Tagungsprogramm

Körper und Leib in der qualitativen Bildungs- und BiographieforschungÜberblick zum Tagungsprogramm

Das detaillierte Programm zur Tagung finden Sie hier (Stand: 08.09.2025). 

Informationen zu den Keynotes

Mittwoch, 24.09.2025, 13.30-14.30 UhrAffizierung als doppeldeutiges Geschehen

Prof. Dr. Michaela Ott (Hochschule für Bildende Künste Hamburg)

„Diese verschiedenen epistemischen Grenzverunsicherungen des organischen Körpers lassen Affizierungen als dividuelle Prozesse an der Innen-Außen-Schnittstelle des Körpers und der natürlich-kulturellen Schnittstelle verstehen, deren Bestimmung auch Aufschluss über den historischen Wandel dieser Grenze gibt.“ (Ott 2010, S. 33).

Der Terminus „Affizierung“, den ich in meiner gleichnamigen Publikation von 2010 als „ästhetisch-epistemische Figur“ stark zu machen suchte, sollte das gängige Verständnis insbesondere der menschlichen Person erweitern. Denn anders als die üblichen philosophischen Zuschreibungen von Selbststand, Selbstbewußtssein oder Selbstgesetzgebung will „Affizierung“ die menschliche Person als eingebettet in (um)weltliche, bio-ökologische wie ästhetisch-symbolische Zusammenhänge verstehen, von denen sie vor- und unbewusst mitkonstituiert wird, bevor sie diese „gegenauszuführen“ und bewusst zu gestalten in der Lage ist.

Im lateinischen “Af-ficere” klingt an – anders als in der griechischen Vorgängerbezeichnung “pathos” -, dass das Dasein mit einem „Tun-Bei, einem Machen-Mit“, einem Angegangensein-Durch, einem (Mit)geteiltsein - in Verwiesenheit auf vielfältige Andere - beginnt. Affizierung kündet von einem Angerührt- und Eingenommenwerden bis hin zur möglichen Selbstauslieferung der Person qua Besessenheit oder Sucht. Im Begriff der Affektion wird eine gewisse Ununterscheidbarkeit von Passivem und Aktivem, von Hinnehmen und Mit-Tun und damit ein Kontinuum zwischen verschiedenen Stadien der Lebenskonstitution akzentuiert. 

Heute ist aus unserer Neigung zur Affizierung allerdings ein ernsthaftes Problem erwachsen. In den letzten Jahren ist die Erkenntnis durchgesickert, dass Affektion durch mediatisierte Bilder, Texte und Musiken uns zwar mit unbekannten Anderen zu transkulturellen Fangemeinden verbindet, aber auch in Dauerkontakt mit Katastrophen und Falschmeldungen versetzt, was nicht zuträglich für unsere Orientierung und unser Psychogeschehen ist. Dass wir uns von den handtellergroßen Weltverschaltungsgeräten fortgesetzt angehen und abrufen lassen, wird einerseits als Belebung des Alltags, andererseits als Dauerbelästigung und informationelle Gängelung problematisiert. Spricht die psychosoziale Expertise doch davon, dass Gefahren von Konzentrations- und Empathieverlust, von Vereinsamung bis hin zu Psycho-Defekten drohen.

Daher soll mit den Zuhörer:innen erfragt werden, wie der heute sogar behördlich erzwungene Umgang und das mithin unfreiwillige Zusammenwachsen mit den sensitiven Geräten von den Usern selbst bewertet, welche Ausweich- und Selbstaustricksungsmanöver gegen die Dauerverschaltung aufgeboten werden. Affizierungsunterbrechung erscheint aufgrund der Ununterscheidbarkeit von Stimulation und Abhängigkeit schwierig. Wie also ein psychisches Gleichgewicht gewinnen im unabwendbaren (Des)Affizierungsgeschehen?

Literaturempfehlung: Ott, Michaela (2010): Affizierung. Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur. München: edition text + kritik. Link

Donnerstag, 25.09.2025, 09.00-10.00 UhrKörperlichkeit der Selbstinszenierung: Autofiktionale Verkörperung in Kunst und Alltag

Prof. Dr. Matthias Warstat (Freie Universität Berlin)

Der Inszenierungsbegriff wird schon seit dem frühen 20. Jahrhundert herangezogen, um zu beschreiben, wie ein Selbst bzw. ein Subjekt nicht nur konstituiert, sondern dabei auch für andere dargestellt und zur Geltung gebracht wird. Solche Ideen theatraler Subjektbildung kursieren bis heute in anthropologischen, soziologischen und theaterbezogenen Diskursen – mit vielfältigen Überschneidungen. Wenn dabei von ‚Selbstinszenierung‘ die Rede ist, wird unterstrichen, dass das Subjekt, um für andere wahrnehmbar zu werden, in einen szenischen und fiktionalen Zusammenhang gerät, in dem insbesondere der Körper zum Einsatz kommt und in dem von daher auch verschiedene Formen der Verkörperung und des leiblichen Spürens von Bedeutung sind. Das Theater wurde immer wieder als Modell für solche elementaren Verkörperungen herangezogen, denn an der Figurenkonstituierung des dramatischen Theaters schienen Möglichkeiten und Probleme der Subjektbildung beispielhaft nachvollziehbar. Der Vortrag wird diesen Zusammenhängen von Theater, Selbstinszenierung und Körpererfahrung nachgehen und dabei insbesondere die Frage stellen, wie sich die Bedeutung des Körpers in der Selbsterfahrung in jüngerer Zeit verändert hat: Mehr als früher wird der Körper als ein politisches und zugleich problematisches Medium der Selbstinszenierung wahrgenommen, auf das sich verschiedenste Projektionen richten und das das entstehende Subjekt schon in seiner Konstituierung verschiedensten gesellschaftlichen Zuschreibungen aussetzt. In der Reflexion dieser Zusammenhänge soll der Vortrag eine Brücke schlagen zwischen autofiktionaler Performancekunst und alltäglicher Selbstinszenierung.

