Eine Rezension zu Katharina Hartwell "Göteborg" Über Versprechen und Gebrechen

(von Pia Eisenblätter)

Eine gemeinsame Reise nach Göteborg, das hatte ihr Bruder Simon ihr einst, nachdem er aus der Klinik kam und bevor er zum Studieren nach Hamburg ging, versprochen. Luise hütet dieses Versprechen, das zugleich ihr größtes Geheimnis ist, nun schon seit zwei Jahren und erwartet sehnsüchtig den Tag der Abfahrt. Schließlich findet sie Indizien, die für einen baldigen Aufbruch nach Göteborg sprechen. Einer dieser Hinweise ist die Rückkehr ihres Bruders aus Hamburg. Dass ihr Bruder das Versprechen längst vergessen hat und aufgrund psychischer Labilität heimkehrt, ist die bittere Realität, von der Luise nichts weiß, nichts wissen will und vielleicht auch nichts wissen kann.

Katharina Hartwell gibt in ihrem kurzen Text Einsichten in ein großes Familiendrama. Ein Familiendrama, das vom psychischen Zustand des Sohnes herrührt und durch Unverständnis, Verzweiflung und Schweigen zugespitzt wird. Dramatisiert wird die Geschichte zusätzlich dadurch, dass die Familienverhältnisse und Geschehnisse aus zwei verschiedenen Perspektiven geschildert werden: zum einen aus der kindlichen Perspektive Luises, zum anderen aus der Perspektive ihres Bruders. Hartwell gelingt es diese Perspektiven auf sprachlicher sowie auf inhaltlicher Ebene deutlich voneinander abzugrenzen. Luises Gedanken, die auf einer kindlichen Logik und Naivität beruhen, stehen im starken Kontrast zu den fremd- und selbstreflektierenden Gedanken ihres Bruders. Treffende Worte hat Hartwell auch für etwas gefunden, was sich nur schwer in Worte fassen lässt. So werden Simons Gefühle durch eine Katzengeschichte verbildlicht und mit dem Satz „Manchmal reißt die Welt auf, würde ich sagen" auf den Punkt gebracht. Geschickt setzt die junge Autorin Auslassungen, die den Leser zum Denken anregen. Insbesondere die Leerstelle am Textende, die den Rezipienten im Ungewissen lässt, ist mit Spannung geladen und verlangt ein Weiterdenken. Der oppositionelle Aufbau zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt findet an dieser Stelle einen Abschluss. Das für Kurzgeschichten typisch plötzliche Ende wirft den mitdenkenden Leser schließlich in eine Flut von Mitgefühl und Herzzerreißen. Hatte man doch bis zum Schluss einen irrationalen Rest an Hoffnung, dass dieses Kind nicht enttäuscht werden muss. Mit dem Text beteiligt sich Hartwell an dem aktuellen Diskurs über Depressionen. Dabei nähert sie sich dem Thema zum einen über zwei unterschiedliche Sichtweisen, eine davon die eines Kindes, und zum anderen über den Kontext Familie. Diese Herangehensweise scheint neuartig und regt zum Perspektivwechsel an.

Fazit: Eine beeindruckende und emotional aufgeladene Geschichte, die Fragen aufwirbelt und Augen öffnet. Nicht ohne Grund wurde der Text von der Jury des open mikes besonders hervorgehoben, auch wenn es am Ende nicht für eine Auszeichnung gereicht hat. Lesen und mitreißen lassen!

Bibliographische Angabe:

Katharina Hartwell: Göteborg. In: 18. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2010. S. 31-37.