Willy

Willy – Gestern und heute und morgen!?

Eine Analyse von Weckers zehn Willy-Versionen: Willy I (EV: Genug ist nicht genug. Polydor 1977), Willy II (Die Ballade von Antonio Amadeu Kiowa)( EV: Uferlos. Global 1997), Willy III (EV: Vaterland 2001. Global 2001), Willy IV (EV: Vaterland live 01/02. BMG Globeart Musicon), Willy V (EV: Bielefeld. Pläne ARIS 2003), Willy VI (EV: Tournee Wecker-Wader. EMI Music Publishing 2003), Willy VII (EV: Konzerte Mai 2010), Willy VIII (EV: Ohne Warum. Sturm und Klang 2015), Willy IX (EV: Sage Nein! (Sage Nein! Antifaschistische Lieder 1978 bis heute (2018)), Willy X (EV: Poesie in stürmischen Zeiten. Livestream KulturBühne. Bayrischer Rundfunk 2020.)

Wenn Freundschaft nicht aufhört

Der Angriff auf seinen engen Freund bei einer Kneipenschlägerei mit Rechtsradikalen Mitte der 1970er Jahre verarbeitet Konstantin Wecker in seinem ersten Willy 1977 und tritt so auch als öffentlicher Verfechter und politischer Dichter für eine friedvolle, antikapitalistische, antifaschistische und anarchistische Gesellschaft in Erscheinung. Seine danach folgenden Gedichte bzw. Lieder widmen sich häufig dieser Thematik, wie beispielsweise Sage nein! oder Empört euch.

Auf seinen ersten Willy folgen neun Weitere. In seinem Vorwort zum vierten Willy von 2001/02 definiert er seine Willys als Gespräche mit seinem Freund und als „gesprochenes, teilweise gesungenes Wort“ (Wecker 2001/02). Er ordnet sie dem Genre des „talking blues“ zu und grenzt sie von einem Essay ab. Entstanden sind die Willys aus Improvisation, Tagebuchgedanken und Gesprächen mit Freund*innen. Die Gespräche mit Willy sind, so Wecker, ein Song und kein Referat, welches genauer belegt werden müsste. Thematisch ist jeder einzelne Willy ein Gespräch, ein Aufruf, ein Erinnern und auch ein Anprangern gegen den Faschismus und den Einsatz für eine pazifistische und antifaschistische Politik und Gesellschaft. Jedem Willy liegen ganz bestimmte, prägende und einschneidende politische und gesellschaftliche Ereignisse zugrunde. Diese veranlassen Wecker dazu, sich an seinen Freund Willy zu wenden, mit welchem er, so erinnert er sich in seinem dritten Willy (2001), „immer so schön unbesonnen, so gar nicht ‚political correct‘, unterhalten konnte und welchem er sich in seiner „Verzweiflung und Wuat des Lied über [ihn] rausgeschrien [hat]“.  Es entsteht dadurch eine Privatsphäre, die auch die Zuhörenden inkludiert, da sie nun bei solch einem intimen Freundschaftsgespräch zuhören dürfen. Durch die häufige Verwendung des Pronomens „man“ und „wir“ fühlt man sich beim Hören mit einbezogen und angesprochen. Für Wecker ist das Ansprechen seines Publikums ganz typisch. So lässt er oft auch das Publikum singen, wie beispielsweise bei seiner eigenen Version des Liedes „Den Parolen keine Chance“, in welchem es heißt: „Lasst uns eng zusammenstehen es bleibt nicht mehr so viel Zeit, lasst uns lieben und besiegen wir den Hass durch Zärtlichkeit“. Hier lässt er das Publikum den Refrain singen. Außerdem läuft Wecker bei den meisten seiner Konzerte mindestens einmal durch die Zuschauer*innenmenge, auch dies erzeugt Nähe und ein Gefühl der Gemeinschaft.

