1000 serpentinen angst

„Denke ich, oder werde ich gedacht?“ 

Ein Beitrag von Kathrin Bella
 

Inhalt

Olivia Wenzels Debütroman 1000 serpentinen angst, aus dem Jahr 2020, handelt von dem Leben einer schwarzen, ostdeutschen Frau, die sich selbst fremd ist und nach ihrem Platz in der Welt sucht. Angelegt ist die Erzählung in drei Teilen, wovon Teil I und III in Dialogform angelegt sind und der II. Teil aus Aneinanderreihungen von Beschreibungen und Erinnerungen besteht. Die (namenlos bleibende) Protagonistin ist von Ängsten geplagt und kämpft mit traumatischen Erfahrungen aus der Vergangenheit ebenso wie mit Ausgrenzung und Entfremdung.
Im I. Teil, points of view, wird die Protagonistin überwiegend in Form eines Frage-Antwort-Schemas von einer bis zum Ende unbekannt bleibenden Stimme[1] ausgiebig befragt oder kommentiert. Wenzel selbst nennt diese Stimme auch „fragende Instanzen und Sprechweisen“ (taz-Interview, 05.03.2020), welche unterschiedliche Positionen im Handlungsverlauf einnehmen und der Protagonistin einen Erzählanlass schaffen.
Die Fragen dieser Stimme(n) zielen primär auf das Innenleben der Figur ab und ähneln in Teilen einem Verhör, einem Therapiegespräch oder den Fragen eines Einreiseformulars für die USA. Dabei handelt es sich laut Wenzel um ein „Zwiegespräch […] mit sich selbst“ (taz-Interview, 05.03.2020), in welchem die innere Stimme kritische, ironische, reflektierte oder unangenehme Fragen stellt.
Teilweise fällt es der Protagonistin, die aus der homodiegetischen Ich-Erzählerin heraus das ‚Gespräch‘ führt, schwer, Antworten auf die Fragen zu finden, fühlt sich von dem fordernden Ton der inneren Stimme unter Druck gesetzt und in die Ecke gedrängt. Neben Fragen zu Rassismus, Kolonialismus und der eigenen Vergangenheit, kommentiert die Instanz außerdem Antworten und Gedanken (in Majuskeln). Insbesondere die Frage „WO BIST DU JETZT?“ (S. 12, 19, 39, 62, 89) zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman und steht neben der lokalen Verortung auch für die Orientierungslosigkeit in Leben der Protagonistin. Mal befindet sich die junge Frau am Flughafen, mal am Bahnhof, und mal in Gedanken bei Affären oder aber ihrer Ex-Freundin Kim. Außerdem reist sie durch die USA, Vietnam, Marokko und Angola, womit „die Schauplätze von 1000 serpentinen angst nicht allein im Herkunftsland der Erzählerin liegen, […]“ (Hermes 2022: 23).
Während der Selbstgespräche wird bereits deutlich, dass der Protagonistin mehrere traumatische Erlebnisse in ihrem Leben widerfahren sind, welche sie auch in der Gegenwart beschäftigen. Vornehmlich rassistische Erfahrungen, der Suizid ihres Bruders Samuel ebenso wie das Verhältnis zu ihrer Mutter Susanne können im Verlauf des Romans als traumastiftend identifiziert werden. Auch der innere Konflikt zwischen Schwarz-Sein und Deutsch-Sein, gepaart mit der Frage nach ihrer sexuellen Orientierung, drückt sich in einem Dilemma der Identitätsverhandlung aus und spiegelt sich in der narrativen Komplexität wider.
Der II. Teil wird mit der Überschrift picture this benannt und ist in Prosa-Form verfasst. Die Verkettung einzelner Erinnerungen der Protagonistin zu Therapiesitzungen, Freundschaften, ihrem Bruder, der DDR, ihrer Mutter, Fotografien und ihrer Körperwahrnehmung sorgt dafür, dass sich der:die Leser:in in die Gedankenwelt der Protagonistin hineinbegeben und sich ‚diese vorstellen kann‘ (picture this), womit ein inhaltlicher Bezug zum Kapitelnamen hergestellt wird.
Im III. Teil, fluchtpunkte, wird wieder an die Monolog- beziehungsweise Dialogform aus Teil I angeschlossen und das Gespräch der Protagonistin mit der anderen Stimme fortgesetzt. Je weiterer der Leseprozess voranschreitet, desto mehr Wechsel finden in der Erzählweise statt. Zunächst spricht die Stimme aus der Ich-Perspektive, um kurz darauf in die zweite Person zu wechseln, und dann wieder Fragen aus der Ich-Perspektive zu stellen. Neben der wechselnden Erzählperspektive findet auch ein Sprachenwechsel statt. Zum Teil sind kontextlose Zitate in Englisch und Französisch zu lesen ebenso wie Assoziationen, die durch Kursivzeichnung hervorgehoben werden. Insgesamt lässt sich der Inhalt dieses Kapitels nur vage beschreiben, da viele Erzählstränge aufgemacht und dann wieder unterbrochen werden. Für den:die Leser:in ist dabei nicht immer ersichtlich, wer gerade zu welchem Zeitpunkt über (et)was spricht.

 

Soziokulturelle Einbettung und Entstehungskontext

Kurz vor der Veröffentlichung des Romans Anfang März 2020 ereignete sich am 19. Februar ein rassistischer Anschlag in der hessischen Stadt Hanau. Nur wenige Monate später, im Mai des gleichen Jahres, wurde der Afroamerikaner George Floyd während einer Festnahme in Minneapolis von einem Polizisten ermordet. Der Polizist drückte Floyd über neun Minuten lang die Luft ab, indem er sich mit seinem vollen Körpergewicht auf den Hals des Opfers kniete. Das kurze Zeit später veröffentlichte Zeugenvideo sorgte weltweit für Aufsehen und Erschütterung. Es folgten Proteste infolge des Todes von George Floyd, welche sich gegen Rassismus und Polizeigewalt richteten und unter dem Motto „Black Lives Matter“ (BLM) standen.
Diese Ereignisse führten dazu, dass die Rassismus-Thematik aus 1000 serpentinen angst vermehrt in Interviews oder Buchvorstellungen von der Autorin weiter ausgeführt und an eigenen Rassismus-Erfahrungen festgemacht werden sollte. Dies kritisierte Wenzel und erklärte, dass zwar nach Erscheinung des Buches auch der Versuch stattfand,

"anderen Themen aus dem Buch gerecht zu werden, […]. [Aber] mit der Ermordung von George Floyd und den Black-Lives-Matter-Protesten hat sich der Fokus verengt. Ich habe jetzt manchmal gehört, mein Buch sei das Buch der Stunde. Aber der Rassismus, den ich beschreibe, ist ja kein Trend. Es geht um Kontinuitäten, die sich immer weiter und endlos und scheiße fortsetzen. Dass im Moment Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind, vermehrt Aufmerksamkeit für dieses Thema haben, ändert daran erstmal nicht. (nd-Interview, 09.10.2020)"

