Thema der Jahrestagung QBBF 2025
TagungsthemaKörper und Leib in der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung
Im Mittelpunkt der Jahrestagung steht die Bedeutung von Körper und Leib für Bildungs- und Biographisierungsprozesse. Mit dieser Fokussierung wird ein breiter begrifflicher Rahmen eröffnet, der die Thematisierung sowohl der Doppelaspektiertheit als auch isolierte Perspektivierungen von Körper und Leib ermöglicht. Daran anschließende Gegenstandsbestimmungen werden auf ihre Potenziale für empirisch fundierte Theoriebildungen und damit verbundene methodisch-methodologische Herausforderungen zur Diskussion gestellt.
Mit der Zentralstellung von Körper und Leib ist die Herausforderung bildungs- und biographietheoretischer Schärfungen von begrifflichen Referenzrahmen aufgerufen. Hier kann in der Erziehungswissenschaft etwa an zwei Linien angeschlossen werden, in denen aus differenten Perspektiven diskutiert wird, was mit Körper und Leib der Fall ist: einerseits liegen Kompendien zur Verhältnissetzung von Leibkörper und Bildung vor (etwa Casale/Rieger-Ladich/Thompson 2020; Brinkmann/Türstig/Weber-Spanknebel 2019; Bilstein/Brumlik 2013; Müller/Soeffner/Sonnenmoser 2011; Kubitza 2005); andererseits ist auch ein Diskurs zur Biographisierung des Leibkörpers etabliert (etwa Gabriel 2021; Hanses 2013; Abraham 2002; Alheit/Dausien/Fischer-Rosenthal/Keil 1999). In beiden Diskurslinien dominiert ein mehr oder weniger explizit entfalteter Körperbegriff, in dem Körper-Haben und Leib-Sein different relationiert werden (Plessner 1975; Merleau-Ponty 1974; zur aktuellen Rezeption etwa Bosch/Fischer/Gugutzer 2022; Fischer 2016; Kastl 2021; Schmitz 2019). Lässt sich von diesen konzeptionellen Ausgangspunkten eine Systematisierung der teils unvermittelten theoretischen Forschungsfelder vornehmen, um den Stellenwert von Körper und Leib für die qualitative Bildungs- und Biographieforschung stärker zu konturieren?
Mit Blick auf Begründungen von Gegenstandskonstruktionen zur Bedeutung von Körper und Leib für Bildungs- und Biographisierungsprozesse kann als weitere Herausforderung ausgewiesen werden, dass diese nicht von gesellschaftlichen (Trans-)Formationen und kulturellem Wandel entkoppelt werden können. So wird etwa auf die Freisetzung von Verkörperungsoptionen durch polymorphe Raum-Zeit-Gefüge und diverse Normative verwiesen und vor diesem Hintergrund die Hervorbringung von Körpern etwa als beschleunigte (Kwapis 2002), arretierte (Kasprowicz 2019), marginalisierte (Junge/Schmincke 2007), disziplinierte (Langer 2008), optimierte (Schreiber 2021) oder mediale (Ferrin 2013) thematisch. Welche biographie- und bildungsbezogenen Wirkmächtigkeiten ist solchen Verkörperungen immanent? Und wie sind diese zu Bewährungsdynamiken des Anthropozäns ins Verhältnis zu setzen, die sich etwa in politischen Entwicklungen, postfordistischen Fragmentierungen, glokalen und postdigitalen Vernetzungen sowie postkolonialen Machtrelationierungen konkretisieren?
Für die empirische Perspektivierung von Körper und Leib wird in der Bildungs- und Biographieforschung durchgängig auf methodisch-methodologische Herausforderungen aufgrund des Schweigens und also der Sprachlosigkeit des Leibkörpers verwiesen (etwa Abraham 2002). In der Bildungsforschung dominieren ethnographische Zugänge, um die körper- und leibbezogenen (Trans-)Formationen von Selbst-Fremd-Weltverhältnissen in performativ-ästhetischen Bezogenheiten zu erschließen (etwa Brinkmann 2019; Langer 2008; Alkemeyer/Boschert/Schmidt/Gebauer 2003). In der Biographieforschung dominieren eher Verfahren der Rekonstruktion von Erlebensstrukturen in Erinnerungs- und Erzählvorgängen, um insbesondere die körperbiographische Bedeutung von Entfremdung, Verletzung und Belastung des Leib-Seins zu erschließen (etwa Gabriel 2021; Schreiber 2021; Gugutzer 2002). Wie lassen sich vorliegende, methodologisch reflektierte Forschungsmethoden zur Erschließung der vorprädikativen Sphäre von Bildungs- und Biographisierungsprozessen aufeinander beziehen oder weiterentwickeln?