Immer wieder entschuldigt sich Wecker bei Willy zu Beginn des Liedes: „Es tut mir leid, Willy, dass ich dich noch einmal belästigen muss, in deiner wohlverdienten, ewigen Ruhe“ (Wecker 2001/02). Dies zeugt zunächst einmal für einen respektvollen und wertschätzenden Umgang, zeitgleich ist es jedoch auch eine von Verzweiflung und Weltschmerz geprägte Handlung, welche keine andere Option für Wecker bereithält, als sich vertrauensvoll und ohne Hemmungen an seinen Freund zu wenden, auch wenn er jetzt eigentlich in seiner „wohlverdienten ewigen Ruhe“ nicht gestört werden sollte. Diese Art des „Aufweckens“ seines Freundes Willy in Momenten, die für Wecker am gesellschaftlich prägendsten sind, welche die Gesellschaft verändern, erinnern mit jedem Mal wieder an Willy und lassen ihn so nicht in Vergessenheit geraten. Jedes Aufwecken seines Freundes soll wohl auch die Zuhörenden ein Stück weit aufwecken und wachrütteln aus ihren festgefahrenen Strukturen. Sie sollen das Publikum zu einem mündigen und kritischen Hinterfragen der gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten aktivieren und motivieren. Mit Willy und dem Publikum gemeinsam verarbeitet Wecker seine Gedanken, seine Meinungen und seine Utopien, denn den Kampf, den Willy geführt hat, für Freiheit und gegen Ausgrenzung anderer und ganz aktiv auch gegen Faschismus soll als Vorreiter und Vorbild für andere manifestiert werden. Manifestiert in dem Sinne, dass man keine Angst haben soll sich gegen Rechtsradikale zu stellen, seinen Utopien und Träumen Raum geben darf und bestehende Systeme immer kritisch hinterfragen sollte. Der Tod Willys zeugt zum einen von der extremen rechten Gewalt, zum anderen weist Wecker mit dieser Geschichte auch daraufhin, dass es gerade in solchen Momenten wichtig ist zu widerstehen und sich nicht klein machen zu lassen: „Wir müssen nun zusammenhalten und zusammen widerstehen. Ohne ideologische Kleinkriege. Mit dem Herzen denkend“, heißt es in einem Brief, den Wecker 2018 auf seiner Homepage an seine Fans richtet. Das Herz an dieser Stelle als symbolischen Ort der Menschlichkeit, des Mitgefühls und Wärme gedacht, welcher mit der Ratio verbunden werden muss.  

Auch Weckers Buch Auf der Suche nach dem Wunderbaren. Poesie ist Widerstand verweist ganz klar auf die Art und Weise, mit welcher Wecker anders als Willy mit Zärtlichkeit und Poesie begegnet. Daher findet man Wecker nicht in weiteren Kneipenschlägereien mit Rechtsradikalen verwickelt, sondern in nunmehr zehn „Besuchen“ (Wecker 2020) am Grab seines Freundes stehend und den Gedanken öffentlich kritisch und doch intim Raum zu geben.

Die Willys weisen keine feste Strophen- oder Versgestaltung auf. Sie folgen auch keinem festen Reimschema, sondern gestalten ähnlich in Rhythmik und Länge. Sie gleichen dadurch einem zufällig entstandenen Gespräch. Einzig der Refrain findet sich meist als Zwei- oder Dreizeiler von den Strophen abgegrenzt. Die Versanzahl einer Strophe variiert, was den Gesprächscharakter und das Mitteilen von spontanen Gedanken nochmal unterstreicht. Wecker selbst hat die Aussage getätigt, dass er so einen Willy nicht als Essay für eine Zeitung schreiben würde, sondern dass es sich hierbei lediglich um seine eigenen, teils spontanen Gedanken handelt, die er seinem Freund mitteilen möchte (Wecker 2001/02). Damit wird eine Intimität erzeugt, welche typisch für Wecker auch gleichzeitig zwischen Wecker selbst und dem Publikum bzw. den Zuhörenden entsteht.

Im Folgenden sollen die einzelnen Themenfelder, die Wecker in seinen Willys beschäftigen, genauer betrachtet und miteinander verbunden werden. Daher wird sich diese Arbeit mit dem deutschen Rechtsradikalismus nach 1977 beschäftigen und die Kapitalismuskritik Weckers aufnehmen. Des Weiteren werden auch Rassismus und eine von Wecker bevorzugte pazifistische Gesellschaft thematisiert und in diesem Zuge mit Weckers Ideen und Utopien verknüpft.

