Eine Rezension zu Alina Herbing "Der Schnauzbart bedeckt seine Lippen" Nicht nur die Spitze eines Eisbergs

(von Katharina Reich)

Alina Herbing erzählt mit Der Schnauzbart bedeckt seine Lippen die Ge­schichte eines Aufbruchs. Im Zentrum stehen die namenlose Ich-Erzählerin, ihr Freund Jan und der Windkraftmitarbeiter Klaus. In ruhigen, geradezu leisen Tönen beschreibt Herbing eine nur wenige Minuten dauernde Begegnung zwischen drei Menschen, die jedoch im Kopf der Er­zählerin einen Schalter umlegt. Sie verlässt ihren Freund.

Und das ist das Spannende an Herbings Erzählung. Denn, dass die Ich-Erzählerin tatsächlich ihren Freund verlässt, ist nur eine Lesart der Geschehnisse. Herbing tischt uns eine kurze Begegnung auf, auf deren Metaebene sie uns so viel mehr erzählt.

Jan, ein junger Landwirt, bestellt an einem diesigen Tag sein Feld. Mit auf dem Trecker sitzt seine Freundin, die Ich-Erzählerin. Während einer Zwangspause – Jan hat ein Kitz über­fahren und der Motor stoppt – tauschen die beiden Zärtlichkeiten aus. Doch ihre Zweisamkeit wird von zwei herannahenden Kleinbussen einer Windkraftfirma gestört. Jan geht zu einem aus dem Wagen steigenden Mitarbeiter und beginnt mit ihm ein  Streitgespräch über einen am Boden liegen­den toten Vogel, den Jan für ein Opfer der Windkraftanlage hält. Klaus, der Wintec-Mitarbeiter, schiebt den Tod des Adlers den Jägern zu. Die Ich-Erzählerin stößt zu den beiden Männern und be­merkt die Aggressivität Jans, der die Windräder als „Monster“ bezeichnet. Schon als er den Klein­bussen entgegengeht, ahnt sie, dass er „den ganzen Abend von nichts anderem reden“ wird. Als Jan und der Schnauzbart tragende Klaus sich dann gegenüber stehen – der eine als Vertreter der neuen Technologie und Sinnbild für Wandel, Bewegung und alles Neue, der andere als deren Kritiker und Vertreter für diejenigen, die keine Veränderungen, sondern alles beim Alten behalten wollen – scheint sich in der Ich-Erzählerin etwas in Bewegung zu setzen. Sie schlägt sich auf die Seite des Wintec-Mitarbeiters, dessen Stimme im Gegensatz zu Jans „ruhig“ ist, lächelt ihn an und verteidigt ihn gegenüber ihrem Freund: „Der kann doch nix dafür“. Sie will nicht stehen bleiben, gefangen sein in der Welt der Dorfbewohner, die Jan symboli­siert. Sie will weiter im Leben, nicht auf der Stelle treten. Klaus, dessen Namen sie bereits wie zur Probe für ein späteres gemeinsames Leben vor sich hin sagt, symbolisiert für sie diese Weiterent­wicklung. Er trägt bezeichnenderweise den Slogan der Windkraftfirma auf seinem Overall: „Wintec – wir drehen uns weiter“. Und so sitzt sie am Ende der Geschichte in Klaus’ Kleinbus und will von ihm mitgenommen werden, während Jan nicht nur aus ihrem Blickfeld, sondern vermutlich auch aus ihrem Leben verschwindet.

Diese Interpretation erlaubt der Raum zwischen den Zeilen, den die Autorin mit ihrer leisen, einfachen, vielleicht tatsächlich auch diesigen Sprache und der Atmosphäre, die sie schafft, den Le­serinnen eröffnet. Der auf den ersten Blick monoton wirkende Stil der Erzählung ist Herbings Kunstgriff, mit dem sie die Welt beschreibt, aus der die Ich-Erzählerin ausbrechen will. Und doch scheint es an wenigen Stellen zu viel des Guten zu sein. So wirkt der Text manchmal leicht hölzern, wenn sich zu viele Hauptsätze aneinander reihen.

Alina Herbing, Jahrgang 1984, scheint ihr Handwerk gelernt zu haben. Nach dem Ge­schichts- und Germanistikstudium ist sie seit 2009 am Institut für literarisches Schreiben und Lite­raturwissenschaft in Hildesheim. Mit Der Schnauzbart bedeckt seine Lippen nahm sie am 20. open mike teil, zog als eine von 21 jungen Autorinnen und Autoren ins Finale ein. Gewonnen hat Alina Herbing nicht. Doch ihre Erzählung berührt. Als ob die Worte ihres Textes noch lange nachhallen, wird der Text vom Publikum in einer Pause diskutiert. Von „langweilig“ bis „super gemacht“ ist al­les dabei – auch „Hab ich nicht verstanden.“ Und genau das spiegelt diese Kurzgeschichte wider. Sie ist wie ein Eisberg, von dem auf der Oberfläche nur die Spitze zu erkennen ist. Wer aber tief in die Geschichte abtaucht, erkennt, was darunter liegt.

 

Bibliographische Angabe:
Alina Herbing: Der Schnauzbart bedeckt seine Lippen. In: 20. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2012. S. 72-77.