein mehr oder weniger typisches deutsches Studentenleben mit seinem besten Freund Tobi führt. Auch interessiert er sich im Gegensatz zu seinen Eltern wenig für die aktuellen politischen Ereignisse wie die Pseudodemos in der deutschen Heimat, denn die Bildungsbedingungen deutscher Studenten sind nicht mit denen im Iran zu vergleichen. Erst das Gewahrwerden neuer Unruhen durch die Grüne Revolution (vgl. S. 222) in Teheran, löst in Mo ein politisches Bewusstsein aus, sodass er gemeinsam mit der jüngsten Schwester Tara politisch aktiv wird. Zudem beginnt er sich mit dem iranischen Teil seiner Biographie auseinanderzusetzen, der bis dahin noch eine undurchsichtige Familiengeschichte bedeutete. Die neue revolutionäre Bewegung lässt nun neue Hoffnung auf ein Zurückkehren der Exiliraner aufkommen.
Das Kapitel Mos zeichnet sich besonders durch den jugendlichen Sprachstil aus, der sich von den vorigen Kapiteln abhebt und seiner Erzählung zunächst eine Gelöstheit von der Familiengeschichte verleiht, dann aber zur Kritik an der unpolitischen Haltung vieler Jugendlicher wird. Morad gehört nämlich zu einer Generation, die sich wenig für politische Proteststrukturen interessiert. Dadurch gerät die Frage nach dem Revolutionsgedanken ebenso wie die Thematik der Identitätsfindung in den Blick dieses Kapitels, allerdings mit einer völlig anderen Sprachhaltung.
Im dreiseitigen Epilog „Tara“ werden zwei Aspekte parallel geführt. Zum einen das Ende des Regimes in Teheran durch den Tod der Mullahs und zum anderen die Auflösung der Familienproblematik, denn allein durch das Regime musste die Familie in Deutschland verweilen. Auffällig ist dabei, dass das hier knapp beschriebene Ereignis nicht eindeutig einem historischen Geschehnis zuzuordnen ist. Im Gegensatz zu den anderen historischen Bezügen im Roman widmet die Autorin dem vermeintlichen Ende des Mullah-Regimes nur wenige Worte: „Dann erblicke ich das Bild. Erblicke die Überschrift. Erblicke die Geschichte. Bärtige Männer, weiße Turbane, Feuer, Blut“ (S. 274). Es wird der Blick nun nicht mehr auf die Vergangenheit gerichtet, sondern auf die hoffnungsvolle Zukunft, die der jungen Generation gehört. Der Epilog funktioniert wie eine Zukunftsvision.

 