Denn die Frage „Was wäre, wenn?“ ist in Weckers Willys, immer wieder unterschwellig zu finden. Was wäre, wenn es keinen Rassismus gäbe? Was wäre, wenn man nicht immer in kapitalistischen Denkmustern gefangen wäre? Was wäre, wenn es Anarchie gäbe und niemand mehr als der andere besitzt? Alles nur Utopien und Träumereien oder tatsächlich vorstellbare Möglichkeiten für eine multikulturelle, individuelle und friedvolle Gesellschaft? Und was wäre Weckers vorgeschlagene Alternative zum Kapitalismus?

„Halts Mei, Faschist“

Wecker beginnt seinen ersten Willy 1977 mit dem Tod Willys, also dem Ende. Die Redewendung, dass jedem Ende ein Anfang innewohnt, scheint an dieser Stelle passender denn je. Willy stirbt aufgrund einer Kneipenschlägerei mit rechtsradikalen Neonazis, gegen welche er sich, wenn auch betrunken, impulsiv entgegensetzt, nachdem einer der Neonazis ein Lied von Horst Wessel anstimmt.

Der Vers: „Halts Mei, Faschist!“ (Wecker 1977) steht als Einzeiler alleine und zeigt einerseits genau auf das, was nach Meinung Weckers und vor allem aber auch Willy gemacht werden muss: „koa Angst [zu] haben, vor neamands“ (Wecker 1977), zum anderen besiegelt diese Aussage dann aber auch im Rückblick den Tod Willys und macht damit deutlich, wie gefährlich der Faschismus für Deutschland und jede*n Einzelne*n sein kann.

Denn angefangen hat die Geschichte der beiden alten Freunde während der 68er Revolution, welche für Willy und Wecker immer für Freiheit und Frieden gestanden hat, zeitgleich aber auch ein „laus Gfühl“ (Wecker 1977) mit sich brachte, da sich in die Mitstreiter auch sogenannte „Sonntagnachmittagsrevoluzzer“ (Wecker 1977) mischten.

Der Refrain: „Gestern habns an Willy daschlogn,/ und heit, und heit, und heit wird a begrobn“ (Wecker 1977), welcher sich im ersten Willy drei Mal wiederholt, zeigt, wie vergänglich ein Menschenleben sein kann. Durch die Temporaladverbien „gestern“ und „heute“ markiert Wecker zunächst eine zeitliche Zäsur – gestern: daschlogn, heit: begrobn – welche zeigt, dass man solch eine Tat eigentlich möglichst schnell vergessen möchte oder am liebsten gar nicht erst hinschaut, denn etwas, das begraben ist, ist schließlich auch dort, wo es keiner sehen kann.