Vielmehr wünscht sich die Autorin, dass der Debatte Konsequenzen im Sinne von politischen Handlungen oder Gesetzgebung folgen. Ihre Leser:innenschaft möchte sie mit ihrem Roman jedoch unter anderem zunächst einmal für rassistische Situationen sensibilisieren. Außerdem gehe es nicht ausschließlich um Rassismus, sondern mehr um Verknüpfungen und Verschränkungen, die den Geist der Zeit treffen: Was bedeutet es, schwarz zu sein in der DDR, oder in anderen Kontexten wie Familie, Freundschaften, Liebesbeziehungen? Welche Rollen nehmen dabei das Geschlecht und die sexuelle Orientierung ein?
Voraussetzung und Entstehungskontext des Romans war eine USA-Reise der Autorin im Jahre 2016, während Donald Trump in das Präsidentschaftsamt gewählt wurde. Wenzel führte in dieser Zeit viele Unterhaltungen mit Afroamerikanerinnen und spürte die Verzweiflung über den Sieg des Republikaners und die befürchtete Verschlimmerung der Situation in den USA für People of color. Im Rahmen dieser Eindrücke und Erlebnisse entstand der erste Text aus dem Buch, in welchem die Protagonistin die Wahl aus dem Hotelzimmer verfolgt und ein Unwohlsein plagt (vgl. taz Talk, 10.06.2020).
1000 serpentinen angst hat damit zum Teil autobiographische Züge, enthält jedoch auch fiktionale Geschichten, was den Roman autofiktional macht. So wurde die Autorin ebenso wie die Protagonistin als schwarze Frau in Thüringen groß und verlor ihren Bruder. Wenzel selbst beschreibt ihre Figur als „düstere Variante von [sich] selbst, die [sie] im Alltag nicht aushalten könnte, zu sein“ (taz-Interview, 05.03.2020). Dennoch war es ihr wichtig, einzelne Erlebnisse aus ihrem Leben nicht bloß nachzuerzählen, sondern die Handlung durch eine eloquente, reflektierte Stimme der Erzählerin voranzutreiben. Vorbild für diese Erzählweise war der Roman Between the World and Me (deutscher Titel: Zwischen mir und der Welt) von Ta-Nehisi Coates. Denn auch in diesem Buch wird autofiktional gearbeitet und gleichzeitig eine weitere Stimme genutzt, die die Handlung durch kritische Fragen vorantreibt (taz Talk, 10.06.2020).
Neben dieser Inspiration benennt Olivia Wenzel außerdem ihre Arbeit im Kollektiv vorschlag:hammer als richtungsweisend für die Erzählweise in ihrem eigenen Roman. Das Theaterstück Die Erfindung der Gertraud Stock basiert auf vielen kurzen Interviews mit Seniorinnen (Ü80), die dann zu einer Biografie verdichtet wurden. Szenisch umgesetzt wird diese Biografie mittels kleiner konkreter Erzählungen (Wenzel nennt diese Erzählungen im taz Talk „Schlaglichter“), unterbrochen und damit auch strukturiert durch weitere Bühnenvorgänge. Analog dazu konzipierte die Autorin die Erzählung in 1000 serpentinen angst. Zum einen haben die Fragen und Kommentare der übergeordneten Instanz eine strukturierende Wirkung, zum anderen falle es Wenzel nach eigenen Aussagen aufgrund ihrer vorherigen Theatererfahrungen leichter, Gefühle und Emotionen in gesprochenen Sätzen von Figuren zu denken als in der äußeren Beschreibung von Ereignissen.
Selbst sagt sie über den Sprachstil im Roman, dass dieser keine Allgemeingültigkeit habe und sie in der Retrospektive auch manchmal überlegen müsse, wieso sie in bestimmten Situationen solch eine Ausdrucksform gewählt habe (taz Talk, 10.06.2020); sie weiß jedoch, dass sie sich beim Schreiben des Textes „näher an [s]ich selbst herangeschrieben [habe]“ (nd-Interview, 09.10.2020).
 

Inhaltlich-formale Analyse

Die folgenden Ausführungen dienen der Analyse des Romans mit Blick auf die inhaltliche und narrative Umsetzung der intersektionalen Lebensrealität der Protagonistin, ihrer Vergangenheiten und ihrem Umgang damit.

a)    Das dreifache Problem mit der Banane

Die zentralen Differenzen, die in Deutschland zur gesellschaftlich-strukturellen Beeinträchtigung und Ausgrenzung der Protagonistin aus Olivia Wenzels Roman führen, werden von der homodiegetischen Ich-Erzählerin schon zu Beginn als „DAS DREIFACHE PROBLEM MIT DER BANANE“ (S. 49) benannt, welches während einer New York-Reise für die Protagonistin, nicht zu existieren scheint. Denn während sie „die Fifth Avenue entlang [läuft]“, ist es ihr möglich „unbefangen eine Banane [zu essen]“ und dabei einen Moment der „Freiheit“ (S. 50)[2] zu spüren, den sie aus Deutschland in dieser Form nicht kennt:

  1. "Öffentlich eine Banane essen als schwarze Person: Rassistische Affenanalogien, uga uga uga. Aua.
  2. Eine Banane essen als Ossi – die Banane als Sinnbild für die Unterlegenheit des beigen Ostens gegenüber  dem goldenen Westen. Die Banane als Brücke in den Wohlstand, exotische Südfrüchte als Symbol wirtschaftlicher Übermacht. Boah und diese blöden Ossis standen da nach’m Mauerfall stundenlang für an, ey.
  3. Eine Banane essen als Frau – Blowjob, dies das. Die Banane als Penisanalogie und Werkzeug des Sexismus. Unsichere, pubertierende Teenager traumatisieren andere unsichere pubertierende Teenager. Mach doch mal Deepthroat, hähähä. Hähähä. (S. 49f)"

Die Allegorien der Banane als Sinnbild für Diskriminierung machen deutlich, welchen Demütigungen und Diskriminierungen sich die Protagonistin in ihrem Heimatland ausgesetzt fühlt. Neben ihrem Merkmal der schwarzen Hautfarbe erfährt sie außerdem Benachteiligung aufgrund ihrer Herkunft aus der DDR sowie ihres weiblichen Geschlechts, weshalb eben jene Merkmale als Differenzkategorien für den Text benannt werden können.
So verdeutlicht Punkt eins in der Aufzählung, dass die Figur als rassifizierte schwarze Person mit einer tiergleichen Primitivität assoziiert wird, welche als Gegenvorlage für den ‚weißen‘, zivilisierten Westen gilt. Außerdem referiert die Erzählerin auf die Konstruktion der Ostdeutschen als zweitklassige bzw. minderwertige Menschen. Der sogenannte ‚Ossi‘ gilt noch über die Wiedervereinigung hinaus als fremd und dem:der Westdeutschen nicht ebenbürtig, weshalb sich der Umgang der BRD mit der DDR auch als Vergleich zum Kolonialismus lesen lässt[3]. Im dritten Punkt wird die Frau mittels sexualisierender Geste zum Objekt des Mannes degradiert und diese Geste wiederum als ein Beispiel für Misogynie angeführt.
Die Identität der Protagonistin, welche unter anderem schwarz, ostdeutsch, weiblich und darüber hinaus bisexuell ist, lässt sich somit als intersektional und mindestens vierfach marginalisiert einstufen. So kommen Identitätsmerkmale zusammen, die einzeln schon eine Marginalisierung befördern und in Kombination miteinander die Ausgrenzungserfahrungen aus der Mehrheitsgesellschaft vielfach begünstigen. Jene Merkmale verklärt die Protagonistin jedoch nicht, sondern sie reflektiert anhand dieser über sich und ihre Lebensrealität. Sie beschreibt

