Systematische Theologie

Was ist Systematische Theologie (als Wissenschaft an der Universität)

1. Gegenstand: Texte der Geistes- und Ideengeschichte

2. Methode: Begriffsbestimmung und Begriffsgeschichte, Argumentationsanalyse, Ideenformationsanalyse, theologiegeschichtliche Hermeneutik, eigene Rekonstruktion von gedanklichen (philosophisch-theologischen) Grundlagenkonstrukten

3. Erkenntnisinteresse:
a) textbezogen: Gültigkeit theologischer Argumente, Kritik von unbegründeten Setzungen, Auflösung von unhinterfragten Voraussetzungen (Ideologiekritik), Begründung von Annahmen unter modernen Denkbedingungen
b) christentumsbezogen: Erheben von Geltungsansprüchen der christlichen Bekenntnisinhalte im Sinne einer allgemeingültigen Wahrheit, Heranziehen der Darstellungsfähigkeit der Inhalte für allgemeine Wahrheitsansprüche, Beurteilung von theologischen Transformationsbestrebungen
c) pluralitätsbezogen: Verstehen des Wahrheitsanspruchs von Religionen allgemein, Verbindung von Christentumstheorie und pluralistischer Religionstheologie, Suche nach dem Verhältnis von Religion und moderner Welt bzw. gegenwärtiger Gesellschaft (Funktion, Unterbrechung, Kritik, Widerstand etc.), Beurteilung des Prozesses von Säkularisierung und Stellung zu modernen Nebengängern von Religion (Atheismus, Synkretismus etc.)

4. vergleichbare und benachbarte Fächer in der Wissenschaft: Philosophie (Metaphysik, Erkenntnistheorie, Subjektivitäts- und Selbstbewusstseinstheorie, Anthropologie, Phänomenologie), Soziologie, Psychologie, Religionswissenschaft, philosophische Ethik, Kulturtheorie, Literaturwissenschaft, Rechtswissenschaft (Dogmatik), Pädagogik

Verschiedene Richtungen der Systematischen Theologie

1. Theologische Enzyklopädie: Klärt den Wissenschaftscharakter der Theologie insgesamt sowie den Zusammenhang der einzelnen Fächer der Theologie. Nimmt Bezug auf die Wissenschaftstheorie allgemein und insbesondere der Geisteswissenschaften (z.B. Hermeneutik und Geschichtsphilosophie), aber auch auf wissenschaftliche Grundlegungen der einzelnen anderen Fächer der Theologie (exegetische, kirchenhistorische, praktisch-theologische und religionspädagogische sowie religionswissenschaftliche Theologie). Theologische Texte zu diesem Themenbereich gibt es seit der Ausdifferenzierung der Fächer in der Aufklärungszeit, allerdings sind theologiegeschichtlich gewisse Konjunkturen der Fragestellung feststellbar.

2. Religionsphilosophie: Klärt das ‚Wesen‘ von Religion im Ausgang von anthropologischen Theorien (zum Verstand und zur Vernunft, zum Wesen des Geistes bzw. des Bewusstseins, auch zum Wesen des Menschen allgemein oder gegenwärtig zum Gefühl). Texte dazu existieren seit der Ablösung des Gegensatzes von natürlicher Gotteserkenntnis (durch den Verstand) und Offenbarungserkenntnis durch die beginnende Aufklärungsphilosophie. Heute sind die Referenzwissenschaften der religionsphilosophischen Fragestellung nicht nur die klassische Religionsphilosophie (Kant und der Deutsche Idealismus) und Religionskritik (Feuerbach, Nietzsche, Marx, Freud) oder die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts (Gehlen, Plessner), sondern auch die angelsächsische Religionsphilosophie des 20. Jahrhunderts sowie Religionspsychologie und Religionssoziologie.