Wenn Wecker im zweiten Willy aus dem Jahr 1993 von Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und Mölln singt, weist er auch dort auf die Polizei hin, die lieber weggeschaut hat und „mit dieser Gruppe nicht in Konflikt geraten“ (Wecker 1993) wollte. Es handelt sich bei den Ausschreitungen u.a. in diesen Städten um neonazistisch und rassistisch motivierte Taten gegen die zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen im sogenannten Sonnenblumenhaus. In Rostock zog sich die Polizei teilweise sogar ganz zurück. Den Refrain verändert Wecker folgendermaßen: „Gestern habns an Willy daschlagn,/und heit, und heit, und heit/ heit fangt des ois wieder an“ (Wecker 1993). Damit zeigt er, dass auch bei diesen neonazistischen Verbrechen die Politik keinen Opferschutz betrieben hat: [...]und glaubst du, einer unserer Politiker hätte sich persönlich entschuldigt, nix da, als Antwort/ auf diese Schweinereien haben sie versprochen, das/ Asylproblem in den Griff zu bekommen – dem Mob recht/ geben, nur um an der Macht zu bleiben und die/nächsten Wahlen zu gewinnen[...]“ (Wecker 1993). Wecker erinnert und widmet diesen Willy Antonio Amadeu Kiowa, welcher von einer großen rassistisch motivierten Gruppe Jugendlicher zu Tode geschlagen und mit einem Sprung auf den Kopf getötet wurde. Freunde von ihm schafften es noch, verletzt zu fliehen. Obgleich im Gerichtsverfahren nachgewiesen wurde, dass die Gruppe „Deutschland den Deutschen“ (Wecker 1993) rufend durch die Stadt zog, um „N*** aufzuklatschen“ (Wecker 1993), wertete der aus dem Rheinland stammende Richter den tödlichen Überfall als „jugendtypische Verfehlung“ und „Ritual mit Gruppendynamik“. Der rassistisch motivierte Hintergrund, der dieser Tat zugrunde liegt, wird im gesamten Verlauf des Verfahrens systematisch ausgeblendet. Auch gegen Zivilpolizist*innen, welche nicht einschritten, wurden die Ermittlungen eingestellt. Betrachtet man diesen Willy von 1993 als Ballade, zeigt sich, dass sich ein für die Ballade typischer Spannungsboden aufbaut. Die Einleitung, in welcher Wecker sich zunächst für die wiederholte Störung der Totenruhe entschuldigt und erklärt, dass er sich lange nicht bei Willy gemeldet habe, weil er selbst mal eine Auszeit brauchte, erreicht den Höhepunkt, wenn Wecker davon singt, dass sich „innerhalb von einer Nacht [...] die ganze Welt verändert“ (Wecker 1993) hat und die Mauer gefallen ist. Dies erzeugt bei den  Zuhörer*innen zunächst ein positives Grundgefühl, da Deutschland ja nun endlich wieder vereint ist und die Teilung Deutschlands Geschichte ist, obgleich es auch innerhalb der Linken schon kritische Gegenstimmen gab. So ist zu dieser Zeit z.B. auch die umstrittene antideutsche Bewegung entstanden, die im geeinten Deutschland den aufkeimenden Faschismus/Rassismus vorhersagten. Die Allegorie des „bunten Vogels Freiheit“, welchem die Flügel gestutzt werden, wird vonWecker an dieser Stelle angeführt, um von Freiheit auf das direkte Gegenteil, eine Form der Gefangenschaft, zu verweisen. Die zunächst euphorische Bejubelung der Öffnung der Mauer, die jede Altersklasse der Menschen aus der DDR einschließt und bei der wahnsinnig viele neue Möglichkeiten und Freiheiten in jeder Hinsicht (Urlaub, Einkauf, Wohnort etc.) durch die Öffnung der Grenzen aufschienen, wird im Bild der gestutzten Flügels von ihrer Kehrseite her erfasst, als nämlich schnell Arbeitslosigkeit und eine rapide Verschlechterung der Lebensverhältnisse für die  Ostdeutschen zur neuen Wirklichkeit wurden. In einem Artikel aus dem Jahr 2009 der Zeitung Welt Politik heißt es gar: „Die Euphorie, die nach dem Mauerfall herrschte, ist weitestgehend verflogen“. Als Begründung wird angeführt, dass die Ostdeutschen das Gefühl hatten, nur ausgenutzt worden zu sein, während die Westdeutschen der Meinung waren, sie würden für den Osten nur noch zusätzlich zahlen müssen.

Auf diese Ausnutzung weist Wecker in seinem zweiten Willy hin, wenn er von bundesdeutschen Großindustriellen, welche er hier als „Flottmänner“ (Wecker 1993) bezeichnet und sich damit auf die Flottmann-Werke AG, ein deutsches Maschinenbau-Unternehmen, aus Herne bezieht, spricht. Diese haben nach der Wende schnell ostdeutsche Werke und Kombinate aufgekauft, um so ihre Unternehmen für kleines Geld zu erweitern. Dieses Unternehmen steht an dieser Stelle jedoch nur exemplarisch für zahlreiche Unternehmen, die so oder so ähnlich ihren Profit steigerten.

Auch die Arbeitslosigkeit im Osten, die Wecker in der fünften Strophe des zweiten Willys thematisiert, war die Ursache für eine immer mehr wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung.

Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, der „blühende Landschaften“ prophezeite , die es im Osten des wiedervereinigten Deutschlands geben sollte, versprach im Juli des Wahljahres 1990, dass durch gemeinsame Anstrengungen Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln seien,. Tatsächlich erlebte der Osten Deutschlands aber die schwerste Wirtschaftskrise seit 1945. Kohl erklärte sein Wahlkampfversprechen als Fehler und gestand sich ein, dass die DDR-Wirtschaft schon damals marode gewesen sei. Er demnach aber auch wissentlich die Bevölkerung mit seinen Aussagen getäuscht hatte.

