Eine Rezension zu Margarita Iov "Mögliche Pfade" Der Hof, der Hund, die Vera, der Vater und das Ich. Oder: Die Schreibkrise.

(von Jacqueline Thör)

Wir erfahren wenig. Weder der Name noch das Geschlecht des Ich-Erzählers oder der Ich-Erzählerin werden in Margarita Iovs Erzählung Mögliche Pfade preisgegeben: Das Ich bleibt im Verborgenen. Ohnehin werden durch die vielen Leerstellen im Text immer wieder die Fragen nach dem ‚wer‘, dem ‚was‘ und dem ‚warum‘ aufgeworfen. Erzählt wird von einem Ich, das zur Kur auf einem abgelegenen Hof im „Ødland“ (S. 49) ist, begleitet von einer gewissen Vera und ihrem Hund. Doch wer ist Vera eigentlich – die Freundin oder die Betreuerin des Erzählers oder der Erzählerin? Was passierte vor dem Einsatz der Handlung? Warum empfahlen „sie“ (S. 49) ihm oder ihr diesen ländlichen Aufenthalt – wegen eines physischen oder eines psychischen Leidens? Und wer ist mit sie eigentlich gemeint?

Nach und nach kristallisiert sich heraus: Die Aufmerksamkeit von Leser und Leserin wird auf das ‚Ungeschriebene‘ gelenkt. Je weiter die Erzählung voranschreitet, desto seltsamer und enigmatischer scheinen Handlung und Figuren. Den Rezipienten beschleicht eine gewisse Unruhe, welche durch den lakonischen Sprachstil, die gewählten Worte – kein Adjektiv ist hier zu viel – und Schnörkellosigkeit nur noch verstärkt wird.

Allerdings wird nicht nur das ‚Ungeschriebene‘ zum Thema der Erzählung, sondern auch das ‚Geschriebene‘ – die Selektion der Gedanken, die Auslese, die nicht nur nach außen getragen, sondern auch festgehalten wird. „Ich schreibe: An Veras Mantel fehlt ein Knopf – den hat der Hund geholt“ (S. 49). Bereits in der ersten Be-schreibung des Ichs wird die Formulierung „Ich schreibe: […]“ aufgegriffen, eine Formulierung, die in der Erzählung zum Leitmotiv wird. Sie taucht in nahezu jedem Absatz wieder auf. Der/die Ich-ErzählerIn lässt weg, streicht durch, formuliert neu und geht anderen Pfaden nach: „Ich schreibe: Wir laufen gegen den Berg an. Am Gasthof vorbei. Der Wirt sieht uns nach. Oder anders: Wir laufen den Berg hoch, an dem Gasthof vorbei. Im Fenster steht der Wirt. Oder: […] Im Zimmer streiche ich alles durch, ich schreibe alles auf, was ich sehe, aber es ist immer noch mehr da. Und alles, was dasteht, steht für immer da. Was nicht da steht, verschwindet“ (S. 54).

Im Wesentlichen beschränkt sich die Handlung darauf, dass der oder die Ich-ErzählerIn und Vera auf Hirte, Frau, Kinder und Wirt treffen, aber keiner der Einheimischen sie grüßen möchte. Das Ich versucht während des Aufenthalts mehrmals seinen/ihren Vater anzurufen. Der geht aber nicht ans Telefon. Und nebenbei verhält sich Veras Hund tatsächlich wie ein Hund: Er knurrt und glotzt. Interessant ist, dass all diese Nebensächlichkeiten durch die Aufmerksamkeit, die ihnen durch das Aufschreiben des Ichs entgegen gebracht werden, auf einmal merkwürdig und mysteriös wirken. Ich schreibe: Diese unfreundlichen Einheimischen haben doch ein Geheimnis! Veras Hund ist von einem Dämon besessen! Der Vater kann gar nicht abheben, weil er tot ist! Ich streiche alles durch.

Mögliche Pfade ist eine exemplarische Geschichte von einem Ich, das, im Angesicht der schriftsprachlichen Macht, resigniert – es scheitert an dem „Versuch, eine Ordnung zu schaffen“ (S. 54). Ich schreibe: Intelligent gedacht, elegant verpackt. Ich streiche durch. Ich schreibe: Wo ist die Wendung am Ende des dritten Akts?

Bibliographische Angaben:
Margarita Iov: Mögliche Pfade. In: 23. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2015. S. 49-60.