Pressemitteilung der Universität Duisburg-Essen

Professor Heberer zur Tibetfrage

Ein Konflikt mit vielen Ursachen

[31.03.2008] Welche Hintergründe haben die Unruhen in Tibet, und lässt sich dieser Konflikt überhaupt lösen? Mit diesen Fragen wird Prof Dr. Thomas Heberer, China-Experte an der Uni Duisburg-Essen (UDE) und gerade wissenschaftlich in Peking tätig, in diesen Tagen von allen Seiten konfrontiert. Heberer beschäftigt sich seit über drei Jahrzehnten politikwissenschaftlich mit der Tibet-Frage und zählt weltweit zu den wenigen Experten auf diesem Gebiet. Das macht ihn derzeit zu einem überaus gefragten Interviewpartner für deutsche wie ausländische TV-Sender und Tageszeitungen. „Aber auch viele Studierende mailen mich an, weil sie mehr wissen wollen über die Ursachen des Konflikt“, sagt Heberer. „Um die zu verstehen, muss man nicht nur sehr weit zurückblicken in die Geschichte, sondern auch die politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Probleme benennen, die der Vielnationalitätenstaat China hat.“

Im Januar dieses Jahres erst hatte Heberer in einem Aufsatz für die Zeitschrift für Chinesisches Recht* ausführlich die überaus komplexen Zusammenhänge beleuchtet: die Gründe für die rigide Handhabung von Religionsfragen im chinesischen Staat, den rechtlichen Status Tibets vor 1950, die chinesische Tibet-Politik nach der Okkupation, zu deren traurigem Höhepunkt der Aufstand von 1959 zählt mit 87.000 getöteten Tibetern, die unterschiedlichen Rechtsauffassungen Chinas und des Westens zur gewaltsamen Wiedereingliederung Tibets und der tibetische Nationalismus als Folge der engen Verflechtung von Religion und Ethnizität.

„Die Unruhen in Tibet zeigen, dass die politische Lage in China keineswegs stabil ist“, sagt Heberer. 55 nationalen Minderheiten, darunter die Tibeter mit 0,42 % Bevölkerungsanteil, stehen die „Han“ als Bevölkerungsmehrheit (91,6%) gegenüber. Es gibt traditionelle Vorurteile und latente Diskriminierung auf der einen, und ein Unterlegenheitsgefühl auf der anderen Seite. Auch genährt von den historischen Traumata vieler Ethnien, die vertrieben und ermordet wurden. Durch die Kulturrevolution hat sich das Beziehungsgefüge zwischen den Nationalitäten grundlegend gewandelt.

Zudem zählen die Minoritätsgebiete ? darunter Tibet

zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Regionen der Volksrepublik, wobei es den dort lebenden Han-Chinesen noch vergleichsweise gut geht. Die Perspektivlosigkeit lässt einerseits die Kriminalität steigen. Andererseits stärkt sie bei einigen Nicht-Han-Völkern das Bewusstsein auf die eigene Identität. „Wenn sich der innerchinesische Nationalitätenkonflikt heute in Tibet am schärfsten äußert, so liegt das daran, dass hier ein Volk mit hohem ethnischen Eigenbewusstsein in einem relativ geschlossenen Siedlungsgebiet lebt und sich kulturell wie historisch als nicht-chinesische Nation versteht“, erklärt Heberer. „Das ethnische Wir-Gefühl wurde durch die während der Kulturrevolution versuchte Zwangsassimilierung nicht beseitigt. Doch erst die Politik der Liberalisierung und Außenöffnung Chinas ermöglichte es, dass sich das Wir-Gefühl der Tibeter äußern konnte, es sich dann wegen der ausbleibenden erhofften Veränderungen politisierte und schließlich in eine nationale Bewegung umschlug“.

Zwar wollten die Tibeter 1950 nicht Teil Chinas werden. Eine Autonomie, die eine freie innere Entwicklung ermöglicht hätte, hätte sie mit einer chinesischen Oberhoheit durchaus versöhnen können, meint Heberer. „Die chinesische Politik hat vornehmlich durch die Radikalpolitik der Mao-Ära nicht nur das Vertrauen der Tibeter zerstört, sondern auch Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt Tibets.“ Und so sieht er in nächster Zeit auch keine wirkliche Lösung des Konflikts. Auch wenn China mit Blick auf die anstehende Olympiade

scharf kritisiert werde, „wird die internationale Staatengemeinschaft nicht von dem Prinzip abgehen, dass Tibet Teil Chinas ist. Auch weiterhin werden die westlichen Länder nur an den Menschenrechtsverletzungen in Tibet Kritik üben. Dafür gibt es zahlreiche Gründe ? und zwar nicht nur das Interesse am China-Handel“, so Heberer. „Für die Staatengemeinschaft ist der territoriale Status quo generell ein schützenswertes Prinzip. Wenn die westlichen Staaten, für die Tibet bislang ein Teil Chinas war, plötzlich für die tibetische Unabhängigkeit votierten, wäre dies ein außenpolitischer Affront gegen Peking, der dort zu innenpolitischer Verhärtung führen würde. Das würde den gegenwärtigen Umgestaltungsprozess in China mit seinen ökonomischen und politischen Verflechtungen schwächen.“

Eine Lostrennung Tibets ist seiner Meinung nach nur bei einem extremen Umbruch in China und mit äußerer Unterstützung denkbar. „Nur mit einer grundlegenden Demokratisierung des Landes wird es eine Änderung in der Nationalitätenpolitik Pekings geben“, glaubt Heberer. Dann aber könnte eine föderalistische Regelung geschaffen werden für Tibet, Taiwan und zahlreiche andere Regionen, in denen Nicht-Han-Völker leben. Solange könne der Schwerpunkt des westlichen Engagements für Tibet nur darauf liegen, die Menschenrechtsfrage zu stellen, einen Dialog Pekings mit dem Dalai Lama anzuregen und im Interesse der tibetischen Bevölkerung und zur Verbesserung der Lebensbedingungen dort

Entwicklungsmaßnahmen einzuleiten.

Weitere Informationen:
*Heberer, Thomas: „Peking erlässt die „Verwaltungsmethode zur Reinkarnation eines Lebenden Buddhas im tibetischen Buddhismus. Analyse vor dem allgemeinen Hintergrund der Tibet-Frage“, „Zeitschrift für Chinesisches Recht“, Heft 1/2008
Der Beitrag kann unter folgendem Link abgerufen werden:
www.uni-due.de/oapol/Aktuelles_mit.shtml">http://www.uni-due.de/oapol/Aktuelles_mit.shtml">www.uni-due.de/oapol/Aktuelles_mit.shtml

Ein weiterer ausführlicher Artikel Heberers zu den Nationalitätenproblemen in China erscheint voraussichtlich am 1. April im Handelsblatt.

Redaktion: Ulrike Bohnsack, Tel. 0203/379-2429

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