Der für eine Ballade typische überraschende Moment folgt, indem Wecker das politische Vorgehen anprangert, denn nun scheint die Mauer „unüberwindbarer als jemals zuvor“. Dies steigert sich mit dem Motiv eines brennenden Deutschlands, welches hier symbolisch für die schon zuvor erwähnten nationalsozialistischen und rassistischen Anschläge steht. Angefangen mit den Verben „bescheißen und betrügen“ (Wecker 1993), darauf folgend „durchdrehen“ (Wecker 1993) und die Gipfelung in der fünften Strophe mit der Aussage: „Deutschland brennt [...]“ (Wecker 1993).

Wecker betont in dieser sechsten Strophe mit dem Superlativ „das Schlimmste“ ( Wecker 1993), dass es nicht die „dummen Buben“ (Wecker 1993) waren, die den Anschlag ausführten, sondern, dass es die „Beifall klatschende Meute, die drum rum gestanden ist“ (Wecker 1993) der Motor der Gewalt seien. Als Auflösung dieses Konflikts schreibt Wecker erneut den Refrain des Willys um: „Gestern habns an Amadeu daschlagn,/ aber heit, aber heit, aber heit,/ heit halt ma zsamm“ (Wecker 1993). Damit lehnt Wecker den Faschismus und Rassimus deutlich ab. Er spricht sich aus für den Widerstand und eine Solidarisierung mit den Opfern, damit sich so etwas nicht wiederholt.

Als intertextuellen Bezug knüpft Wecker an ein Gedicht des Pfarrers Niemöller an. „[...]Und als sie mich holten,/gab es keinen mehr, der protestieren konnte“ (Wecker 1993). Dieses Gedicht eines 1892 in Lippstadt geborenen Pastorensohnes unterstreicht Weckers und Willys Idee einer aufständischen und sich gegen den Rechtsextremismus zur Wehr setzenden Gesellschaft. Das Gedicht appelliert an ein frühzeitiges Auflehnen gegen totalitaristische Gefahren, auch wenn sie einen selbst zunächst nicht direkt betreffen.  

Insgesamt lässt sich sagen, dass sich Wecker mit diesen ersten beiden Willys ganz deutlich für eine Gesellschaft einsetzt, die entschlossen gegen Rassismus vorgeht und auch politische Entscheidungen und Gegebenheiten immerzu hinterfragt.

Auf aktuelle politische und faschistische Strömungen geht Wecker in seinem 2018 erschienenen neunten Willy ein. Der politische Anlass ist der Aufstieg der AfD in den Bundestag. Das Zitat Alexander Gaulands, in welchem er die zwölf Jahre der Nazidiktatur als „Vogelschiss in Anbetracht der 1000 jährigen erfolgreichen Geschichte des deutschen Volkes“ (Wecker 2018) bewertet, wird von Wecker ironisch beantwortet, wenn er die AfD ganz klar dem neonazistischen Spektrum zurechnet, wenn er davon spricht, dass „Gauland wohl die Wahnvorstellungen seines Führers dazwischengekommen“ (Wecker 2018) sind.

Insgesamt lässt sich also sagen, dass Wecker in seinen Willys den Faschismus und auch Rassismus vehement ablehnt. Ablehnung alleine reicht Wecker jedoch nicht. Er ruft dazu auf, zusammenzuhalten und gemeinsam bestimmt und energisch oder auch gar radikal mit der ganzen Kraft der „Visionen und Utopien“ (Wecker 2018) dagegenzuhalten: „Widerstehen wir mit all dem, was uns als menschlichen Wesen gegeben ist an Mitgefühl und Verstand,/ Poesie und Zärtlichkeit“ (Wecker 2018).