Zeitgeschichtlicher Kontext

Behsad und Nahid fliehen aus einem Land, in dem auf die Vertreibung des Schahs ein islamfanatisches Regime folgte. Die Erzählung referiert nicht nur aufgrund der politischen Lager, sondern auch aufgrund der Datierung auf die Historie Irans nach 1979, als Ajatollah Chomeini an die Macht gelangte. Deshalb war die Revolution, die die Kommunisten mit größtem Einsatz vorangetrieben haben, wenig erfolgreich. Viele Menschen lebten daraufhin in höchst gefährlichen Verhältnissen, denn die Regierung überwachte durch Spione die vermeintliche Rechtgläubigkeit und verfolgte jeglichen Widerstand. Für viele Iraner endete dies, wie an der literarischen Figur Payman vorgeführt wird, mit Haftstrafen, die ohne richterlichen Prozess verhängt worden sind, in brutal und gewaltvoll geführten Gefängnissen.
Angekommen in der Bundesrepublik Deutschland, finden sich Behsad, Nahid und ihre Kinder in einer bürgerlich konservativen Gesellschaft wieder. Das befreundete Paar Ulla und Walter kümmert sich zwar sehr bemüht um die Fremden, ist aber von einigen Vorurteilen gegenüber den Iranern geleitet. Die Tatsache, dass vor allem Nahid sehr belesen ist und Brecht und Tucholsky zu verstehen weiß, können die spießigen Deutschen zunächst nicht glauben. Zudem wird Nahid von Ulla und Lalehs Lehrerin, von denen sie immer wieder materielle Unterstützung erhält, nach Behsad gefragt, ob dieser anständig mit seiner Frau umgehe. Mit den misstrauischen Andeutungen, die Nahids Heimatland und dessen gesellschaftlichen Entwicklungsstand infrage stellen, weiß sie nicht recht umzugehen und versucht der Situation wenig Raum zu geben: „Nahid, sagt Frau Sommer und nippt an ihrem Tee, Du bist so nachdenklich, denkst du an zu Hause? Und ich bin plötzlich nicht mehr allein und nicht mehr am Fenster und merke, so gern ich die Gesellschaft von Ulla und Frau auch habe, ich bin wahnsinnig erschöpft“ (S. 117). In den Gesprächen, in denen Frauenfiguren aus zwei unterschiedlichen Kulturen aufeinandertreffen, wird deutlich, dass Nahid aus einer unabhängigen, politisch aktiven Lebenssituation in eine Welt eintaucht, in der sich die deutschen Hausfrauen um nichts anderes als die Qualität ihres Gemüses sorgen. Was zum einen auf konservative Rollenverständnisse aufmerksam macht, verweist ebenso auf das historische Ereignis der Tschernobyl-Katastrophe im Jahr 1986.
In Morads Kapitel finden studentische Demonstrationen statt, die sich gegen Studiengebühren und herrschende Bildungsnot richten. Thematisiert wird damit der bundesweite Bildungsstreik, der hauptsächlich vom 15. bis 19. Juni und am 17. November 2009 an deutschen Mittel- und Hochschulen stattfand. In diesen Streiks schlossen sich bis zu 270 verschiedene politische Organisationen zusammen, blieben jedoch dezentral, sodass sie in den jeweiligen Bundesländern unterschiedliche Forderungen stellen konnten. Die Demokratisierung der Institution, die Verbesserung der Lehre sowie der unbeschränkte Zugang zu Bildung durch die Abschaffung von Studiengebühren und Zugangsbeschränkungen knüpft dabei an die Situation in Teheran an, in der es Studenten nicht mehr möglich ist, ihrem Studium nachzugehen. Insbesondere als Mo von den aktuellen Geschehnissen in Teheran erfährt, wandelt sich seine Politikverdrossenheit und er wird gegen seine eigene kenntnislose Zurückhaltung tätig. Dabei wird der Kontrast zwischen den Protesten in Deutschland und denen in Iran deutlich, denn in Teheran handelt es sich um Proteste, die gefährlich für die Demonstranten sind, sodass im Zuge der Grünen Revolution im Jahr 2009 sogar 72 Menschen ums Leben gekommen sind. Die Grüne Revolution trägt ihren Namen, da ihre Anhänger sich mit grünen Stirnbändern oder anderen grünen Accessoires kennzeichneten. Reformer und konservative Geistige demonstrierten gegen das Wahlergebnis der iranischen Präsidentschaftswahl, in der Mahmud Ahmadineschad mit einer absoluten Stimmenmehrheit gewann (vgl. Amiri, S. 95). Die Studentenbewegungen in Deutschland hingegen sind friedlich und werden von der Regierung geschützt.
Wie es in Teheran nach der Revolte gegen die Mullahs tatsächlich aussieht, wird vor allem von Laleh berichtet, denn sie erlebt die Stadt im Jahr der landesweiten Studentenproteste. Das historische Ereignis fand vom 7. bis zum 13. Juli 1999 statt. Besonders während des Treffens mit den jugendlichen Verwandten Lalehs in einem modernen Eiscafé wird das Außergewöhnliche an diesen Protesten angedeutet, denn ausgerechnet die Generation lehnt sich gegen die herrschenden Zustände auf, die ausschließlich unter der Islamischen Regierung aufgewachsen ist. Jugendliche, die eigentlich keine Alternative kennengelernt haben, fordern Verbesserung.
Zudem versteckt Shida Bazyar einen Hinweis auf den Sinneswandel ehemaliger Mullah-Anhänger, indem sie die Figur Amin, den Bruder Peymans, der im ersten Kapitel noch religiöser Anhänger der Mullahs ist, in Nima umbenennt. Mit dem Anagramm und der Umkehrung des Namens wird die Wandlung der politischen Einstellung Nimas kenntlich gemacht, der sich inzwischen für die Forderungen der Studenten einsetzt: „Ich muss versuchen ein Studentenvisum zu bekommen, so schnell es geht, sagt er, und schaut mir dabei nicht in die Augen, Es wird hier gefährlich für mich, keiner weiß, welche Namen in den Gefängnissen gefallen sind“ (S. 194).