Literatur
Abraham, A. (2002): Der Körper im biographischen Kontext. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
Alheit, P./Dausien, B./Hanses, A./Keil, A. (Hg.) (1999): Biographie und Leib. Gießen: Psychosozial Verlag
Alkemeyer, T./Boschert, B./Schmidt, R./Gebauer, G. (Hg.) (2003): Aufs Spiel gesetzte Körper. Konstanz: UVK
Bilstein, J./Brumlik, M. (2013): Die Bildung des Körpers. Weinheim/Basel: Juventa
Bosch, A./Fischer, J./Gugutzer, R. (Hg.) (2022): Körper – Leib – Sozialität. Philosophische Anthropologie und Leibphänomenologie: Helmuth Plessner und Hermann Schmitz im Dialog. Wiesbaden: Springer VS
Brinkmann, M. (2019): Pädagogisches (Fremd-)Verstehen. Zur Theorie und Empirie einer interkorporalen Ausdruckshermeneutik. In: Brinkmann, M. (Hg.): Verkörperungen. Wiesbaden: Springer VS, S. 131-158
Brinkmann, M./Türstig, J./Weber-Spanknebel, M. (Hg.) (2019): Leib-Leiblichkeit-Embodiment. Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie der Leiblichkeit. Wiesbaden: Springer VS
Casale, R./Rieger-Ladich, M./Thompson, C. (Hg.) (2020): Verkörperte Bildung. Körper und Leib in geschichtlichen und gesellschaftlichen Transformationen. Weinheim/Basel: Juventa
Ferrin, N. (2013): Selbstkultur und mediale Körper. Bielefeld: transcript
Fischer, J. (2016): Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner. Weilerswist: Velbrück
Gabriel, S. (2021): Körper in biographieanalytischer Perspektive. Opladen: Barbara Budrich
Gugutzer, R. (2002): Leib, Körper und Identität. Wiesbaden: Springer VS
Hanses, A. (2013): Biographie und Leib – Fragmente zu einem wenig erörterten Beziehungsverhältnis. In: Herzberg, H./Seltrecht, A. (Hg.): Der soziale Körper. Opladen: Barbara Budrich, S. 39-54
Junge, T./Schmincke, I. (Hg.) (2007): Marginalisierte Körper. Beiträge zur Soziologie und Geschichte des anderen Körpers. Münster: Unrast Verlag
Kasprowicz, D. (2019): Der Körper auf Tauchstation. Zu einer Wissensgeschichte der Immersion. Baden-Baden: Nomos
Kastl, M. (2021): Generalität des Körpers. Maurice Merleau-Ponty und das Problem der Struktur in den Sozialwissenschaften. Weilerswist: Velbrück
Kubitza, T. (2005): Identität, Verkörperung, Bildung. Bielefeld: transcript
Kwapis, J. (2002): Der beschleunigte Körper. Die Thesen Paul Virilios im pädagogischen Kontext und ein Beitrag zur Diskussion der Zeit in der Pädagogik. Berlin: Weißensee Verlag
Langer, A. (2008): Disziplinieren und entspannen. Körper in der Schule. Bielefeld: transcript
Merleau-Ponty, M. (1974): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: De Gruyter
Müller, M.R./Soeffner, H.-G./Sonnenmoser, A. (2011): Die symbolische Formung der Person. Bielefeld: transcript
Plessner, H. (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin/New York: De Gruyter
Schmitz, H. (2019): System der Philosophie. Band II, 1: Der Leib. München: Verlag Karl Alber Freiburg
Schreiber, J. (2021): Körperoptimierung. Selbstverbesserung zwischen Steigerungsdruck und Leibgebundenheit. Wiesbaden: Springer VS