Krieg und Frieden – im Rad des Kapitalismus’

In seinem vierten Willy, welcher 2001/02 kurz nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA  veröffentlicht wurde, beschäftigt sich mit einem für Wecker ganz elementaren und auch in anderen seiner Werke thematisierten Kerngedanken: Frieden und das Ende einer Kriegsgesellschaft. Wecker, bekennender Pazifist, betont in diesem Willy, dass der Terroranschlag, welcher von „wahnsinnige[n], verblendete[n], gehirngewaschene[n] Verbrechern[...]“ verübt worden ist, auch ein Ergebnis dessen ist, dass der Westen die Taliban oder die „Mörderbande der Nordallianz“ vorher selbst mit Waffen ausgestattet hat. Wecker erschließt sich die Kriegslogik, welche vor allem für den Sieger, so Wecker, immer stimmig ist, folgendermaßen: „Erst kommt der Krieg, dann wird der Brand gelöscht und dann lässt man sich als Retter feiern“ (Wecker 2001/02).

Dieser Willy wirft für Wecker 28 Fragen auf, wobei er ein Teil davon auch aus dem dritten Willy, welcher kurz zuvor im selben Jahr erschienen war, wieder aufgreift. Genau dahin will Wecker jedoch auch seine Zuhörer bringen. Er will, dass die Menschen anfangen kritisch zu werden, das System zu hinterfragen. Solchen kritischen und widerständigen Menschen, wie es auch Willy war, widmet Wecker zudem ein Buch mit dem Titel Meine rebellischen Freunde, welches im Jahr 2012 veröffentlicht wurde und, in welchem er sein Schriftstellerselbstverständnis erläutert und dabei an für ihn bedeutende, prägende und inspirierende Vorbilder erinnert.

Den 2001 verfassten dritten Willy prägt das Thema der Kritik an der bestehenden Politik. Mit der Anapher „Keine Gefühle mehr in der Politik, keine wirklich neuen Ideen. Keine Visionen oder gar Utopien. Und vor allem nichts Radikales“ (Wecker 2001), wird dem/der Zuhörer*in geradezu „eingehämmert“, dass das scheinbar für alle so gut funktionierende kapitalistische System nichts außer sich selbst duldet und prinzipiell nur die, denen es ohnehin schon gut geht, bevorzugt. Wecker setzt zur Verdeutlichung seiner Kritik eine rhetorische Frage, auf welche eine Fragenflut folgt: „Na, und wie perfekt ist denn nun dieses beste aller Systeme wirklich? Nur weil es/ hierzulande den meisten finanziell ganz gut geht? Was soll man aber machen gegen/hemmungslos spekulierende Fondsmanager?/ Gegen das organisierte Verbrechen an der/ Biosphäre? Gegen 30 Millionen Verhungernde jährlich, und einige Millionen nur an/ Ernährungsmangel blind gewordener Kinder?“ (Wecker 2001). Auf diese Fragenflut, welche dem/der Zuhörer*in zum Nachdenken und Hinterfragen eigener Privilegien, Werte und Normen anregt, folgt eine Kritik am Kapitalismus. Als eigene Strophe stellt Wecker zuletzt die Frage: „Wer kämpft eigentlich noch gegen den Ausnahmezustand der benutzten Natur?“ (Wecker 2001) und beantwortet dies mit: „Kein Tier, kein Baum, kein Fluss und kein Meer besitzt noch irgendeinen Wert in sich selbst./ Sie alle sind entwertet durch die Tatsache, dass sie kein Geld sind“ (Wecker 2001).

Geld ist also in der Gesellschaft der einzige Wert, der zählt und höher angesiedelt ist als der Mensch. Überträgt man dies dann in den kapitalistischen Kontext, bedeutet es, dass das System des Kapitalismus’ menschenverachtende Ideologien wie Rassismus erst möglich macht. Er ist also Grundlage der Entfremdung des Menschen vom Menschen und Geld wird eine menschliche (Werte-)Kompetenz zugeschrieben, die es eigentlich gar nicht besitzt.