 

Identitätskonzepte

Identitätsbildung, Identitätsverlust und Identitätsfindung sind zentrale Themen in dem Roman. Zunächst wird im ersten Kapitel die Identitätsbildung behandelt, indem durch die Figur Behsad die Kindheit und Jugend in Teheran beschrieben wird. Er ist der älteste Sohn der Familie, wodurch sein Selbstverständnis von Verantwortung für seine jüngeren Geschwister, aber auch seiner Mutter gegenüber geprägt ist. Insbesondere die Erzählung von typischen Kindheitseindrücken, die er in Teheran gesammelt hat, vermitteln ein Verständnis dafür, welche sozialen Eindrücke auf die Identitätsbildung iranischer Heranwachsender einwirken: „Als wir klein waren, waren es genauso viele Frauen, wenn auch andere. Meine Schwestern und ich wurden von unserer Dajeh hinausgeschickt, sollten die Frauengespräche nicht hören“ (S. 13). Diese berichtende Darstellung sind Erinnerungen an Behsads Kindheit und heben umso mehr hervor, dass diese Zeiten der Vergangenheit angehören, da Behsad inzwischen erwachsen ist. Es wird deutlich, dass seine identitätsstiftenden Erlebnisse mit dem Land, mit seiner Familie und mit kulturellen Ritualen des Irans verbunden sind „und Dajeh macht Weinblätter. Sie sitzen alle auf dem Boden, meine Mutter, meine Schwester, meine Tanten“ (S. 12).
Es ist davon auszugehen, dass Nahid ähnlich aufgewachsen ist, da auch sie ihre Kindheit in Teheran verbracht hat. Allerdings wird in ihrem Kapitel nicht die Bildung der Identität in den Fokus gerückt, sondern deren Verlust oder Raub, da sie ihre Heimat nicht freiwillig verlassen hat. Als Nahid mit ihrer Familie aus der Heimat fliehen muss, wird sie entwurzelt und kann keine neue Festigkeit in Deutschland finden, da Behsad und sie in einer ständigen Übergangshaltung verharren. Sie haben das Ziel, so schnell wie möglich zurückzukehren. Die Fremdheit der deutschen Kultur und Gesellschaft sowie Vorurteile gegenüber den Iranern verstärken diesen emotionalen Umstand. Nahid fühlt sich immerzu heimat- und hilflos. Zudem wird ihre Identität durch Menschen wie Ulla und Frau Sommer infrage gestellt, indem sie in ihrer Bildung und emanzipatorischen Haltung unterschätzt wird: „Frau Sommer schreibt mir die Nummer und den Namen von ihrem Frauenarzt auf und erklärt, Man muss einen Termin machen zur Untersuchung, und ich seufze und denke, natürlich muss man das“ (S. 117).
Laleh ist während der Reise nach Teheran auch auf der Suche nach ihrer eigenen Identität. Doch bevor in ihrer Erzählung die familiäre Identitätsfindung thematisiert wird, geht es um die Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit, die vor allem durch die Eindrücke und das soziale Umfeld in Deutschland geprägt ist. Da sie im Alter von vier Jahren in die BRD kam, beruht ein Großteil ihrer Sozialisation auf dem gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld Deutschlands. Laleh beschäftigt sich gedanklich viel mit ihren Mitschülern und Freunden: „David hält einen Monolog, und ich verstehe nichts, aber ich nicke, nicke eifrig in seine Richtung, weil ich merke, dass das, was er erzählt, etwas mit mir zu tun hat“ (S. 125). Doch schweift Laleh während der Schilderung ihrer