Interpretation zu Phantasiefreunde

Ein Beitrag von Mila Mantaj

 

In Pauline Hatschers Kurzgeschichte erzählt ein heterodiegetischer Erzähler von den ersten drei Verabredungen eines späteren Paares in ihrer Phase des Kennenlernens. Dabei bewegt sich die Erzählung zwischen Nähe und Distanz, sowohl in Bezug auf das Paar selbst, als auch in Bezug auf ihre Kommunikation miteinander. Hatscher verarbeitet dabei die aktuelle Frage danach, welche Folgen die Darstellung der eigenen Person in Sozialen Medien oder auf Online-Dating Plattformen für die eigene, analoge Identität mit sich bringt. Auch die Einflüsse dieser Darstellungen in Bezug auf zwischenmenschliche Kommunikation wird durch die Beziehungsgeschichte verhandelt.


Inhaltsangabe

Die Handlung umfasst die drei ersten Verabredungen, die die namenlosen Protagonisten miteinander haben. Nach den ersten beiden eher durchwachsenen Treffen stellen sie fest, wie schwierig es für sie ist, persönlich miteinander zu sprechen, ohne dass die Kommunikation durch ihre Handys gestützt wird. Als Konsequenz dessen schlägt er vor, dass sie bei ihrem dritten Treffen statt zu sprechen, miteinander schreiben könnten. Dieser Vorschlag scheint zu fruchten, denn ihre dritte Verabredung ist vermeintlicher Weise die beste, sie kennzeichnet den Beginn ihrer partnerschaftlichen Beziehung auf der einen Seite und ist begleitet von einer Art des Verliebtseins auf der anderen.