"die Tatsache, einem Blick ausgeliefert zu sein, der uns, wenn ich überhaupt von einem Uns sprechen kann, als das Gleiche begreift, als das gleiche markiert, als das Nichtweiße, das Andere als Beleg einer Idee von Hautfarben und Differenz (S. 81)"

und deckt so das binäre Konstrukt von schwarz und weiß sowie die Fremdwahrnehmung in ihrem Umfeld auf.
Das Bewusstsein über jene Wahrnehmung der schwarzen Hautfarbe und das Wissen um die Folgen daraus, beschreibt W. E. B. Du Bois schon 1903 in seinem Werk The Souls of Black Folk als Double Consciousness (vgl. Ensslen 2020: 1). Das sogenannte doppelte Bewusstsein versteht sich dabei als individuelles Gefühl, welches die Identitätsbildung erschwert, da sich schwarze Personen nie nur auf ihre eigene Wahrnehmung beschränken, sondern sich stets auch von außen betrachten und so in ihrem Denken und Handeln beeinflusst werden. Mit Blick auf die intersektionale Anlage der Protagonistin bei Wenzel lässt sich hier jedoch nicht nur ein doppeltes, sondern ein mehrfach gespaltenes Bewusstsein ausmachen. Die Triple Consciousness Theory (TCT)[4], basierend auf Du Bois, besagt, dass sich intersektionale Identitäten selbst durch verschiedene Linsen betrachten (hier: Geschlecht, Ethnie, Sexualität, soziale Herkunft) und berücksichtigt damit das breite Spektrum jener Lebensrealitäten.
Wenzels Protagonistin kommentiert beispielsweise einen One-Night-Stand mit zwei Urlaubsbekanntschaften als „ein bisschen liebevoll, ein bisschen wie in einem Mainstreamporno für heterosexuelle Männer“, jedoch „[u]nter anderen, industrielleren Vorzeichen [als] ‚Interracial Gangbang‘ “ (S. 95), was auf einen Blick von außen schließen lässt, der sexistisch und rassistisch ihr eigenes sexuelles Verhalten bewertet.
Die Selbstwahrnehmung durch Blicke von außen, führt in der Konsequenz zu einer Entfremdung von sich selbst, die allerdings eine merkliche Entwicklung durchläuft. Wenzels Protagonistin hat zwar in ihrer Kindheit den Wunsch, „eine Creme, eine wundersame Salbe [zu besitzen], die [sie] vor dem Zubettgehen auftragen und die [sie] über Nacht weiß machen würde“ (S. 149), befreit sich jedoch im Laufe ihres Lebens von diesen Gedanken und verurteilt ihr kindliches Ich sogar dafür (S. 149).
Schon früh stößt die Protagonistin auf Ausgrenzung und Abneigung, die zu einer Internalisierung des mehrfachen Bewusstseins führen. In der Kindheit wird sie wegen ihrer Hautfarbe gedemütigt (S. 195, 197) und auch im familiären Kontext in ihren Denkstrukturen manipuliert. Sie lernt, „[w]as als schön galt und was nicht“ (S. 136), als ihre Großmutter das Kämmen ihrer Haare als „schwer [zu] bändigen“ (S. 136) bezeichnet und der Protagonistin suggeriert, sie sei etwas, das es zu bezwingen gelte, ähnlich wie ein wildes Tier (siehe S. 44, Punkt 1 der Bananenanalogie). Außerdem wird die Protagonistin schon als junges Mädchen auf ihr weibliches Geschlecht reduziert und mit Stereotypen konfrontiert. So bittet ihre Großmutter sie, ihre „Nägel wachsen zu lassen, sie bitte endlich wachsen zu lassen, sie sei doch schließlich bald eine junge Frau“ (S. 136).
Als eben jene junge Frau gelingt es Wenzels Figur, ihre blackness sowie ihre Sexualität zu affirmieren. Der erste Sex mit ihrer (Ex-)Freundin Kim ist gleichzeitig das Akzeptieren, „[damit] in die nächste marginalisierte Randgruppe [zu] gehöre[n]“ (S. 167). Dennoch leidet auch Wenzels Protagonistin – trotz Affirmation – unter ihrer intersektionalen Identität und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Ab- und Ausgrenzungen.
So schildert die Ich-Erzählerin in einem Dialog mit sich selbst, wie von ihrer Hautfarbe auf ihre Muttersprache oder ihre Herkunft geschlossen wird (vgl. S. 62, 75, 80) oder sie unter dem Deckmantel der Weltoffenheit rassistische Anfeindung erfährt (vgl. S.147). Deutlich wird dabei, dass bei Wenzels Ausführungen keineswegs die Kategorie race „die allesentscheidende ist. Vielmehr werden wiederholt intersektionale Sichtweisen eröffnet“ (Hermes 2022: 22) und damit gezeigt, wie sich verschiedene Differenzkategorien untereinander verstärken oder auch abschwächen können. So beschreibt die Figur in einem Beispiel, dass ihr in Berlin „ehrliche Freundlichkeit“ entgegengebracht wird, „[s]obald [sie] Deutsch spr[icht]“, „doch als [sie] ein leichtes Thüringisch zul[ässt]: Liebe“ (S. 75). Soziale Herkunft und race stehen hier in einem deutlichen Wechselverhältnis zueinander und schwächen sich gegenseitig ab (vgl. Schuch/Jonuz 2017: 746). Die Protagonistin nutzt das Wissen darüber, dass der Zusammenhalt unter ‚Ossis‘ vermeintlich „anners is‘ “ (S. 75) und kompensiert ihre race mit der sprachlichen Sichtbarmachung ihrer sozialen Herkunft aus Ostdeutschland (S. 75).
Auch im beruflichen Kontext erfährt die Protagonistin mehrfach codierte Ausgrenzung, als ein männlicher Arbeitskollege, „Mitte 50, klein, charismatisch und engagiert“ ihr sagt, „wie toll es für die Kinder sei, dass endlich auch mal jemand wie sie unterrichten würde“ (S. 147). Wenzels Figur reagiert auf diese mindestens zweifach diskriminierende Bemerkung mit Blick auf die Kategorien race und ‚Frau-Sein‘, indem sie dem – ironischerweise – Weltkundelehrer, Unterrichtsmaterial zu Amo, dem ersten deutschen Philosophen afrikanischer Herkunft, überreicht, ihn dabei bittet „nicht immer ausschließlich die Errungenschaften weißer Männer [bei seinen Schülerinnen] [zu] thematisier[en] […]“ (S. 147) und damit offen eine antirassistische sowie feministische Haltung einnimmt.[5]
Neben diesen Begegnungen beschäftigen die Protagonistin jedoch noch weitere, grundsätzlichere Fragen und Gedanken, die mitunter ihre schwierigen Identitätsverhandlungen betreffen und ihre innere Dissonanz unterstreichen. Sie fragt sich beispielsweise, „[w]arum […] nach dem Mauerfall in Westdeutschland nichts Anerkennung [fand], das der Osten bis dahin hervorgebracht hatte?“ (S. 163) oder stellt fest, dass „[d]ie Tatsache, dass Afroamerikaner an den Nachwehen der Sklaverei leiden, mittels deren sie zu maximal Anderen degradiert wurde, sich vielleicht nie auf[lösen] wird“ (S. 178).
Die kritischen Gedanken der Protagonistin beschränken sich dabei nicht nur auf die DDR oder den Kolonialismus, sondern hinterfragen auch eigene Denkmuster, insbesondere ihre Vergangenheit oder ihr Selbstbild betreffend:

"Die Idee einer anderen Sexualität und meine Angst davor lösen sich auf, sobald ich diese Sexualität erfahre. […]. Die Idee, dass meine Mutter eine Entität einer Familie ist, die stets völlig andere, fast gegenläufige Interessen verfolgt hat als ich, könnte selbstgerecht sein. Vielleicht ist sie nur aufzulösen, indem ich mich meiner Mutter wieder nähere, indem ich hinter die Wand schaue, die ich aus einseitig gefilterten Kindheitserinnerungen errichtet habe. Die Idee von meinem Bruder als einer anderen Person, die nur in geringem Maße anders war als ich, die mir im Grunde in fast allem glich, könnte ebenfalls selbstgerecht sein. Ich habe nicht mich verloren, ich habe nicht einen Teil von mir verloren, sondern eine andere Person. (S. 178f)"

Indem sie einstige Denkstrukturen und Theorien dekonstruiert, zwingt sich Wenzels Figur zur Aufarbeitung ihrer Vergangenheit und wird sich selbst zur härtesten Kritikerin. Trotz ihrer intersektionalen Identität ist auch die Protagonistin nicht vor heteronormativen Denkmechanismen gefeit, welche sie aber überprüft und so zu einer neuen Einsichtsfähigkeit gelangt.
Die Außenwahrnehmung innerhalb ihrer Selbstwahrnehmung spielt bei Wenzel zwar oft die alles entscheidende Rolle (TCT) („Was sind Bilder von uns, wenn sie uns in uns selbst einschließen?“ (S. 165)) und begünstigt den Entfremdungsprozess von sich und der Gesellschaft, mindert allerdings nicht die Fähigkeit zur Reflexion.Mittels radikaler Bewusstmachung und Konfrontation mit der eigenen Identität gelingt es der jungen Frau bei Wenzel, den Fehler im heteronormativen System und nicht in ihren Merkmalen zu begreifen.
Die Protagonistin kennt zwar keinen Ort, „an dem [sie] selbst die Norm ist“ (S. 82), verliert sich aber wegen dieser Erkenntnis nicht in Selbstmitleid, sondern wird von ihrer inneren Stimme daran erinnert, welche finanziellen und kulturellen Möglichkeiten ihr im Alltag dennoch offenstehen, wie die „[…] WOHNUNG IN NEUKÖLLN, KLEIDUNG, URLAUB, […], FRISEUR, THEATER, SPRACHKURSE, DIES DAS. WIE VIEL MEHR AN NORM BRAUCHST DU NOCH?“ (S. 82).
Mithin weiß die Protagonistin um ihre Privilegien, macht sich jedoch auch bewusst, dass ihre Generation dennoch „am Arsch“ (S. 47) sei. Es plagt sie ein unbestimmtes, paradoxes Gefühl des „zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren [-Seins]“ (S. 46) gepaart mit dem Wissen um die Ungerechtigkeit, dass anderen marginalisierten Gruppen weniger Privilegien zuteilwerden als ihr.
In Form von schon beschriebenen inneren Monologen, welche durch das Frage-Antwort-Schema mit ihrer inneren Stimme eher Dialogen entsprechen (vgl. S. 12ff.), führt Wenzels Figur Gespräche mit sich selbst, die einerseits eben jene inneren Konflikte widerspiegeln, andererseits jedoch zu einer Aufarbeitung dieser beitragen. Der zu lesende ‚Tonfall‘ der fragenden Stimme ist dabei mal bohrend, mal naiv, mal ironisch, mal frech, mal kritisch, teils auch verständnisvoll, dabei aber immer herausfordernd und gnadenlos konfrontativ. Durch die Auseinandersetzung gegenwärtiger und die Rekapitulation vergangener Ereignisse mithilfe der inneren Frage-Instanz, gelingt der Protagonistin ein sich-Annähern an ihre entfremdete Gefühlswelt. So stellt die innere Stimme ihr Fragen, die unerbittlich und schmerzhaft die Vergangenheit aufwühlen, sie mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontieren, ihre tiefsten Bedürfnisse zum Vorschein bringen und letztlich ihren Identitätsfindungsprozess unterstützen. Die innere Stimme bei Wenzel kann somit als Reflexionsinstanz gelesen werden, die der Protagonistin einen Spiegel vorhält und ihre Entwicklung vorantreibt. Innerhalb der Zwiegespräche stößt die Figur daher auch nicht selten an ihre persönlichen Grenzen, was sich zum einen in den wechselnden Tonfällen der Stimme, zum anderen jedoch auch an den Perspektivwechseln (Wechsel zwischen „ich“ und „du“) (vgl. S. 214ff., 271ff.) zeigt, die zu einer Unübersichtlichkeit und kurzzeitigen Irritation während des Leseprozesses führen, gleichermaßen aber auch die Orientierungslosigkeit in der Gefühlswelt der Protagonistin nachzeichnen.

b)    „Mein Herz ist ein Automat aus Blech“

Trotz der Affirmation und des reflektierten Umgangs mit Ausgrenzung wird auch Wenzels Protagonistin von einer körperlichen und mentalen Entfremdung geplagt, die ihren Identitätsprozess beeinflusst. Der Roman beginnt mit dem Satz „Mein Herz ist ein Automat aus Blech“ (S. 9) und verdeutlicht damit schon zu Anfang die Distanz der jungen Frau zu sich selbst. Die Ich-Erzählerin vergleicht ihr Herz demnach mit einer Maschine, welche lediglich der Leistungserfüllung dient, mechanisch gesteuert und so verdinglicht wird. Diesem Vergleich bedient sich die Erzählerin im Laufe des Romans mehrfach, wobei jeweils verschiedene Automatentypen gewählt werden, welche zu unterschiedlichen Deutungen des Vergleichs führen. Zuerst beschreibt die Erzählerin einen Snackautomaten an unbekannten Bahnhöfen (vgl. S. 9ff.), welcher später zu einem Kaugummiautomaten „an einer Hauswand irgendwo in Thüringen oder Berlin [wird]“ (S. 248).
Auch die Positionierung der Protagonistin zum Automaten verändert sich im Romanverlauf; so befindet sich die junge Frau mal in ihm, dann betrachtet sie sich und andere Menschen in der Reflektion der Scheibe, mal „kann [sie] hindurchschauen und alle seine Snacks sehen“ (S. 9) und zuletzt steht sie vor dem Kaugummiautomaten und formt eine Kaugummiblase, die sie mit „[f]arewell, my friend“ (S. 349) verabschiedet.
Die folgenden Ausführungen zur Automatenmetaphorik ebenso wie die unterschiedlichen Positionierungen der Protagonistin zeigen zum einen, welche Entfremdungsprozesse die junge Frau durchläuft und zum anderen, welche Sehnsüchte sie aufgrund dessen verspürt:
In einer der Eingangsszenen schildert die Ich-Erzählerin (noch nicht im Zwiegespräch mit ihrer inneren Stimme) noch eine illusionäre Vorstellung, welche verdeutlicht, dass sie sich nach einem geschützten Ort sehnt, der ihr Sicherheit und einen Perspektivwechsel bietet. Sie möchte sich im Automaten verstecken und

"mit einer knisternden Folie aus Zellophan zu[decken], […]. [Sie] hätte Ruhe und Zeit […], und […] wäre in Sicherheit […]. [Sie könnte] durch die Scheibe nach draußen schauen und die Menschen auf dem Bahnsteig beobachten […]. (S. 11)[6]"