Gegenwart immer wieder in Berichte der Erinnerungen ab: „Da sind Menschen und Gerüche und Bilder, die sitzen so tief und kommen manchmal so plötzlich hoch und fühlen sich so richtig an, dass ich gar nicht weiß, wie ich sie an all den Tagen in der Schule und Abenden in Maries Kinderzimmer überhaupt vergessen konnte“ (S. 135). Die Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit vermischen sich mit ihrer aktuellen Realität, sodass deutlich wird, dass sie sich in zwei Welten gleichzeitig befindet. Diese Situation der zwei Identitäten empfindet Laleh als Zerrissenheit, die sie stets mit sich trägt: „So lange, bis es mich doch wieder einholt und ich denke, warum ist das eigentlich so, dass ich so etwas mit mir rumschleppen muss und Marie und David und so eine Maja nicht mal wissen, wie sich das anfühlt?“ (S. 135).
Als sie nun in Teheran ankommt, erkennt sie zwar vieles aus ihren Erinnerungen wieder, doch fühlt sie sich auch in der Heimat ihrer Familie, fremd: „Alle um mich herum schauen auf mich, reden mit mir, hören mir zu, werden plötzlich still, wenn ich mich traue, zu antworten, meine stolpernden persischen Worte an sie zu richten. Dabei hat diese Aufmerksamkeit gar nichts mit mir zu tun, sondern nur mit Mama und Papa“ (S. 140). Laleh fühlt sich demnach ebenso in keinem Land richtig heimisch, weder in Deutschland noch in Iran. Dies ist der zentrale Punkt dieses Romankapitels. Laleh lernt viel über ihre Familie und deren Geheimnisse, über die iranischen Bräuche der Frauen, über die politischen Aktivitäten und ihre alten Freunde, sodass sie es schafft, ihrer Identität ein Stück näher zu kommen. Laleh spricht dies zwar nie explizit aus, doch finden sich eine Reihe von Stellen, an denen Laleh sich und ihre Geschwister als Verbindungsstücke zwischen den beiden Welten, Deutschland und Iran, wahrnimmt: „das Lachen gehört so sehr hierher, zu all den anderen Schätzen, die ich hier wiedergefunden habe. Trotzdem ist es das Lachen aus Deutschland, wie kann es in dieser Hitze überleben? Wie kann sie ihr Lachen hierherimportiert haben, und wie kann es sich so nahtlos anfühlen?“ (S. 176).
Mos Geschichte thematisiert ebenfalls die Suche nach Identität, denn er ist genau wie seine Schwester Laleh noch in Teheran geboren und hat Lebenszeit in beiden Ländern verbracht. Seine Suche findet allerdings in Deutschland und mithilfe politischer Bildung statt. Die Beschäftigung mit der Revolution und die Kontaktaufnahme zur Familiengeschichte lässt ihn ähnlich viel Verständnis über sich selbst erlangen wie Laleh durch den Besuch in Teheran. Mo wird später wie seine jüngere Schwester Tara politisch aktiv und tritt dabei das familiäre Erbe an: „Tara sagt, Mama und Papa haben immer so gemacht, und dann brüllt sie: Hoch! Die! Internationale Solidarität! Und hebt bei jedem Wort erst die linke Faust und schlägt dann mit der rechten Faust in die linke. […] Tara und ich gehen mit“ (S. 260).
Laleh, Mo und Tara haben ihre hybride Identität in dem Raum zwischen zwei Gesellschaften gefunden. Ihnen gehört, im Tenor des Romans, die Zukunft, um iranische und deutsche Traditionen zu leben und die Familie beider Länder zu verbinden.

