Rezension zu Ben Atréu Flegel "Wenn die Farben verblassen" Blasse Schatten.

(von Josefine Pfütze)

Das mangelnde Selbstwertgefühl männlicher Protagonisten hat einige FinalistInnen des open mikes 2013 in ihren Texten beschäftigt. Auffällig ist, dass auch Ben Atréu Flegel versucht, sich diesem Thema durch die Innensicht eines Unbekannten zu nähern, der es offen ausspricht: „Sie schaute ihm ansatzlos durch die Augen, als könne sie sein Selbstbewusstsein von innen an die Schädelwand pinnen, als bräuchte sie nicht mehr als einen Blick dazu.“ [S. 47] Ebenso setzt der noch junge (Jg. 1989), aber schon weitgereiste Autor (er arbeitete für eine internationale NGO in Deutschland, Finnland, Dänemark, Indien und Italien) ganz auf das große Thema Liebe. Wenn die Farben verblassen schildert aus der Perspektive des namenlosen Ich-Erzählers die Erinnerung an einen ersten gemeinsamen Urlaubstag auf der Insel La Gomera (Spanien). Der Lektor Günther Opitz, der Flegels Text vorgeschlagen hat, konstatiert in seiner Vorrede: „Mir hat sehr gefallen, wie fein und aspektreich Ben Atréu Flegel die Beziehung eines Paares auslotet, wie sensibel er die fast hilflose Suche eines jungen Mannes in Worte fasst.“ Wo Opitz diese Feinheiten finden mag, ist schleierhaft, denn der Text erzählt nicht wirklich etwas über eine Beziehung zwischen zwei Menschen. Stattdessen schreien den Leser die konstruierten, schwarz-weiß gemalten Geschlechterbilder geradezu an: die oberflächliche, unberechenbare Frau vs. der tiefgründige, ernste Mann, der ihr nicht gewachsen ist.

Das Erinnern wird durch die Betrachtung eines Bildes ausgelöst: „Das Foto hatte ausnahmsweise sie gemacht, also war nur er darauf zu sehen.“ [S. 42] – eine Feststellung, die banaler nicht sein kann, ebenso wie das Frauenbild, das die Geschichte beherrscht. Frauen sind demzufolge ununterbrochen unbeschwert, lebenslustig, verspielt, aufmerksamkeitsheischend und unberechenbar. Nachdruck wird dieser Beschreibung durch die häufige Verknüpfung mehrerer Sätze, Para- sowie Hypotaxen, verliehen: „Sie waren noch keinen vollen Tag an diesem Ort gewesen, schon hatte sie ihn in ihre Spielstätte verwandelt, wie sie alles, was ihr begegnete, in eine verwandelte. Es gab kein Geländer, auf dem sie nicht balancieren, keinen Platz, auf dem sie nicht tanzen konnte. Hatte sie ihre Umgebung erst in sich aufgenommen und zum Sprechen gebracht, verloren die Dinge ihre unmittelbare Funktion und gewannen unzählige neue, zumindest empfand er es so, als sie zum ersten Mal zusammen unterwegs gewesen waren.“ [S. 43] Dies ist das einzige, was der Leser über ihr Wesen erfährt. Ansonsten beschreibt der Protagonist nur Äußerlichkeiten: Sie zieht sich mehrmals täglich um („Das war am Abend, als sie bereits das dritte Kleid dieses Tages trug.“ [S. 43]), trägt Kleidung, die dem Erzähler zu sexy ist („Ein leichtes, rückenfreies in Hellblau, eng um ihren Hintern geschnitten, das auch ihre Brüste nicht so gut versteckte, wie er es gerne gehabt hätte.“ [S. 43]), und leidet an Kaufsucht („Am Morgen hatte sie ein weißes Kleid getragen, eines mit schwarzen Pünktchen, am Vorabend in La Playa gekauft, in einem kleinen Laden, den sie für den Rest der Woche täglich besuchten.“ [S. 42]).