Sie wünscht sich, von der beobachteten zur beobachtenden Person zu werden und die Möglichkeit zu bekommen, dass sich „[n]iemand [für sie] interessiert […], aber [sie sich] in Ruhe für alles interessieren [kann]“ (S. 75). Wenzels Figur leidet unter den stigmatisierenden Blicken der anderen Menschen und präferiert eine Anonymität, in welcher ihre Herkunft oder Hautfarbe keine Rolle spielen.
Dieser Wunsch ist allerdings mit einer großen Ambivalenz verknüpft, die sich die Protagonistin im Zwiegespräch mit der inneren Stimme vor Augen führt. So sagt sie zwar, es gebe nichts Befreienderes als anonym zu sein, ihre innere Stimme entgegnet jedoch, dass es nichts Einsameres als Anonymität gebe (vgl. S. 47). Der Wunsch nach Sicherheit und Anonymität steht daher gleichermaßen dem Wunsch nach Autonomie gegenüber. Wenzels Figur möchte „unbedingt in die so genannte weite Welt [hinaus]“ (S. 11), trotz der Angst, dort mit Exklusion und Diskriminierung konfrontiert zu werden und beweist damit einen konfrontativen Umgangsweise.
Als der Snackautomat im letzten Teil des Romans zu einem Kaugummiautomaten wird und ihr Herz nicht mehr ein großer Automat aus Blech ist, sondern „kleiner […], leichter“ (S. 248), wechselt die Position der Protagonistin. Während sie nun vor dem Automaten steht, findet sie

"Fettflecken mit klitzekleinen, eingravierten Schlangenlinien, hinterlassen von zigtausend unsauberen Fingerkuppen. […] Fingerabdrücke aller Kinder, die jemals an diesem Automaten etwas kaufen wollten. Kinder, die […] keinerlei Aufregung mehr verspüren, wenn sie etwas kaufen. Kinder, die jeden Tag irgendetwas kaufen, manchmal ohne es zu merken, […] und dabei zigtausend unsaubere Fingerkuppen [hinterlassen]. (S. 323) [7]"

Sie wird nicht mehr von der Vorstellung beherrscht, sich im Automaten zu verstecken, sondern „wieder[zu]kommen und jeden einzelnen Fingerabdruck mit [ihrem] eigenen zu überlagern“ (S. 323). So stehen die Fingerabdrücke in Schlangenlinien[8] als Metapher für jene äußeren Definierungen und Identitätszuschreibungen, denen die Figur schon ihr Leben lang ausgesetzt ist, von welchen sie sich jedoch „möglichst schnell“ (S. 323) emanzipieren möchte, indem sie sich nicht mehr von externen Zuschreibungen definieren lässt. Inwiefern ihr dies gelingt, bleibt offen, wobei die letzte Szene des Romans eine selbstbestimmte Protagonistin zeigt, die sich eben nicht mehr im Automaten befindet, sondern davorsteht, diesen eigenständig bedient (vgl. S. 349) und so aus der Fremd- in die Selbstbestimmung wächst.
Neben dem Automaten nimmt auch der Bahnhof eine Schlüsselrolle für die Protagonistin ein. Dieser wird im Laufe ihres Lebens zum Schauplatz traumatischer Erfahrungen und Ängste und gleichzeitig zum Sinnbild für ihre Desorientiertheit, Schuld und Ohnmacht (S. 2020: 10, 101, 268ff.). Allein und doch in Gesellschaft vieler weiterer Menschen, beschreibt die Ich-Erzählerin, wie sie immer wieder auf den nächsten Zug wartet, die Zeit nicht vergeht und sich das Gefühl des Stillstands einstellt. Während dieser Szenen werden Erinnerungen aus ihrer Kindheit rudimentär abgehandelt, die ebenfalls das Motiv des Stillstands erkennen lassen. Die Figur erinnert sich an eine Urlaubsreise in ihrer Kindheit und dass „die anderen Menschen am Gleis […] sich in Schaufensterpuppen verwandelt [haben]“, während ein Mann ihren Bruder und sie anschreit, sie würden „ins KZ gehören“ (S. 269). Keine:r der Passant:innen hilft dem Geschwisterpaar, bis ihre Mutter nach langen Sekunden dazukommt und dem Mann droht (vgl. S. 269). Sie denkt außerdem an die Schildkröte eines Freundes, die immer „an derselben Stelle“ (S. 101) schwamm, weil sie angebunden war; oder an den ehemaligen Besitzer, der mittlerweile an ALS[9] erkrankt ist (vgl. S. 105). Darüber hinaus nimmt ihr Bruder sich an einem Bahnhof das Leben, während die Protagonistin an einem der Snackautomaten steht und den Suizid so nicht verhindern kann (vgl. S. 110ff.). Seither wird sie von Schuldgefühlen und der Frage verfolgt, ob sie Samuels Tod wohl hätte abwenden können (vgl. S. 69). Der Automat wird so neben der Metapher für Entfremdungsverhandlungen auch zum traumatischen Erinnerungsmotiv für den Suizid ihres Bruders, während die Erinnerungen am Bahnhof sowohl als Motive für die Ohnmacht und den Stillstand als auch das körperliche Gefangensein der Protagonistin gelesen werden können.