 

Formale Aspekte

Genrezuordnung

Nachts ist es leise in Teheran erzählt aus einer iranisch-deutschen Perspektive und gibt Lebenswelten zwei unterschiedlicher Nationen wieder. Beide Welten existieren zwar parallel nebeneinander, haben aber bis zum Zeitpunkt, in dem Behsad und Nahid nach Deutschland kommen, keinen Berührungspunkt. Da aber deren Kinder mit der kulturellen Prägung zweier Nationen aufgewachsen sind, kann der Roman als interkulturelle Literatur bezeichnet werden. Der Begriff Migrationsliteratur ist insofern ebenso zutreffend, da es sich bei den Eltern um Migrant*innen aus dem Iran handelt und sie aus der Sichtweise eines fremden Kulturraumes als Minderheit in Deutschland berichten. Ebenso sind Fragen nach der Identität, die als Leitfaden des Romans dienen, ein typisches Merkmal inter- oder multikultureller Literatur der Gegenwart. Dazu gehören auch gesellschaftlich und politisch relevante Aspekte, die durch die Revolution des Jahres 1979 und die verschiedenen politischen Bewegungen behandelt werden.
Interkulturelle- und Migrationsliteratur wird inzwischen immer weniger als Literatur einer fremden Kultur angesehen, sondern bekommt die Bedeutung zugeschrieben, einen wichtigen Beitrag zur Migrationsforschung und Auseinandersetzung mit Identitätskonzepten beizutragen. Die Bedeutsamkeit des Romans wurde auch im Zuge des Ulla-Hahn-Autorenpreises sowie dem Uwe-Johnson-Förderpreis hervorgehoben. Zweites bezeichnete Mithu Sanyal das Werk in ihrer Laudatio ein „ungemein wichtiges Buch“ und eine „Einübung der Empathie“ und spielt damit auf die Vielschichtigkeit der fünf Perspektiven an, wie auch auf die Identitätsproblematik Geflüchteter, Migrierter und Heimatloser.
Die Erzählung ist zudem nicht nur als Literatur zwischen zwei Nationen zu bezeichnen, sondern als engagierte Literatur, denn sie fordert, auf Empfindungen wie Zerrissenheit, Unruhe und Fremdheitsgefühle aufmerksam zu werden und aus der Passivität herauszutreten. Die emotionale Lage kann durchaus als gravierend eingestuft werden und erforscht werden, sodass offene Fragen z. B. nach der Identität beantwortet werden können. Darauf soll Handlung folgen, um beispielsweise eine neue Identität oder Heimat zu finden. Insbesondere unter der Betrachtung der Figuren Mo und Tara wir das Engagement des Romans deutlich, denn sie bewältigen es, die Vergangenheit der Eltern zu verstehen und nutzen ihre Erkenntnisse für eigene persönliche wie auch politische Entwicklung, indem sie neue Kontakte knüpfen und an Demonstrationen aktiv teilnehmen.

 

Erzählperspektive

Eine weitere Besonderheit des Romans ist, dass er nicht nur aus einer Perspektive heraus erzählt, sondern jede Figur eine eigene Stimme erhält. Dabei ist die Sprache der erwachsenen Behsad politisch: „Und überhaupt. Wie könnten wir das Volk nicht kennen? Wir Sind das Volk“ (S. 19). Bei Nahid hingegen ist ein poetischer Sprachstil zu erkennen, wenn sie beispielsweise von der Bewunderung und Liebe zu Behsad spricht: „Nur die schwarzen, dichten Haare auf seinem Körper, nur den Kopf, der an meinem Hals gelehnt ist und der all diese klugen Gedanken der Welt spinnt, die alles erfunden haben, was die Welt retten könnte, die eines Tages auch die Welt retten werden, eines Tages, sicher“ (S. 101). Der Duktus der Kinder Laleh, Mo und auch Tara ist etwas mehr an der Alltagssprache angelehnt und vor allem das Kapitel Mos fällt durch die Verwendung von Jugendsprache und vielen inneren Monologen auf, insbesondere wenn es um zwischenmenschliche Situationen geht: „Maryam wird Tobi irgendwann in den Wind schießen, je schneller, desto besser, und je mehr blöde SMS Tobi ihr schreibt, umso schneller wird das gehen. Ich bin mir ziemlich sicher, das Ganze von Anfang an durchschaut zu haben“ (S. 208). Unterschiedliche Sprachhaltungen bewirken, dass der*die Leser*in in jede Figur hineinschlüpft und die Emotionalität besonders lebendig wahrnimmt.
Der Aufbau mit seinen fünf Kapitel mit steigender Handlung erinnert an Freytags pyramidalen Aufbau eines Dramas. Insbesondere unter Berücksichtigung des zentralen Themas der Identität lässt sich eine Spannungskurve erkennen, die in Lalehs Kapitel, dem der Identitätsfindung, ihren Wendepunkt findet. Die „Katastrophe“ geschieht dann in Taras Kapitel, denn hier wird die Auflösung durch das vermeidliche Ende des Terrors beschrieben „Keiner hat ein Vorzeichen bemerkt Jahrzehntelang ein Gottesstaat. Jetzt ein Symbol gegen den Terror in der Region“ (S. 274 f). Damit hört die Ursache für das Problem des Identitätsverlustes abrupt auf, da es für die Familie nun keinen Grund mehr gibt nicht mehr in den Iran zurückzukehren: „Wenn die beiden überhaupt noch zu Hause sind. Und nicht schon längst auf dem Weg zum Flughafen.“ (S. 275).

