Eine Rezension zu Sandra Gugić „Junge Frau, undatiert“ Die Frau ohne Gesicht

(von Florian Oonk)

Sandra Gugić lässt in ihrer Geschichte eine junge Frau zu Wort kommen, namenlos und ohne Gesicht. Wer diese Frau genau ist, was sie macht und wofür sie lebt, erfährt der Leser nicht. Auch ihr Aussehen, ihre Gedanken und Gefühle bleiben ihm weitestgehend verschlossen. Nur eins erfährt er sehr schnell: „Ich bleibe nie lange.“

Die Erzählerin scheint rastlos, zieht umher auf der Suche nach Individualität. Männer, Frauen und Vermieter kreuzen ihren Weg. Sie hangelt sich an Abbildern ihrer selbst durch die Handlung mit dem pathologischen Fluchttrieb als wichtigen Teil ihres Gepäcks. Eben jenes enthält auch ihre Kamera, eine Konstante ihrer Existenz. Die Kamera wird hier zum Mittel ihrer Selbstvergewisserung und steht damit für eine grundsätzliche Medienreflexion.

Doch was ergibt diese Handlung für uns als Leser?

Wir lesen hier die Geschichte einer Frau, die umher irrt. Die nach etwas sucht, es aber nicht findet. Oder ist es doch ganz anders?

Auffällig ist in Sandra Gugićs Erzählung die Namenlosigkeit der Hauptfigur und ihr ständiger Wechsel von Wohnorten. Sie als unsteten Charakter zu verschreien fiele hier leicht, doch fallen zentrale Aspekte an ihr auf: Die Selbstdarstellung über Medien, die Flucht vor tatsächlicher Präsenz und die Visualisierung des Anonymen.

Die Protagonistin nimmt uns dabei an die Hand, wer auch immer sie sein mag. Sie lässt uns teilhaben an einer, ihrer Welt, beschreibt sie haargenau. Wir blicken durch ihre Augen in ein Leben, das geprägt ist von Wandel und Wechsel. Sie scheint nicht greifbar, jedoch fesselt genau dieser Aspekt den Leser: Wer genau ist das eigentlich, der in einer derart präsenten Art und Weise fehlende Individualität verkörpert und ein Leben führt, das keinen Inhalt zu haben scheint?

Eine Konstante lässt sich für mich feststellen: Die Bildhaftigkeit der Erzählung, die erdrückend präzise wirkt, obwohl sie die Hauptfigur selbst nicht ins Bild setzt.

Die für mich zentrale Frage an einen Text: „Was passiert hier eigentlich mit dem Leser?“, beschäftigte mich bei Sandra Gugićs Text ungemein. Ich fühlte mich bei der Lektüre in die Handlung hineingezogen. Der schmale Grat zwischen Fantasie und Wirklichkeit, er scheint in der Erzählung in Serpentinen durch diese beiden Gebiete zu laufen. Spekulationen über die Protagonistin, über Verstümmelungen, Missbildungen, Probleme, Merkmale, all das tut sich während des Lesens auf. Die Geschichte fesselt den Leser und lässt ihn im gleichen Moment doch ratlos zurück: Wie gestaltet sich eigentlich Individualität? Man sieht sich als Teil der Geschichte und gleichzeitig als Beobachter, der keinen Zugang hat. Dieses Nichtfunktionieren einer Identitätsbildung ist es, was den Text auszeichnet. Sandra Gugićs detaillierter Stil fesselt den Leser und lässt ihn sich um die Frage drehen, was eigentlich mit der Protagonistin passiert, ohne ihm eine direkte Antwort zu liefern.

Und gerade wegen der vielen Unklarheiten, die der Text zurück lässt, sehe ich ihn zurecht als prämiert. Er beschäftigt den Leser über die Lektüre hinaus und lässt ihn mit seinen Vermutungen über die Figur zurück. Kritisch könnte man fehlende Innovation beim Sprachgebrauch einklagen. Doch meiner Meinung nach funktioniert der Text genau wegen seines lakonischen Stils und lässt so den verwirrenden Schlusssatz: „Was machen Sie eigentlich hier in der Stadt? Auf dem Balkon unter mir fängt ein Hund an zu bellen“ auf den Leser wirken.