c)    Das Erbe der Angst

Neben den soeben beschriebenen Exklusionserfahrungen und den damit einhergehenden Entfremdungsprozessen, lassen sich außerdem familiäre Ereignisse im Leben der Protagonistin ausmachen, die zur Identitätskrise beitragen und ihre Selbstentfremdung begünstigen. So erfährt der:die Leser:in aus fragmentarischen Erinnerungen der Protagonistin (sowohl in den Dialogen als auch den Monologen und Beschreibungen von Fotografien), dass ihre Kindheit – geprägt von familiärer Instabilität und Abgrenzung – viele identitätsstiftende Erinnerungen für die Figur aufwirft, die sie bis heute beschäftigen (vgl. S. 180, 214f.). Während Vater Bento kurz nach der Geburt der Zwillinge in seine Heimat Angola zurückkehrt und nur sporadisch Kontakt hält, ist die noch junge Mutter Susanne mit ihrem Leben unzufrieden und überfordert (vgl. S. 184). Mehrfach versucht sie, ihre Kinder „an andere Menschen zu übertragen“ (S. 174) und gibt ihnen so das Gefühl, nicht gewollt zu sein. Wenzels Figur fragt sich daher sogar, ob ihre Mutter sie überhaupt jemals ausreichend geliebt habe (vgl. S. 328) und offenbart so die tiefen Verletzungen innerhalb des Mutter-Kind-Verhältnisses. Im Zwiegespräch mit sich selbst gibt die Erzählerin zu, sich nach einer Mutter „durchschnittliche[r] Art“ (S. 252) ebenso wie nach „klare[n] Regeln, [nach] Verlässlichkeiten“ (S. 256) innerhalb ihrer Beziehung zu sehnen, da ihre gesamte Kindheit bereits von Instabilität geprägt war. Neben regelmäßigen optischen Veränderungen der Mutter (vgl. S. 240) äußerte sich die Instabilität in zahlreichen Fluchtversuchen aus der DDR, zum Teil mit, zum Teil ohne Kinder, weshalb die Protagonistin und ihr Bruder viel Zeit bei ihren Großeltern verbrachten.
Gegenwärtig pflegt Wenzels Figur einen liebevollen, wenn auch oberflächlichen Umgang mit der Großmutter Rita, welche sie zwar als liebevolle, doch vor allem als verunsicherte, ängstliche Frau beschreibt, die alles meidet, „was sie nicht kontrollieren kann und was sie nicht kennt, […]“ (S. 78) und die jedem kritischen Gespräch versucht aus dem Weg zu gehen. Ihr Leben lang fühlte sich Rita sozial aus- bzw. abgegrenzt, in ihrer Freiheit eingeschränkt und unter Beobachtung: erst aufgrund der unehelichen Schwangerschaft, kurze Zeit später aufgrund ihrer Scheidung, dann wegen des rebellischen Verhaltens ihrer Tochter Susanne gegen das sozialistische Ostregime in der DDR und zuletzt „als sie unverhofft und häufig zwei Kinder betreute, deren Hautfarbe gesellschaftlich als Makel gesehen wurde“ (S. 137). Heute tut sie alles dafür, um nicht aufzufallen und so angepasst wie nur möglich zu leben, „ihre Anständigkeit über Äußerlichkeiten unter Beweis oder wiederherzustellen“ (S. 137). Den traumatischen Erinnerungen der Vergangenheit kann sie dadurch jedoch auch als alte Frau nicht entkommen, vermeidet jede Kommunikation darüber, „alles soll versiegelt bleiben“ (S. 185) und verklärt die alte Heimat in der DDR (vgl. S. 175).
Ähnlich verhält es sich mit Mutter Susanne, welche den Sozialismus zwar weiterhin verachtet, aber wie ihre eigene Mutter als ängstlich und paranoid beschrieben wird (vgl. S. 273). Auch sie führt demnach ein Leben, welches primär von Angst, Verbitterung und Wut begleitet ist und weite Teile der eigenen, teils traumatischen Vergangenheit verdrängt oder aber verklärt (vgl. S. 174f.).
Um die Distanz aus der Kindheit zu durchbrechen, eine „Aussprache“ (S. 245) voranzutreiben und Antworten auf ungeklärte Fragen zu erhalten, die ihr bei der eigenen Identitätssuche hilfreich sein könnten, besucht die Protagonistin ihre Mutter in einer Waldhütte, in welcher sich diese aus unbekannten Gründen vor der Polizei versteckt. Fragmentarisch und anachronisch wird der Besuch von der Erzählerin geschildert, teils in dem gewohnten Frage-Antwort-Schema zwischen ihr und der inneren Stimme, teils in einer direkten Wiedergabe der Gespräche zwischen Mutter und Tochter in Kursivschrift (vgl. S. 244ff.). Die Gespräche thematisieren dabei meist Geschehnisse aus der Vergangenheit und wirken verzerrt, beinah absurd. Sie sind durchsetzt von Vorwürfen (vgl. S. 244ff.) und Fragen (vgl. S. 292), die allerdings weitestgehend unbeantwortet bleiben (vgl. S. 275) und dabei deutlich machen, wie fremd sich die beiden Frauen sind.
Sprachlosigkeit charakterisiert – ähnlich wie schon bei Großmutter Rita – daher das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter. Auf die Frage, wieso Susanne vor einigen Jahren verhaftet wurde, antwortet diese barsch: „Wie kommst du überhaupt auf die Idee, dass du ein Recht hast, irgendwas über meine Vergangenheit zu erfahren? Das war mein Leben, nicht deins“ (S. 245) und weist die Protagonistin damit erneut deutlich ab; ein Dé·jà-vu ihrer Kindheit. Die Distanz zwischen den beiden Frauen zeigt sich jedoch nicht nur in jener Sprachlosigkeit und Geheimhaltung, sondern auch in dem Gefühl, das die Mutter bei ihrer Tochter auslöst. In ihrer Gegenwart ist die Protagonistin verwirrt und glaubt, nicht zu wissen, wer sie selbst sei; auch den Charakter der Mutter könne sie nicht greifen, was wiederum zu der fehlenden Möglichkeit führe, sich „dazu in [ ]ein Verhältnis [zu] setzen“ (S. 255) und den eigentlichen Wunsch nach einer Annäherung an sich selbst konterkariert. Auch eine körperliche Nähe kann die Protagonistin nicht bei ihrer Mutter zulassen („ICH HABE VERSUCHT SIE ZU UMARMEN. [Es] hat sich richtig angefühlt, [es] hat nicht geklappt“ (S. 289)).
Ihr Wunsch, Mutter Susanne besser kennenzulernen, um so auch einen andere Zugang zu ihrer eigenen Identität zu erlangen, bleibt unerfüllt, was zusätzlich ein Kommentar der inneren Stimme zu alten Fotografien der Mutter verdeutlicht: „Es sind Bilder, die deine Mutter außerhalb von dir zeigen, so wie du sie niemals hättest oder wirst sehen können. Bilder, die dir deine Mutter [so] nahebringen […]“ (S. 274) wie es kein Gespräch jemals schaffen wird.
Die wechselnde narrative Umsetzung dieses Besuchs in Form von Dialogen mit der inneren Stimme sowie direkter Wiedergabe der Gespräche ebenso wie die Anachronie in der Erzählweise unterstützen jenes Gefühl der Verwirrung, welches sich bei der Protagonistin in der Gegenwart der Mutter einstellt. Die innere Unruhe überträgt sich durch die Inkonsistenz der Narration und die damit verbundenen visuellen Unterbrechungen im Schriftbild (Majuskeln, Kursivschrift) auch auf den:die Lesende und vereinfacht damit den Zugang zur komplexen Gefühlswelt der Protagonistin.
Die Distanz, die jenes Verhältnis zwischen Großmutter Rita und Mutter Susanne belastet (vgl. S. 288), findet sich somit auch zwischen Wenzels Figur und ihrer Mutter wieder und erschwert ihren Identitätsfindungsprozess sowie den Zugang zu ihren Ängsten und Traumata.
Gedanken an ihre Vergangenheit nehmen die Protagonistin dabei so sehr ein, dass sie auch Auswirkungen auf ihre Gegenwart und ihre zwischenmenschlichen Beziehung haben. So wirft ihre (Ex-)Freundin Kim ihr vor, „es gehe in [ihrem] Leben zu viel um [sie] und [ihre] Vergangenheit. Gegen die zwei habe sie keine Chance“ und macht deutlich, dass sie dadurch nur bedingt in der Lage sind „einander nah zu sein“ (S. 84).
So ist Wenzels Figur in ihren (traumatischen) Erinnerungen an die Vergangenheit gefangen, kann dieser nicht entfliehen und hat kurzzeitig sogar Suizidgedanken (vgl. S. 203). Sie leidet unter Einschlafproblemen in Folge einer Angststörung, die von beängstigenden Gedanken und Stimmen begleitet wird, weiß zugleich jedoch, „dass das [ihre Gedanken, Anmerkung d. Verf.] nicht real sein kann“ (S. 150). Zeitweise befindet sich die Erzählerin in einer Art Delirium, einem Bewusstseinszustand, der von Verwirrtheit und Desorientierung gekennzeichnet ist und Halluzinationen hervorruft (vgl. S. 150f.). In einem Monolog beschreibt die Erzählerin Verfolgungsszenarien in kurzen, teils elliptischen Sätzen („[…], bin alarmbereit, versuche, die Gesichter der anderen abzuwehren, schwitze, zu viele Blicke“ (S. 150)) und bildet so ihren von Angst getriebenen Bewusstseinsstrom auch formal ab. Die Angst schildert sie außerdem als allgegenwärtig, „ungreifbar“ (S.138) und dabei stets mit ihrer Vergangenheit verknüpft (vgl. S. 180).
Insbesondere der Suizid ihres Bruder und die damit einhergehenden Schuldgefühle können als tiefgreifende Traumata identifiziert werden. Sowohl in den Zwiegesprächen mit sich selbst als auch in den monologisch erzählten Erinnerungen wird ihr Bruder Samuel mehrfach aufgegriffen und ein Bezug zu seinem Selbstmord hergestellt (vgl. S. 86). So häufig der Bruder ihre Gedankenwelt bestimmt, so selten kommuniziert sie mit anderen Menschen über ihn oder ihre Gefühle. Selbst mit ihrer Großmutter meidet sie jene Gespräche und unterdrückt damit (vorerst) jegliche Verarbeitung in der Realität (vgl. S. 151).
So ist die Protagonistin darauf bedacht, ihre Gefühle weitestgehend vor Freunden und Familie zu verstecken (vgl. S. 151), weiß allerdings, dass „[d]ie Angst vor manchen Realitäten […] schlimmer sein [kann] als diese Realitäten selbst“ (S. 86) und beschließt daher auf Anraten ihres besten Freundes Burhan, eine Therapie zu beginnen, die neue, positive Glaubenssätze in ihr wachsen lässt, auch wenn die innere Stimme jene zynisch schmälert (vgl. S. 266).
Generationsübergreifend kann der Umgang mit der eigenen Vergangenheit und den Traumata daher als repressiv charakterisiert werden, wobei Wenzels Figur – anders als Mutter und Großmutter – versucht, ihre Ängste zu reflektieren, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten und so ihre Gegenwart selbstbestimmt zu gestalten. Insbesondere die ungeplante Schwangerschaft lässt sich in dem Zusammenhang als eine Art Schlüsselereignis für die Protagonistin lesen.
Zwar verändert diese nicht ihren grundsätzlichen Gemütszustand und „es wird nirgends suggeriert, dass die Panikattacken und Depressionsschübe der Erzählerin fortan der Vergangenheit angehören“ (Hermes 2020: 25), jedoch wird „DIE MÖGLICHKEIT EINES ALTERNATIVEN SELBSTBILDES […] ERFAHRBAR“ (S. 312) und damit