Inhaltliche Aspekte/Interpretation

Pauline Hatschers Erzählung trägt den Titel Phantasiefreunde, ein Titel, der eine zweifache Lesart zulässt. So nimmt zum einen der vorletzte Satz der Erzählung Bezug auf den Titel, die Protagonistin erinnert sich hierbei an ihre Kindheit zurück, in der sie zu den Freunden, die aus ihrer Phantasie entsprungen sind, die größte Verbindung gefühlt habe und diese ihr das größte Verständnis entgegengebracht hätten. (S. 51) Die Phantasiefreunde der Kindheit sind ein Produkt der Vorstellung darüber, was man in seinem Leben benötigt, welche Form von Unterstützung durch Freund*innen notwendig ist. Zum anderen kann auch der Protagonist und spätere Partner als ein solcher Phantasiefreund gelesen werden, da er ebenfalls nur als Produkt der Vorstellungen voneinander existiert und durch die Distanz der vorgezogenen, digitalen Kommunikation an die eigene Erwartungshaltung angepasst wird. Auch auf die Beziehung im Ganzen kann der Begriff Phantasiefreunde angewendet werden. Recht schnell wird deutlich, dass die beiden unterschiedliche Erwartungshaltungen an sich selbst, aber auch an eine potenzielles Miteinander haben. Diese Erwartungshaltungen werden von den beiden aber nicht kommuniziert, sodass die Grundlage der Beziehung lediglich auf dem digitalen, durch Nachrichten gestützten Austausch fußt.
Bereits mit dem ersten Satz der Erzählung wird ein Rahmen geschaffen, in dem die Realität, in der sich die beiden Protagonisten bewegen, eingeführt wird. Den Leser*innen wird mitgeteilt, dass die Beziehung, die im nachfolgenden skizziert wird, aus Sicht der Protagonisten zum einen zeitgemäß sei, sie haben sich über eine Dating-Plattform kennengelernt, und zum anderen, dass die beiden mit ihrem Beziehungsmodell eins der „zufriedenste[n] Paar[e] in ihrem Bekanntenkreis“ (S. 45) sein. Das Bild dieser glücklichen Beziehung steht im starken Kontrast dazu, wie sich die Beziehung der beiden aufgebaut hat und wie sie vor allem mit der dritten Verabredung der beiden dargestellt wird. So wird bereits eingangs darauf verwiesen, dass während des ersten Treffens der beiden lediglich grundlegende Dinge wie Alter und Wohnort besprochen werden und sich die vermeintliche Nähe, die die beiden in ihrer digitalen Kommunikation bereits erlebt haben, nicht auf die persönlich zwischenmenschliche Kommunikation übertragen lässt. Die Leser*innen erfahren außerdem, dass beide Protagonisten sich vor dem Treffen Sätze aufgeschrieben und zurechtgelegt haben, die sie während ihres Treffens aber nicht ausgesprochen haben. Hier verdeutlicht sich ein zentrales Element der Beziehung und Erzählung: Die eigenen Gedanken zu verbalisieren und sich somit verletzlich zu machen. Das Sprechen steht hierbei in direktem Kontrast zum Denken, denn das Aussprechen von Gedanken formt gleichzeitig die Wirklichkeit und die Beziehung der Protagonisten. Entsprechend wird die Frage danach gestellt, wie die Beziehung der beiden sich möglicherweise verändert hätte, wenn sie diese Sätze miteinander in Persona geteilt hätten, statt sie wiederum auf die Ebene der digitalen Kommunikation auszulagern.
Auch zeigt sich schnell die Ambivalenz des Verliebtseins, gerade in den Empfindungen der Protagonistin: Ihr Erleben ist geprägt von Euphorie, so wird sie als hüpfend auf dem Weg zum Einkaufen beschrieben, zeitgleich haben die sich aufbauenden Gefühle etwas Einengendes an sich.
Die eingangs beschriebene Nähe innerhalb der digitalen Kommunikation zeigt sich an einer zweiten Textstelle besonders deutlich, wenn die Protagonistin in Nachrichten an ihn über ihre Zukunftsängste und die Befürchtung spricht, sie könne den falschen Beruf ergriffen haben. (S. 47)  Der Protagonist reagiert auf diese Nachrichten mit seinem eigenen Erleben in Bezug auf Zukunftsängste und beruflichen Werdegang, zeigt sich durch die Erzählung seiner depressiven Episode und Panikattacken nahbar und verletzlich. Zentral ist hierbei wiederum, dass bei dem zweiten persönlichen Aufeinandertreffen diese Themen keinen Raum bekommen, da die beiden nicht in der Lage zu sein scheinen, Persönlicheres und Intimeres preiszugeben, ohne dabei durch die Indirektheit ihrer Handys geschützt zu sein. Naheliegend wäre, dass dem Ausweichen auf die indirekte Kommunikation die Angst innewohnt, die durch eine direkte Reaktion auf das Gesagte entstehen könnte, wenn ebendiese Reaktion nicht der eigenen Erwartung entspricht. Das zeigt sich vor allem auch in der Reflexion des zweiten Treffens, bei der beide verärgert darüber sind, nicht tieferliegende Themenbereiche angeschnitten zu haben. Beide begründen das für sich mit der Angst davor, dass diese Themen für den jeweils anderen keine Relevanz zu haben scheinen. Sie schließt das daraus, dass er nur witzige Anekdoten erzählt hat, während er in ihrer Körperhaltung und in ihrer Stimme Ablehnung liest. Auch hier zeigt sich wieder die bereits oben thematisierte Erwartungshaltung der beiden, die zwar nicht explizit kommuniziert wurde, der Interaktion der beiden aber immer immanent ist.
Trotz der als eher negativ empfundenen ersten beiden Treffen, denken die beiden unentwegt aneinander. Interessant ist hierbei, dass das Aneinderdenken sowohl bei Themen und Situationen auftritt, die sie über persönliche Kommunikation miteinander geteilt haben, aber auch bei Dingen, die während ihrer beiden Treffen stattgefunden haben. Das Aneinanderdenken wird von beiden als deutliches Zeichen der Verliebtheit gewertet, was ein drittes Treffen zur Folge hat, bei dem sie lediglich durch geschriebenen Nachrichten miteinander kommunizieren wollen. Auffällig ist hierbei, dass beide während des physischen Aufeinandertreffens eine vorher nicht dagewesene Euphorie empfinden, wenn sie während dieses Treffens Nachrichten des jeweils anderen erhalten.
Die Erzählung schließt mit der Feststellung, dass die beiden zwar verliebt ineinander sind, aber wahrscheinlich nur in die Bilder, die sie sich vom jeweils anderen gemacht haben. Diesem Zustand wird eine gewisse Irrelevanz zugesprochen, fast so, als würde es im Allgemeinen keinen Unterschied machen, ob es sich um ein digitales, inszeniertes Abbild der Person handelt, oder um die Person selbst.
Zwar zeichnet sich Hatschers Text durch das Überwiegen der digitalen Kommunikation aus, trotzdem gibt es auch kurze Passagen der analogen zwischenmenschlichen Kommunikation. Auffällig ist hierbei insbesondere, dass die Darstellung der Nachrichten, die sich die beiden Protagonisten schreiben entweder durch indirekte Rede dargestellt wird, oder aber durch wörtliche Rede gekennzeichnet ist. Das kann zum einen als Ausdruck des Stellenwertes der digitalen Kommunikation gewertet werden und zum anderen verdeutlicht es auch den Kontrast zwischen den Dingen, die die Protagonisten denken, und im Gegensatz dazu aussprechen. Es signalisiert demnach auf der textgestalterischen Ebene inwieweit die beiden Protagonisten in ihrer gegenseitigen Erwartungshaltung gefangen sind.
 Pauline Hatscher thematisiert in ihrer Erzählung große Fragen ihrer Generation: Beruflicher Werdegang, psychische Krankheiten, digitales Leben und Dating, aber auch Leben in der Großstadt und Corona finden Platz. Dabei zeichnet sie ein klares Bild davon, was es bedeutet, wenn die (Selbst-)Darstellung der eigenen Person in Sozialen Medien und im Internet generell nicht mehr loszulösen ist von der eigentlichen Person in der Realität. Welche Erwartungshaltungen sich aufbauen, wenn diese Bilder der einzige Referenzpunkt innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen sind. Dabei changieren beiden Figuren im stetigen Wandel zwischen Nähe und Distanz, kaum vorhandener analoger Kommunikation und tiefergehendem digitalem Austausch, über die Themen, die für ein partnerschaftliches Kennenlernen von wirklicher Relevanz sind.

 

Literaturverzeichnis
 


Hatscher, Pauline: Phantasiefreunde, in: 30. Open Mike. Wettbewerb für junge Literatur. Die  17 Finaltexte. Allitera Verlag, München, 2022, S. 45 - 51.