3. Theologie- und/oder Dogmengeschichte: Verwaltet die Geschichte des systematischen theologischen Denkens im Christentum sowie seine philosophiegeschichtlichen Kontexte. Theologiegeschichtliche Rückgriffe sind in allen theologischen Arbeitsfeldern eine Methode des systematisch-theologischen Denkens. Engere begriffsanalytische und argumentationslogische Vorgehensweisen stehen hier weiten kulturgeschichtlichen Frageweisen gegenüber. Der Textbestand umfasst praktisch alles, was seit den Vorsokratikern über das Verhältnis von Gott und Welt, Gott und Mensch bzw. Gott und Wissen gedacht worden ist, im engeren Sinn dann besonders die Entwicklung der christlichen Dogmen in der Spätantike, die Entwicklung der scholastischen Theologie im Mittelalter, die Theologie der Reformatoren und der lutherischen und reformierten Orthodoxie, sowie die neue Theologie der Aufklärungszeit und den sich daraus entwickelnden Neuprotestantismus. Protestantische Theologiegeschichte kann darüber hinaus heute in Deutschland nicht mehr ohne engen Bezug zur katholischen Theologie getrieben werden.

4. Grundlegung der Dogmatik bzw. Fundamentaltheologie: Überführt die Ergebnisse der Religionsphilosophie, also den Allgemeinbegriff der Religion, in die Bestimmtheit des christlichen Glaubensverständnisses und legt damit den Grund für die Möglichkeit des Glaubens, sich in gegenständlichen bildhaften Vorstellungen selbst zu explizieren. Dadurch sind Rückgriffe auf Subjektivitätstheorien und reflexionslogische Fragestellung aus der Philosophie unumgänglich. Zum Teil werden im Bereich der Fundamentaltheologie auch heute noch alte metaphysische oder offenbarungstheologische Zugänge vom Gottesgedanken aus vorgeschlagen. Im evangelischen Kontext der Prolegomena der Dogmatik (Einleitungsfragen) werden damit auch Probleme des Theologiebegriffs, also der Wissenschaftlichkeit der Dogmatik, aufgenommen. Eine Ausdifferenzierung der Problemstellung ergibt sich erst im Kontext der eigenständigen Religionsphilosophie (s.o.) und der Frage nach dem Wesen des Christentums im Kontext anderer positiver (d.h. geschichtlich vorfindlicher) Religionen (so besonders seit Schleiermachers Glaubenslehre, deren Einleitung diese Frage prominent erörtert).

5. Materiale Dogmatik: Beschreibt die Entwicklung einzelner Lehrstücke, z.B. Christologie, Trinitätslehre, Sündenlehre, Schöpfungslehre etc. durch die Jahrhunderte (Rückgriff auf Theologiegeschichte, s.o.) und versucht am Ende für die Gegenwart eine (Neu)Begründung ihrer Geltung oder eine Neuformulierung bzw. Transformation ihrer bisherigen Gestalt. Diese Form der systematisch-theologischen Wissenschaft entspricht am ehesten dem üblichen Bild von ‚Dogmatik‘, nach dem diese sagt, was ein Christ glauben soll. Angesichts des Dauerprozesses an Produktion entsprechender Texte ist ein vollständiger Überblick heute nur noch für Spezialisten für einzelne Fragen möglich. Es besteht hinsichtlich Begründung und Durchführung immer noch ein gewisser Gegensatz von katholischer und protestantischer Dogmatik (bei einigen Lehrstücken - Ekklesiologie und Ämterlehre, Sakramentenlehre - mehr, bei anderen weniger), wenn auch eine enge Zusammenarbeit meistens bereits vorausgesetzt ist.

6. Grundlegung der Ethik: Dieses Arbeitsfeld dient der Begründung von ethischer Argumentation und der Beurteilung ihrer Allgemeingültigkeit, ebenso der Geltung von bestimmten Normen und ihrem jeweiligen allgemeinen Geltungsanspruch. Theologie- und philosophiehistorisch wird von verschiedenen Varianten ethischer Begründung (Tugend-, Pflichten-, Güterethik, Verantwortungsethik, Sollensethik) ausgegangen und es werden verschiedene Grundlegungen für ethische Entscheidungsfindung und Kommunikation (Gewissensethik, Kommunitarismus, Diskursethik) ausprobiert. Ein wichtiges Spezialproblem ist die Frage nach der Möglichkeit religiöser (bzw. christlicher) Ethik überhaupt, in diesem Kontext sind auch Bezüge zur Fundamentaltheologie gegeben, nämlich hinsichtlich der Frage des Verhältnisses von Religion und Ethik überhaupt. Argumentiert wird in diesem Feld – trotz moderner Versuche einer spezifisch theologischen Begründung – durchgängig im Bezug zu(r Geschichte der) philosophischen Ethikgrundlegungen und ihren verschiedenen Ausformungen, z.B. in der angelsächsischen Philosophie.

