Eine Rezension zu Verena Güntner "Es bringen" Süß-saurer Vogel Jugend: Zwischen out of space und mittendrin

Unaufgeregt erzählt Verena Güntner in Es bringen beim 20. open mike-Finale von den Tücken des Erwachsenwerdens und fast beiläufig von einer ungewöhnlichen Affäre

(von Thomas Stachelhaus)

Der sechzehnjährige „Sonenuntergangsasmathiker“ Luis fühlt sich zugleich als „Trainer“ und „Team“. Wenngleich er doch deutlich jünger ist als sein bester Freund Milan, hat er im Zuge einer Mutprobe eines der wohl schönsten Mädchen der Schule „gefickt“ und erntet somit nicht nur vom „Twen“ Milan, sondern zugleich auch von den weiteren Jungs Anerkennung und einen Erfolgslohn.

Die vorerst als typische Adoleszenzerzählung daherkommende Geschichte entfaltet rasch eine Vielschichtigkeit, die nicht nur die spezifischen Sorgen und Ängste einer Jugend offenbart, sondern unprätentiös von homoerotischen Anziehungskräften und einer außergewöhnlichen Affäre erzählt.

Darüber hinaus gewährt der Ich-Erzähler Luis einen tiefen Einblick in seine Psyche. Er „kotzt“ nicht nur „auf alles“, sondern hat Angst vor der Dunkelheit und leidet seit seiner Kindheit unter einer Akrophobie. Autotherapeutisch tritt er täglich auf den Balkon und trainiert gegen seine Angst an. Seine kindlich anmutende Zahnlücke steht einer hohen Reflexionsgabe gegenüber und markiert somit den Zeitraum zwischen Jugend und Erwachsensein: „Als würde ein Vogel in mir drin sitzen und mit seinen Flügeln schlagen, kurz vor dem Abflug sein oder so. Nur kommt er nie los, hängt da fest in meinem Körper und flattert wie wild rum.“ Dieser Zwischenzustand „tut ziemlich weh“, weshalb er immer wieder einen Ort jenseits des Weltlichen imaginiert. Seine Faszination für Sternenbilder, das All und die Mondlandung offenbaren den Wunsch nach Ausstieg aus den Zwängen der Erwartungen im Rahmen des Reifungsprozesses. Doch das ‚out of space’-Sein steht einer Existenz inmitten sich entwickelnder Jugendlicher gegenüber. Milan, der ebenso unter Zwängen leidet und Angst vor Hautkrebs hat, ist der direkteste Bezugspunkt. Die körperlichen Eskapaden, Milan und Luis praktizieren ein gegenseitiges Prügelritual, ähneln einem tierischem Balzverhalten: „‚Milan […], schade, dass du keine Titten hast. […] Ich würde dich prompt ficken’“, stellt Luis heraus und bekommt daraufhin eine rein. Das Verlangen nach körperlicher Begegnung zeigt sich auch, als Milan seinen besten Freund völlig aufgelöst zu einem Treffen zitiert und ihm sein persönliches Geheimnis beichten will. Die nervös glühenden Wangen Milans lösen bei Luis ein Bedürfnis des Berührens aus.

Die besondere Sprengkraft entfaltet sich jedoch erst im letzten Teil der durchaus dichten Erzählung – und dabei außerordentlich subtil und sukzessiv: Milan gesteht Luis ein sexuelles Verhältnis zu einer Frau namens Susanne. Gleichsam wie Luis ist auch dem Leser zu jenem Zeitpunkt unklar, wer die Frau eigentlich ist. Die Gründe einer nunmehr einsetzenden Prügelei, aus der Luis wieder einmal als Verlierer herausgeht, bleiben zunächst verborgen.

Des Rätsels Lösung liefert dann nicht Milan, sondern Luis selbst, und das vollkommen beiläufig. Seine zunächst namenlose Mutter, die in ihrer Vergangenheit wechselnde Männer hatte, entpuppt sich als Sexualpartnerin Milans: „Susanne, also Ma“ heißt es.

So sind es die außergewöhnlichen Beziehungsstrukturen, die Güntners Text aus der Masse hervorheben. Selbst das Verhältnis zwischen Luis und seiner Mutter wirkt auf den ersten Blick merkwürdig: Luis kann den „immer noch prallen Hintern [seiner Mutter, T.S.] sehen“, den sie ihm bewusst zu präsentieren weiß. Doch für ihn – und damit unterscheidet er sich von Milan – ist seine Mutter nicht unerreichbar, ein bisweilen ödipal inszenierter Konflikt, der aber eben nur anklingt und damit keineswegs aufgezwungen wird. Und so überrascht auch schlussendlich nicht, dass die Teenie- oder Männerfreundschaft zwischen Milan und Luis nicht an der sexuellen Beziehung zwischen Milan und seiner Mutter Susanne scheitert. Im Gegenteil: Luis, der nach der letzten Prügelei eine zeitlang auf dem Boden verweilte und nur langsam wieder zu sich kommt, rappelt sich auf und geht auf Milan zu: Eine erwachsene Geste, die sich jedweder jugendlicher Showdown-Szenen verwehrt. Leise und bedächtig hat den letzten Auftritt eine Sternschnuppe!

Eine durchaus gelungene Erzählung, die zwar immer haarscharf an Klischees und typisch abgedroschenen Coming-of-Age-Geschichten vorbeischrammt, aber vielleicht gerade dadurch überzeugt.

 

Bibliographische Angabe:
Verena Güntner: Es bringen. In: 20. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2012. S. 44-53.