"eine neue, gesunde Angst […] – eine Angst, tiefer wärmer und zerreißender als jede Angst um [sie] selbst, [ihr] Leben, [ihre] identitären Befindlichkeiten es je sein könnten, so stark wie alles, was [sie] bisher kannt[e], mal 1000. (S. 337)"

Grundsätzlich lässt sich somit das Gefühl der Angst als weibliches Erbe deuten („Alle Männer in der Familie sind tot oder weit weg, die hinterbliebenen Frauen beschädigt, jede auf ihre Art“ (S. 46)), welches Wenzels Figur jedoch nicht schicksalsartig annimmt. Vielmehr entscheidet sie sich aktiv aus der Repression in die Aufarbeitung ihrer Ängste zu gehen und so die Erbfolge zu unterbrechen.

d)    1000 Serpentinen des unzuverlässigen Erzählens

Die vorangegangene Analyse hat bereits gezeigt, welche psychischen Probleme die Protagonistin bei Wenzel verfolgen, wie heterogen die narrative Umsetzung ist und wie diese die Ambivalenzen und Orientierungslosigkeit der Protagonistin widerspiegeln. Im Folgenden soll nun eine knappe narrative Untersuchung erfolgen, inwiefern der Text eine unzuverlässige Erzählweise aufweist und wie diese im Gesamtkontext gedeutet werden kann.
Inwiefern ein Erzähler als unzuverlässig eingestuft werden kann, hängt für Nünning (1999) von mehreren textuellen und außertextuellen Faktoren ab: Explizite Widersprüche im Text, autoreferentielle oder metanarrative Thematisierungen der eigenen (Un-)Glaubwürdigkeit sowie paratextuelle Hinweise können eine sogenannte ‚Signalwirkung‘ haben; jedoch hängt eine Berücksichtigung für die Interpretation der Texte von „individuellen, kulturellen und historischen Prädispositionen des Lesers ab“ (Volpp 2016: 59). Diese Prädispositionen, oder von Nünning „frames of references“ (1999: 27) genannt, beziehen sich zum einen auf die Erfahrungswirklichkeit des:der Lesenden, die beispielsweise Konzepte von psychologischer Normalität und moralische Vorstellungen beinhaltet, zum anderen allerdings auch auf die Kenntnisse zu den Gattungskonventionen des jeweiligen Textes (vgl. Volpp 2016: 60).
Dies wiederum bedeutet, dass das Zuschreiben von erzählerischer Unzuverlässigkeit stets eine individuelle Interpretationsstrategie des:der Lesenden ist und davon abhängt, wie sehr frames und Text divergieren. Damit lässt sich auch erklären, weshalb derselbe Text von dem einen Leser als unzuverlässig und von der anderen Leserin als zuverlässig beurteilt werden kann (vgl. Volpp 2016: 60f.).
Die anachronischen, fragmentarischen Erzählungen, primär in Form von monologischen Dialogen (Zwiegesprächen), ebenso wie die Sprunghaftigkeit und fehlende Kohärenz lassen sich nicht nur als Spiegel für den Gefühlszustand der Figur verstehen, sondern sind mitunter als ständige Unterbrechung der Protagonistin in der Kommunikation mit sich selbst zu begreifen. Während die homodiegetische Ich-Erzählerin versucht, Klarheit in ihre Denkstrukturen und ihr Gefühlsleben zu bringen, wird sie durch ihre innere Frage-Instanz an die immer wiederkehrenden Ängste und Erfahrungen erinnert und so in ihren Erzählungen gestört. Die ungeordnete Gedankenwelt der Protagonistin wird von ihrem Wunsch unterstrichen, „einen engen Helm aus Holz [zu tragen], um [ihre] Gedanken zusammenzuhalten“ (S. 191). Ein fokussierter Blick auf Geschehnisse ohne Ablenkungen durch Kommentare oder Fragen gelingt der Erzählerin nur selten. Begründen lässt sich die wirre Gedankenwelt durch die psychische Disparation der Protagonistin in Form einer Angststörung.
Die punktuelle und sprunghafte Erzählweise, welche an ein Theaterstück erinnert und laut Wenzel an ein solches angelegt ist, führt dazu, dass der Leser:innenschaft Informationen vorenthalten werden, die jedoch zum vollständigen Verständnis des Romans elementar sind. Damit zeichnet sich der Leseprozess in 1000 serpentinen angst durch eine ‚Detektivarbeit‘ aus, in welcher sich der:die Lesende eigenständig Antworten auf offenen Fragen zu geben versucht (S. 229, 231), um nicht – wie die Protagonistin selbst – orientierungslos im Geschehen zurückzubleiben. „Für einen Moment verliere ich die Orientierung“ (S. 10) kann somit nicht nur als frühe Gemütsbeschreibungen der Protagonistin, sondern auch als Vorankündigung für die Leseerfahrung verstanden werden, „die […] das Gros von Wenzels Leser:innen machen dürfte“ (Hermes 2022: 21).
Verstärkt wird diese Erfahrung durch zusammenhanglose Aneinanderreihungen von Erinnerungen an Kim, Burhan, ihren Bruder, ihre Mutter und ihre Großmutter (vgl. S. 199f., 203ff) sowie Gespräche mit den Figuren, welche Widersprüchlichkeiten oder Inkongruenzen aufweisen. So unterhält sich die Protagonistin in einem imaginären Gespräch mit ihrem bereits verstorbenen Bruder und befragt ihn nach den Gründen seines Suizids (vgl. S. 107ff.); sagt andererseits wenige Zeilen später zu ihm „es ist gut, dass ich aufgehört habe, nach dem warum zu fragen“ (S. 122).
Diese Gespräche werden kursiv, in direkter Rede und ohne Inquit-Formeln wiedergegeben und stellen so einen Bruch zum Schriftbild der inneren Monologe und anderen Beschreibungen dar. Die heterogene Narration wird ergänzt durch mehrfache Perspektiv- und Sprachenwechsel im 3. Teil des Romans (vgl. S. 213ff.). Die innere Stimme befragt die Protagonistin zunächst aus der Ich-Perspektive, wechselt kurze Zeit später zurück in die zweite Person (vgl. S. 214ff., 231ff.), um dann wieder aus der Ich-Perspektive Fragen zu stellen, welches sie mit einem „ICH LÖSE DICH AB“ (S. 271) ankündigt. Die Grenzen „Ich“ und „Du“ innerhalb der Protagonistin und ihrer fragenden Instanz verschwimmen so immer weiter und lassen die Leser:innenschaft irritiert zurück. Die schwierigen Identitätsfindungsprozesse der Figur finden somit eine narrative Umsetzung im Roman.
Die Erzählerin zweifelt außerdem explizit an der eigenen Glaubwürdigkeit und gibt autoreferentielle Verweise auf unzuverlässiges Erzählen. So kommentiert sie ihre eigenen Darstellungen mit: „DAS GLAUBE ICH KAUM. […]. IRGENDWAS STIMMT AN ALL DIESEN ERZÄHLUNGEN NICHT“, um in Anschluss zu hinterfragen „HALTE ICH INFORMATIONEN ZURÜCK?“ (S. 339). Die Figur weiß in ihren Angstzuständen teilweise noch nicht einmal, ob sie selbst ihre Gedanken bestimmt, oder ihre Gedanken von außen bestimmt werden („[…] denke ich oder werde ich gedacht“ (S. 151)) und offenbart damit erneut ihre konfusen Gedanken, die für die Leser:innenschaft abstrakt bleiben, da keine weitere Erklärung folgt.
1000 serpentinen angst bedient sich demnach unzuverlässiger Erzählinstanzen, welche inhaltlich und formal umgesetzt werden. Der Roman thematisiert die Erinnerungen und subjektiven Wahrnehmungen einer psychisch instabilen Figur, die aufgrund ihres Gesundheitszustandes und der emotionalen Involviertheit innerhalb der Erzählungen als unzuverlässig eingestuft werden kann. Diese inhaltliche Konstellation gepaart mit formalen Besonderheiten wie der Heterogenität in der Narration unterstützen nicht nur die These des Unzuverlässigen Erzählens, sondern auch die problembehafteten Identitätsprozesse, denen die Protagonistin ausgesetzt ist. Die (Selbst-)Zweifel und Ängste, welche die junge Frau in sich trägt, strahlen aufgrund der beschriebenen Erzählweise auf die Leser:innenschaft ab, verdeutlichen so den Entfremdungsprozess von sich selbst, aber tragen paradoxerweise auch zur Annäherung zwischen Rezipient:in und Protagonistin bei, die in der Kommunikation mit anderen Menschen in ihrem Leben weitestgehend scheitert.