7. Materiale Ethik: Sucht nach Entscheidungsbegründungen in gegenwärtigen Debatten, z.B. über Gentechnik, Tierversuche, Präimplantationsmedizin, Organspenden, Suizidunterstützung oder über Probleme im gesellschaftlichen Bereich (Gerechtigkeit, Entwicklung, Frieden etc.). Hier wird im engen Kontext mit der Rechtswissenschaft, der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Philosophie gearbeitet. Neben der Suche nach inhaltlichen Entscheidungen selbst geht es dabei auch immer um die Bedingungen des ethischen Diskurses in einer pluralen modernen Gesellschaft, für deren Ermöglichung die Theologie heute eintritt.

8. Religion und Entwicklung der westlichen bzw. Welt-Gesellschaft (Modernisierungstheorien, evolutionäre Kulturtheorie):  Gefragt ist hier nach der Funktion und dem Schicksal der Religion in der menschlichen Geschichte. Im Kontext des Kampfs der Kulturen (Huntington), der terroristischen Bedrohungen, der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt, Religion und Demokratie, Religion und Pluralisierung dringt dieses Problem immer mehr in der systematisch-theologischen Theoriebildung vor. Kulturgeschichtliche Fragen des Verhältnisses von Poly- und Monotheismus, der soziologischen Funktion von Religion für die Entstehung der historischen Stadtgesellschaften, der Funktion der Religion für die Entstehung der modernen Welt (Industrialisierung, Bürokratisierung, Demokratisierung etc.), das Verhältnis von Säkularisierung und (Re)Sakralisierung in der Gegenwart, aber auch hinsichtlich der grundsätzlichen Möglichkeiten von Religionen, sich zu verändern, also z.B. im Kontext der christlichen Religion des Prozesses von Individualisierung, Entinstitutionalisierung, Pluralisierung und Ausdifferenzierung werden – im engen Bezug zu Religionswissenschaft und Kulturwissenschaft, Religionssoziologie und Kultursoziologie – gestellt.

9. Kunst- und Kulturtheologie, Literaturtheologie: Dieses neue Gebiet der Theologie hat sich erst im 20. Jahrhundert entwickelt. Es setzt voraus, dass sich der christliche Rahmen um die Kultur mit dem Übergang zur Moderne (um 1900) zunehmend aufgelöst hat. Seitdem können religiöse und christliche Gehalte in der Kunst (Musik, Malerei, Skulptur, Architektur, Literatur, Lyrik, aber auch zunehmend Comic, Film, Musikvideos und Videospiele) in einer neuen, autonomen, kunstbezogenen, nicht-religiösen Form vorkommen. Die darauf bezogene Theologie (Musik-, Bild-, Literaturtheologie etc.) untersucht einerseits die theoretischen Versuche, das Verhältnis von Religion und Kultur bzw. von Religion und Kunst im 20. Jahrhundert zu bestimmen, andererseits die inhaltlichen Aufnahmen von Christentum und Religion und ihre Funktion in der Kunst. Darüber hinaus verwaltet diese Theologie (theoretisch) den kirchlichen Umgang mit der ehemals christlichen Kunst, wie sie sich immer noch in der Kirchenmusik, aber auch in kirchlichen Museen erhalten hat und möglicherweise als ‚christliche Kunst’ weitergepflegt wird, oder wie sie im Umgang mit der Literatur den alten Anspruch einer ‚christlichen Literatur’ (z.B. in kirchlichen Buchpreisverleihungen) weiterführt.  Hier kann nur im engen Bezug zu den anderen inhaltlichen Wissenschaften (Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft bzw. Medien- und Kulturwissenschaften) gearbeitet werden.