Auf diese Leichtigkeit kann sich der Protagonist nicht einlassen, fühlt in solchen Momenten immer nur eine „Verkrampfung“: „Was hatte sie sich dabei gedacht, ihn ohne Weiteres zurückzulassen, an ihrem ersten vollen Tag. Das ist Scheiße, dieses ganze Spiel ist Scheiße und er würde es ihr sagen, genau so, wenn er sie bald gefunden hätte.“ [S. 48] Ein Vorsatz, der möglicherweise nie in die Tat umgesetzt wird, denn es gelingt ihm nicht, sich ihr zu entziehen. Der Versuch, den er unternimmt, muss scheitern: Er, der Realist, möchte mit seiner Kamera, denn er ist Fotograf, die wirkliche Welt einfangen „[...], solange sich die Landschaft in seinem Inneren noch nicht nachgebildet hatte.“ [S. 44]: „Wenn es nicht gelang, den Lärm des Wassers im Bild sichtbar zu machen, würde etwas Entscheidendes fehlen.“ [S. 44-45] Bei seinem Streifzug sinniert er über die Landschaft, das Meer, gelangt sogar zum Thema Tod. Gedanken, die tiefgründig wirken sollen, wie „[h]ier sollte man sterben, irgendwo im schwarzen Sand, vom Wasser umspült gegen einen der Felsen geschleudert und dann vom Atlantik in sein Inneres gezogen. Nicht weil es ein guter Ort zum Sterben war, sondern weil der eigene Tod hier unbedeutend schien.“ [S. 44] wirken konstruiert. Am Ende kommt er sowieso immer wieder bei ihr an, gelingt es ihm nicht, sich auf sich zu konzentrieren. Er begibt sich auf die Suche und macht sich auf diese Weise selbst zum Spielball. Sogar von einer spanischen Kellnerin, die er zufällig trifft und die in seinen Augen das gleiche Klischee bedient („Sie hatte etwas Reizvolles an sich, wie sie ihre Beine rhythmisch voreinander schob, energisch, unantastbar in ihrer Ausführung. [...] Als sie aus der Terrassentür heraus in die Gasse trat, in die Erweiterung ihrer Räumlichkeit, ihrer täglichen Bühne, erweiterte sie die Eindringlichkeit ihrer Choreografie; [...]“ [S. 47]), lässt er sich gegen seinen eigentlichen Willen herumkommandieren: „Usually, I don't, begann er zögernd, I mean I only take pictures of. Ihr Blick stach etwas tiefer. Well, okay! Stand still. [...] Do another one! Full body!“ [S. 47]

Die einzige Gemeinsamkeit, die es bei diesem Paar zu geben scheint, ist die Abneigung gegen die Kamera. Ihr ist sie gänzlich zuwider, ihm, wenn er sich nicht hinter ihr verstecken kann – eine paradoxe Beziehung, wie die ihre: „Ich bin nicht dafür gemacht, mich auf Fotos zu betrachten […]. Hätte ich bloß dort ein Foto von mir gemacht, dachte er jetzt. Obwohl er es vermied, Fotos von sich zu machen, bereute er es im Nachhinein, nur so wenige zu besitzen.“ [S. 48] Einzig dieser Widerspruch bleibt nach dem Lesen zurück: Ein Protagonist, der mit verzerrtem Blick sich und seine Umwelt betrachtet. Die schwarz-weißen Rollenklischees heben sich gegenseitig auf, von Facettenreichtum kann keine Rede sein. Nicht einmal der Hinweis auf einen möglichen Todesfall macht Lust aufs Weiterlesen.

Bibliographische Angaben:
Ben Atréu Flegel: Wenn die Farben verblassen. In: 21. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2013. S. 42-49.

Open Mike Der Blog: "Open Mike das Video 3#" URL: http://openmikederblog.wordpress.com/2013/11/13/open-mike-2013-das-video-3/ (letzter Zugriff: 20.11.2013, 18:42)