 

Literaturverzeichnis

 

Primärliteratur

 

Wenzel, Olivia: 1000 serpentinen angst. Frankfurt am Main: S. Fischer 2020.

 

Sekundärliteratur

 

Ensslen, Klaus: Du Bois, William Edward Burghardt: The Souls of Black Folk. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Kindlers Literatur Lexikon. Stuttgart: J.B. Metzler 2020.
 

Hermes, Stefan: Jenseits des Schwarz-Weiß-Denkens. Intersektionale Perspektiven in aktuellen Romanen afrodeutscher Autorinnen (Jackie Thomae, Olivia Wenzel). In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 141: 2 (2022), S. 281-306/1-26.
 

Nünning, Ansgar: Unreliable, compared to what? Towards a Cognitive Theory of Unreliable Narration. Prologema and Hypothese. In: Grünzweig, Walter; Solbach, Andreas (Hg.): Grenzüberschreitungen. Narratologie im Kontext – Transcending Boundaries. Narratology in Context. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1999, S. 53-73.
 

Volpp, Lisa: Zwischen Irrtum und Lüge. Unzuverlässiges Erzählen in der deutschsprachigen Erinnerungsliteratur der 1990er Jahre. Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag 2016.

 

Internetquellen - Interviews
 

Schelander, Esther: „Ich habe mich näher an mich herangeschrieben“. Die Autorin Olivia Wenzel im Gespräch. In: nd-Interview, 09.10.2020.
 

Autorin Olivia Wenzel über Identität. „Coming-out als Nicht-Weiße“. In: Taz -Interview, 20.09.2020.


Olivia Wenzel: 1000 serpentinen angst - taz Talk. In: YouTube, taz Talk, 09.06.2020.

[ ↑ ]


[1] In der folgenden Analyse wird jene Stimme unter anderem auch als innere Stimme bezeichnet.

[2] Verstärkt wird dieses Gefühl, als sie merkt, dass sie „auf einmal Teil [der Gesellschaft ist]“ (S. 51) und anstelle von Exklusion Zugehörigkeit erfährt. In Amerika fällt es der Protagonistin leichter, sich integriert, „[z]ugehörig“ zu fühlen, obwohl „ihr doch vollends bewusst ist, wie desolat sich die sozioökonomische Situation großer Teile der ‚schwarzen‘ Bevölkerung ausnimmt“ (Hermes 2022: 23), wie die Autorin selbst im nd-Interview (10.06.2020) erzählt.

[3] Dieser Vergleich wird im Romanverlauf noch einige Male bedient; selbst die Schwangerschaft ihrer Großmutter vergleicht die Erzählerin mit einer kolonialistischen Besetzung französischer Truppen in Vietnam (S. 278).

[4] Ein im 21. Jahrhundert entwickeltes Konzept, von dem unklar ist, wer dieses zuerst geprägt hat (vgl. Welang 2018).

[5] Doch nicht immer war die Protagonistin in der Lage, konfrontativ für sich einzustehen. Als Jugendliche kompensierte sie ihre eigene Unsicherheit noch, indem sie „[…] die meisten rassistischen Witze [erzählte und ihre] Haut mit Schokolade, Dreck oder Scheiße gleichsetz[te]“ (S. 195), um die vermeintliche Schwäche zumindest als Pointe zu nutzen.

[6] Der verwendete Konjunktiv II unterstützt dabei die Unmöglichkeit ihres Wunsches nach Sicherheit.

[7] Kann auch als Kritik am kapitalistischen Konsumverhalten der Gesellschaft gelesen werden.

[8] Die Schlangenlinien können außerdem als Rückbezug zum Romantitel gelesen werden, womit eine Verknüpfung zwischen Identität und externen Zuschreibungen hergestellt wird.

[9] Amyotrophe Lateralsklerose ist eine neurologischer Erkrankung, bei der es zu einer fortschreitenden Lähmung der Muskulatur kommt (vgl. Deutsche Gesellschaft für Muskelerkrankte - https://www.dgm.org/muskelerkrankungen/amyotrophe-lateralsklerose-als).