10. Neben diesen verschiedenen Arbeitsbereichen der Systematischen Theologie entwickeln sich immer wieder eigenständige theologische Fragestellungen, die in eigenen Diskursen weitergeführt oder in Form von Professurzuschreibungen institutionalisiert werden können. Dies kann z.T., muss aber nicht notwendig oder allein im Fach der Systematischen Theologie passieren. Zum Beispiel: Die feministische Theologie, die interkulturelle Theologie (christliche Theologie im Kontext anderer Kulturen, also Südamerika, Afrika und Asien), die interreligiöse Theologie bzw. der theologische Dialog mit den anderen (Welt-)Religionen bzw. Theologie der Religionen.

Die Ausrichtung der Systematischen Theologie in Essen

Es gibt heute verschiedene Auffassungen, wie Systematische Theologie als Wissenschaft betrieben werden muß:

  • als normative Bibelexegese
  • als Metaphysik und/oder Ontologie
  • als philosophische Absolutheitstheorie im Kontext einer Philosophie des Geistes
  • als selbstbewußtseinsphilosophische Letztbegründungstheorie
  • als glaubensbezogene Offenbarungs- oder Wort-Gottes-Theologie
  • als zusammenhängende Darstellung christlich-religiöser Erfahrung
  • als Strukturtheorie christlicher Praxis etc.

Systematische Theologie wird in Essen gelehrt als rekonstruktive Kulturtheorie der christlichen Glaubenskommunikation.
Das heißt, die Systematische Theologie beschreibt

  • a) die Entwicklung (theologie- und dogmengeschichtlich) und
  • b) das innere Funktionieren (geltungstheoretisch-religionsphilosophisch und materialdogmatisch)

    derjenigen christlich-kirchlichen Kommunikation über den Glauben, durch deren Ansprache sowohl Religion überhaupt als auch der Glaube der einzelnen Christen in der Gesellschaft erhalten wird und immer neu entsteht.

In diesem Sinne bezieht sich die Systematische Theologie immer nur auf die tatsächlich existente Form des (evangelischen) Christentums, wie es sich in der Gegenwart auf dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung gebildet hat. Sie (SyTh) funktioniert damit in wissenschaftlicher Hinsicht wie eine Literaturwissenschaft der christlich(-protestantisch)en Sprache. Damit hat sie aber auch zugleich die Aufgabe, die Besonderheit dieser Sprache gegenüber anderen Sprachen menschlicher Selbstdeutung (z.B. Literatur, Kunst, Geselligkeit, Ökonomie, Wissenschaft usw.) zu bestimmen, also das Funktionieren religiöser Kommunikation als Herstellung von religiöser Sprache überhaupt zu beschreiben.

Diese Auffassung hat entscheidende Vorteile, die an einer lehramtsbezogenen Ausbildungsstätte wichtig sind:

  • Es kann prinzipiell nicht zu Kollisionen mit naturwissenschaftlichem Wissen (z.B. Kosmologie, Evolutionslehre) oder anthropologischen Wissenschaften (z.B. Psychologie, Soziologie) kommen.
  • Der Rahmen für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem christlichen Glauben ist die Kulturgeschichte. Hier kommt die Theologie als Wissenschaft mit anderen Wissenschaften zusammen, die in der geisteswissenschaftlichen Lehrerausbildung tätig sind.
  • Die Lage des Christentums in einer radikal-pluralistischen Gesellschaft (und entsprechender Schulsituation) kann ohne Überbietungs- oder Missionisierungsansprüche unbefangen wahr- und ernstgenommen werden (vergleichende Religionsgeschichte und -wissenschaft, säkulare Modernetheorien). 
  • Schulunterricht bezieht sich so nicht direkt auf den Glauben, stellt keine unerfüllbaren Authentizitätsansprüche und Missionierungsziele auf, sondern bezieht sich auf die Einübung und Reflexion von Tradition und Wirkungsmöglichkeiten evangelischer Glaubenssprache.