Die Anapher „kein“ nutzt Wecker hier als Verdeutlichung der Dringlichkeit und als Stilmittel, welches gerade im Zuge eines Vortrags den Zuhörenden verdeutlicht, wie nötig es ist, aktiv zu werden und dem Kapitalismus die Stirn zu bieten. Wecker rüttelt durch diese Fragen auf, auch die Unterprivilegierten nicht aus den Augen zu verlieren: „Aber hinter jedem Fetten/ stehen ein paar Abgemagerte, Ausgehungerte“ (Wecker 2001). Es geht also um ein Einstehen für die, die nicht mit dem Strom laufen wollen, die erkannt haben, dass sie sich nicht den kapitalistischen Werten und Strukturen anschließen müssen, können und/oder wollen. Hier kommt auch der Anarchist Wecker durch, welcher davon träumt „eine Ordnung ohne Konkurrenz und Leistungserfolg, ohne Besitz und Wettbewerb“ (Wecker 2001) in der Gesellschaft zu etablieren. Statt eines „gesunden Geldbeutels“, wobei an dieser Stelle Geld erneut mit der positiven und zum Leben wichtigen Eigenschaft des Gesundseins personifiziert wird, schlägt Wecker eine „gesunde Psyche“ vor. Zum zweiten Mal stellt Wecker Menschlichkeit in den Fokus, welche Geld und Macht, den Elementen Kapitalismus’, vorzuziehen ist.

Veränderung soll demnach nicht nur bei jedem/jeder Einzelnen stattfinden, sondern auch im politischen System. Wecker bezeichnet dabei den Kapitalismus in seinem 2018 erschienenen Willy als „Monster“, welches sich auf die Menschheit gestürzt hat, um alle die zu verschlingen, die keine „Leistungsträger“ sein können oder wollen. Es wird demnach im Kapitalismus ein gesellschaftlicher Druck auf die einzelnen Individuen erzeugt, der ausgrenzt, die ihm nicht standhalten können oder wollen. Ist der Kapitalismus in der poetischen Reflexion Weckers ein  „Monster“ (Wecker 2018), so wird der Neoliberalismus als „Hydra“ deklariert. Eine Hydra ist ein vielköpfiges Ungeheuer der griechischen Mythologie, das nicht erschlagen werden kann, weil ihm immer wieder die Köpfe nachwachsen. Der Neoliberalismus ist also die Steigerung des Monströsen. Wecker konstatiert, dass der Neoliberalismus dafür sorgt, dass ein „kleiner Prozentsatz der Menschheit immer reicher und gieriger“ (Wecker 2018) wird, während der Rest „in tiefste Verunsicherung, Verarmung, Verzweiflung“ (Wecker 2018) gestürzt wird. Das Nachwachsen der Köpfe zeigt zudem, dass ein Entkommen, nur durch einen Wechsel zu einer anderen gesellschaftlichen Ordnung möglich ist. Das Abschneiden eines Kopfes, also die Veränderung einer Richtung bzw. einer bestimmten Problematik des Systems Kapitalismus, sorgt dann nur dafür, dass an einer anderen Stelle wieder neue Problematiken entstehen. Für Wecker als bekennenden Anarchisten und Pazifisten sind Kapitalismus und Neoliberalismus etwas, was dringend abgeschafft werden muss.

In Weckers im Mai 2010 entstanden Willy berichtet Wecker davon, dass er „stocksauer“ ist. Grund für seine Wut und Anlass für diesen Willy ist die griechische Staatsschuldenkrise, in welcher sich deutsche Unternehmen an der wirtschaftlich schlecht aufgestellten Lage Griechenlands noch bereichert haben, wie es auch die Süddeutsche Zeitung in einem im Juni 2018 verfassten Artikel kurz zusammenfasst. Durch die Verwendung des Ausdrucks „Freund“ in Bezug auf die Griechen, macht Wecker deutlich, dass es sich hier um ein Verhältnis von Menschen zueinander handelt, welches auf gegenseitigem Respekt und Zuneigung beruht. Außerdem haben Freundschaften ebenso für die Politik gleichwohl aber auch für die Gesellschaft eine Bedeutung.

In seinem achten Willy  aus dem Jahr 2015 formuliert Wecker: „Nennen wir sie daher ruhig beim Namen, diese wirklichen Wegelagerer: es sind die Finanzspekulanten, die das/ Geld als Waffe benutzen, um anderen, den arbeitenden Menschen, das eigentlich wohlverdiente Geld zu klauen“. Eine ganz klare Abgrenzung und Ablehnung gegenüber dem kapitalistischen Systems und ein Appell hin zu einer menschlichen und anarchistischen Gesellschaft ist dort zu finden, in der nicht die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Dieser Tenor ist bspw. auch in Weckers aus den 1990er Jahren entstandenen Gedicht, „Stürmische Zeiten, mein Schatz“, zu finden.

