Eine Rezension zu Jessica Lind "Mama" (Üb)Erleben einer Schwangerschaft

(von Katharina Bentler)

„Da tritt es von innen gegen ihren Bauch. Ada zieht die Luft durch die Nase ein und behält sie drinnen. Theo schaut zu ihr rüber. Er ist zur fein geeichten Alarmanlage ihrer Reaktionen geworden. Er schaut sie mit diesem Blick an. Dackelblick. Ada streckt ihren Bauch vor“ (S.  90).

Die Autorin Jessica Lind skizziert hier das Bild einer Paarbeziehung, welche mit den Hürden einer Schwangerschaft konfrontiert wird. Die werdende Mutter, Ada, rückt als Protagonistin in den Fokus der Geschichte und damit der zweifelhafte Versuch, den Ansprüchen einer (künftigen) Mutter gerecht zu werden.

Ihre Stimmungsschwankungen („Und Ada weiß es ja auch nicht, setzt sich aufs Sofa und fängt an zu weinen“, S. 91) verleiten sie zu einem Spaziergang im Wald, der klare Gedanken bringen soll. Sie erinnert sich an einen Traum, in dem es „unten aus ihr herausgeleuchtet“  (S. 91) hat. Aus diesen Gedanken durch unheimliche Geräusche herausgerissen durch, erblickt sie auf einer Lichtung ein kleines Mädchen, welches sie nach der erfolglosen Suche nach den Eltern mit zur Urlaubshütte zurücknimmt. Ihr Ehemann, Theo, begrüßt das fremde Kind, „kniet sich runter […] und nimmt es auf den Schoß“ (S. 93) wie ein eigenes. Das erste Wort des Kindes mit Blick auf Ada, „Mama“ (S. 93), läutet einen surrealen Bruch der Geschichte ein, der eine Verbindung erschafft zwischen dem Kleinkind und dem zuvor Ungeborenen. Es folgt die Beschreibung eines Alltages mit einem Kleinkind, die in Form eines Spazierganges der Protagonistin in dem Wald ihrer ersten Begegnung ihr offenes Ende findet: „Sie dreht sich nicht mehr um, sie verschwindet in der Dunkelheit des Waldes“ (S. 96).

Durch einfache, unpathetische Sprache kreiert der Text eine greifbare Atmosphäre, die das Erleben einer Schwangerschaft auf eine sehr subtile Art und Weise nahezu zu einem Überleben ausdehnt. So wird beinahe ein Gefühl von Mitleid für das mit einer Schwangerschaft offensichtlich einhergehende Leiden evoziert. Im ersten Moment wird der Leser/die Leserin, den Zeitsprung verpassend, verwirrt zurückgelassen. Wirklich ein Zeitsprung? Oder doch ein Traum? Ada erblickt das Kind auf der Lichtung und „blinzelt“ (S. 92), als würde sie in diesem Moment aus einem Traum erwachen. Zurück an der Blockhütte bemerkt sie jedoch: „[…] da ist kein Bauch, oder zumindest nicht mehr so viel Bauch“ (S. 93). „Es fühlt sich echt an“ (S. 94), stellt Ada fest und gibt dem Lesenden so einen Moment von Sicherheit. Offensichtlich doch ein Zeitsprung. Schnell gerät diese Überzeugung wieder ins Wanken, als sich die Mutter mit kaltem Wasser das Gesicht wäscht und infolgedessen das Gefühl empfindet, „sich zu spüren“ (S. 95). Die Figur scheint sich selbst der Frage nach Realität oder Traum nicht sicher zu sein und stellt sich damit an eine Seite mit dem Lesenden/der Lesenden.

Ein Prosatext, der es schafft, in seiner inhaltlichen und sprachlichen Schlichtheit immer wieder Momente der Überraschung zu erzeugen und den Leser für einen Augenblick alleine stehen zu lassen. Sofort wird man jedoch wieder an die Hand genommen und ist erneut mitten in dem Plot voller Realismus, bis der nächste Bruch folgt, die nächste Frage aufgeworfen wird. So wird der Leser/die Leserin am Ende, wie das Kind Luise, allein im Wald stehen gelassen und muss sich fragen, wie er dort wieder herausfindet. Aus dem Wald und aus der Geschichte, die einen gefesselten Leser zurücklässt.

Bibliographische Angaben:
Jessica Lind: Mama. In: 23. Open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2015. S. 90-96.