 

Pressespiegel

Bahareh Ebrahimi äußert sich in der Süddeutsche Zeitung, die sich insbesondere dem Konzept der hybriden Identität gewidmet hat, zu den Identitätsfragen. Er stellt heraus, dass Shida Bazyar damit nicht nur die Flüchtlingskrise aufgreift, sondern auch einen Beitrag zur postkolonialen Literatur leistet: „Für die Erfahrungen, von denen dieser Roman erzählt, steht in der deutschen Alltagssprache der Begriff „Migrationshintergrund“. Ihm entspricht in der postkolonialen Terminologie die „kulturelle Hybridität“, der die Autorin auch selbst angehörig sei. Besonders lobt die Zeitung jedoch die Behandlung der Vergangenheit in dem Roman, da die elementaren Erinnerungen nur in dieser liegen könne. Ganz im Gegensatz zur aktuellen Gegenwart in Taras Epilog, seien alle vergangenen Ereignisse und Erinnerungen sehr detailliert beschrieben.
Stephan Lohr hebt im Spiegel Online positiv hervor, dass der Roman „[o]hne eitle Larmoyanz, mit großem Einfühlungsvermögen und sprachlicher Souveränität“ überzeugt. Dabei stelle die Autorin „exemplarische Lebensgeschichten“ authentisch dar und behandle Themen der aktuellen Integrationsherausforderungen. Der Spiegel beschreibt diese Lesart so, dass der Appellcharakter des engagierten Romans deutlich wird.
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung betont Andreas Platthaus den Umgang mit den Migranten Behsad und Nahid. Shida Bazyars Roman thematisiert Flucht und Exil, weshalb die Zeitung eine Verbindung zur sogenannten Flüchtlingskrise, die seit 2015/16 in Deutschland herrscht, herstellt: „Abgesehen davon, dass seit langem Hunderttausende jährlich übers Mittelmeer oder an diesem entlang in die Europäische Union und besonders nach Deutschland drängen, ist es doch gerade der Anspruch engagierter Literatur, gesellschaftliche Entwicklungen vorauszuahnen“. Genau dies sei der Autorin als Ausnahmeerscheinung gelungen, denn neben Sherko Fatah und Jenny Erpenbeck ist Shida Bazyar nach Aussage der FAZ die dritte Schriftstellerin, die „Probleme der Identitätsbildung“ und „auffälliges Schweigen“ zugänglich in einem Roman festhält. Gerade die Schilderungen der Fluchterlebnisse, der Umgang mit den Asylanten, der Gang zu den Behörden und die Identitätsfragen „haben Allgemeingültigkeit“.
Neben viel Lob unterschiedlicher Stimmen merkt die FAZ allerdings einen leicht pathetischen Stil der Autorin, der sich vor allem im hinteren Teil des Romans zeigt, an. Dennoch handelt es sich keineswegs um Kritik, denn vielmehr wird dieses Pathos als Stil verstanden, der den Aspekt der engagierten Literatur hervorhebt: „Denn da kommt ein leicht jüngeres Alter Ego der Autorin zu Wort, und es wird klar, dass kein Mensch mit der Geschichte seiner Familie je abschließen kann. Es ist zugleich eine der Hoffnungen, die in der Flüchtlingskrise noch bestehen“.

 

 

Literaturverzeichnis

 

Primärliteratur

Bazyar, Shida: Nachts ist es leise in Teheran. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2017.

 

Forschungsliteratur

Amiri, Natalie: Zwischen den Welten. Von Macht und Ohnmacht im Iran. Berlin: Aufbau 2021.

Heinrich Böll Stiftung: Heimatkunde, migrationspolitisches Portal. Dossier Migrationsliteratur – Eine neue deutsche Literatur?, aufgerufen am 22.011.2023.

 

Rezensionen

Ebrahimi, Bahareh: Teheran, wo dein Herz verbrennt. Shida Bazyars Debütroman über vier Generationen einer iranischen Familie. In: Süddeutsche Zeitung, 28.09.2016.

Lohr, Stephan: Geflohen vor den Mullahs, angekommen bei Ulla. In: Spiegel Kultur, 22.02.2016.

Platthaus, Andreas: Und was tun Sie auf der anderen Seite?. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.02.2016.

Sanyal, Mithu: Laudatio auf Shida Bazyar. In: Humanistisch.de , 02.11.2017.