Eine Rezension zu Sandra Gugić "Junge Frau, undatiert" Worum ging‘s da nochmal? – Auf spurlosen Sohlen zum Sieg

(von Maria Reger)

Als Sandra Gugić für ihre Erzählung Junge Frau, undatiert zur zweiten Preisträgerin beim diesjährigen open mike gekürt wird, müssen viele Zuschauer erst einmal angestrengt in ihrem Gedächtnis kramen. Nur den Allerwenigsten wird der Inhalt des Texts noch präsent gewesen sein.

Ein erstaunliches Phänomen, vergegenwärtigt man sich den Gegenstand der Geschichte. In kleinen Episoden erfahren wir von der namenlosen Ich-Erzählerin, wie sie sich immer nur wochenweise in die Wohnungen fremder Menschen einmietet, um dort in der Kulisse fremder Leben Fotos von sich zu schießen.

Wer ist diese Frau? Eine Frage, die weder die Erzählung noch die Protagonistin selbst beantworten können. Mit ihren fotografischen Selbstporträts scheint die Frau ihre Identität festzuhalten, fixieren zu wollen, diese jedoch existiert nicht. Es ist, als wäre sie „in eine Unschärfe gerutscht“, nur „als Schattenriss […] zu erkennen“. Die Frau stellt das Gemälde Die Dame mit dem Hermelin nach, positioniert sich nackt, nur mit dem Foto einer Unbekannten in einem Medaillon bekleidet, vor der Kamera, will sich in der Spiegelung eines Bildschirms aufnehmen. So entstehen keine Bilder, auf denen sie selbst zu sehen ist, sondern Abbilder von Abbildern. Die junge Frau bleibt – wie der Titel der Geschichte ankündigt – undatiert.

Sandra Gugić präsentiert also eine medienkritische Studie: Medienwirklichkeit zeigt uns nicht, wer wir sind, sie inszeniert. In Junge Frau, undatiert geht es um Wahrnehmung und ums Wahrgenommenwerden, um Bild und Abbild. Es geht um Identität, um das Fremde, um das Eigene und um Sinnsuche. Kolossale Themen – in einer prosaischen Umsetzung.

In einem unaufdringlichen, zur Konvention neigenden Stil wird kein handlungsbetontes narratologisches Feuerwerk gezündet, der Text spart einen Spannungsbogen, eine Entwicklung aus. Deshalb entgleitet die Geschichte unserer Erinnerung, genau wie die junge Frau in der Geschichte für sich selbst und ihre Mitmenschen verschwimmt.

In der nachträglichen Lektürereflexion ist dies bemerkenswert. Die Struktur und Erzählführung transportieren den Inhalt und verstärken ihn so über eine andere Dimension noch einmal. Die junge Frau scheitert sowohl in der Textwelt als auch in der Rezeption daran, an Kontur zu gewinnen und einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Dies sind sicherlich die Qualitäten, für die der Text ausgezeichnet wurde.

Allerdings muss man sich fragen, ob ein Text, der es nicht schafft, die Dauer seiner Lektüre zu übersteigen, als gelungen zu bezeichnen ist. Es kann nicht die Ambition von Literatur sein, den Leser unberührt zurückzulassen. Literatur muss Wirkung entfalten, Stimmung erzeugen, Denkanstöße geben und so reizvoll sein, dass man sich intensiver mit ihr auseinandersetzen will. Ja, Gugićs Text ist nicht schlecht, er reißt gewichtige Themen an, sein Prinzip ist spannend. Aber was nützt das alles, wenn er für die Leser verpufft?

 

Bibliographische Angabe:
Sandra Gugić: Junge Frau, undatiert. In: 20. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2012. S. 54-58.