Literaturempfehlung: Dillger, Hansjörg/Warstat, Matthias (Hrsg.) (2021): Umkämpfte Vielfalt. Affektive Dynamiken institutioneller Diversifizierung. Frankfurt a.M./New York: Campus. Link

Warstat, Matthias (2018): Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft, Paderborn: Wilhelm Fink, Imprint Brill. Link

Donnerstag, 25.09.2025, 14.00-15.00 UhrKörper-Leibliches und Normierungen im biographischen Kontext. Begutachtung als er- und gelebte Realität von Balletttanzenden

Dr. Sabine Gabriel (Universität Halle-Wittenberg)

Es steht „in Abhängigkeit zu den aufgeschichteten Verhältnisstrukturen zum eigenen Körper, ob eine Irritationserfahrung Momente des Unbestimmbaren auf der Erfahrungsebene zulässt. Eine zur Routine gewordene Krisenhaftigkeit (...) scheint bei Irritationserfahrungen kaum mit Wandlungsprozessen (...) verbunden zu sein“ (Gabriel, 2021, S. 378).

Im Zentrum steht die Bedeutung von Körper und Leib im biographischen Kontext am Beispiel von Balletttänzer*innen. Um als Balletttänzer*in erfolgreich zu sein, ist eine über Jahre hinweg kontinuierliche Bewährung in überaus engmaschig genormten Mess- und Bewertungspraktiken nötig. Während sich mit Blick in das Datenmaterial in einigen Fällen zeigt, dass mit dem Abrufen von Leistung in Auswahlszenarien z.B. Kompetenz- und Anerkennungserleben verbunden ist, präsentieren andere Fälle trotz erfolgreichen Abschneidens irritierende oder abwertende Erfahrungsqualitäten. Der Beitrag möchte die Fragen fokussieren, inwieweit Begutachtungs- und Selektionserfahrungen in den biographischen Schilderungen der Tanzenden thematisch werden, und welche lebensgeschichtlichen Entstehungszusammenhänge und Strukturierungsdynamiken mit ihnen verbunden sind. Spezifischer ließe sich fragen: Wie geht etwa das Körperhaben als Besonderungs- oder Irritationsauslöser infolge von Körpernormierungen in das Leibsein über? Diskutiert werden soll die Bedeutung wechselseitiger Konstitution von Leiblichem, Materiellem und Mentalem bzw. Erleben und Deuten im Kontext biographischer Schilderungen über Ballett- bzw. Leistungssportkarrieren.

Literaturempfehlung: Gabriel, Sabine (2021): Körper in biografieanalytischer Perspektive. Zum Verhältnis von Körper, Biografie und ihrer Erforschbarkeit. Opladen: Barbara Budrich. Link

Freitag, 26.09.2025, 09.00-10.00 UhrKörper und Leib im Fokus von Bewegung, Spiel und Sport: Neue sportpädagogische Anfragen an Bewegungen im und durch den virtuellen Raum?

Jun.-Prof. Dr. David Wiesche (Universität Duisburg-Essen)

„Blickt man auf das Setting VR, spielt der Körper eine entscheidende Rolle. Er ist als Träger der Technik Werkzeug und Voraussetzung für die Rezeption. In einer Interaktion mit virtuellen Welten mischt er sich auch als „sozialer Operator“ (Meuser 2004, S. 205) bzw. „Agens“ (ebd., S. 209) in das Geschehen mit ein. Manchmal scheint er in der VR eine eher passive Rolle zu spielen, da er sich kaum bewegt und lediglich die Brille trägt. […] es aber nicht dabei bleibt. Neugierde und Experimentierlust erweitern das Bewegungs- und Erfahrungsfeld. Der aktive Umgang mit und in der VR verweist auf die Potentialität der Körperlichkeit der Akteur*innen und ihre konstitutive Fundierung für eigene „Aushandlungsprozesse und Wirklichkeitserzeugungen“ (Rode 2021, o. S.).“ (Wiesche, Przybylka & Klinge, 2023, S. 99).

Abstract: Durch moderne Technologien wie VR-Brillen kann ein Erfahrungsraum eröffnet werden, in dem die Gleichzeitigkeit von digitalen und physischen Positionierungen am eigenen Leib erlebbar werden. Dabei wird einerseits unumgänglich auf bekanntes Körperwissen zurückgegriffen, andererseits durch mögliche, durch den virtuellen Raum bedingte, irritierende Situationen mit Erfahrungen gebrochen, die Körper und Leib betreffen. Anhand einer sportpädagogischen Perspektive auf individuelle Praxen des Erlebens (bspw. von Nähe und Distanz), Bewegens (in mit und durch VR), Spiel und Sport (Explorationsbewegungen und Gamification) wird das Verhältnis von Körper und Leib im Umgang mit dem Virtuellem skizziert.

Literaturempfehlung: Wiesche, David/Klinge, Przybylka, Nicola (2023): Eintauchen, Abtauchen und Wiederauftauchen: Fruchtbare Bildungsmomente in Bewegung, Spiel und Sport in Virtuellen Realitäten. In: Balz, Eckart/Bindel, Tim (Hrsg.): Bildungszugänge im Sport. Bildung und Sport. Wiesbaden: Springer VS, S. 97-108. Link