Wahrer Frieden – eine Herzensangelegenheit, ein Traum, eine Utopie

„Frieden ist nicht der Zustand zwischen zwei Kriegen. Frieden wird nicht durch Siege erkauft. Dieser Frieden – als Endziel/ des Krieges verstanden – stellt statt des wahren Friedens eher einen letzten dauernden Triumph des Krieges dar./ Du weißt es, Willy, Frieden braucht Mut. Mut zur Wahrheit und den Mut sich selbst zu verändern“(Wecker 2001/02). Mit diesen Textzeilen aus seinem viertem Willy aus dem Jahr 2001/02 stellt Wecker klar, dass Frieden, der durch Krieg entstanden zu sein scheint, kein Frieden im wahren Sinne ist. Im Anschluss an diese letzte Strophe schreibt Wecker erneut den Refrain um, indem er den letzten Vers ändert in: „Und er wird weiter und weiter und weiter daschlagn“ (Wecker 2001/02). Fast schon hoffnungslos endet dieser Willy. Wecker wendet sich an die Zuhörer*innen und integriert sie durch die Verwendung des Personalpronomens „wir“: „Es sei denn wir ändern uns./Jeder von uns./ Es sei denn, jeder erkennt, dass wir als menschliche Wesen, in welchem Teil der Welt wir auch zufällig leben, oder/ welcher Kultur wir zufällig angehören, voll und ganz  für den Gesamtzustand der Welt verantwortlich sind“ (Wecker 2001/02). 

Jeder/Jede Einzelne fühlt sich angesprochen, verantwortlich und je nach Grad der Empathiefähigkeit auch ein Stück schuldig, dass man sich nicht mit vollem Einsatz schon zuvor für wahren Frieden eingesetzt hat. Wecker versteht es durch diese direkten Ansprachen sein Publikum aktiv werden zu lassen.

Im Zuge einer Improvisation entsteht 2003 ein weiterer Willy. Wecker rückt in der ersten Strophe die Demonstration von über 500.000 Menschen, die  in Berlin gegen den Irakkrieg demonstrieren, in den Vordergrund: „Gewaltfreier Protest, Ungehorsam und Zivilcourage sind nun mal die wirkungsvollste/ Waffe einer Demokratie und ihr unerlässliches Regulativ“ (Wecker 2003), womit er die Friedensbewegung als wichtige Widerstandskraft der Demokratie beschriebt. Mit seinem Ausruf: „Stoppt die Kriegstransporte aus Deutschland in die Golfregion!“ positioniert sich Wecker deutlich pazifistisch. Ein Grund, warum der US-Amerikanische Präsident George W. Bush den Krieg nicht mehr zurücknehmen könne, sei  Stolz: „Ich frage Euch: in welcher Welt leben wir eigentlich, dass man sein Gesicht verliert,/ wenn man sich entschließt, keinen Massenmord zu begehen?“ (Wecker 2003). Das Motiv des Gesichtes, welches durch die Redewendung „das Gesicht verlieren“ zunächst im Kontext einer Bloßstellung und eines unangenehmen Gefühls gedeutet werden muss, setzt Wecker den Menschen und dem Leid im Irak entgegen, welchem „erst mal ein Gesicht verliehen“ (Wecker 2003) werden müsse. Das Gesicht also hier als menschliches, einem Menschen zuordnenden individuellen Kennzeichen, welches Emotionen – in diesem Fall Schmerz und Leid – transportiert und von anderen (empathischen) Menschen gelesen und nachempfunden werden kann. Jemandem ein Gesicht zu geben, bedeutet ganz banal auch, ihn erstmal zu sehen, wahrzunehmen und ihm Würde zuzugestehen. Dieser Wahrnehmung können dann auch Taten folgen: „Wer einmal in die Augen dieser [vom Krieg betroffenen] Kinder geschaut hat, spricht nicht mehr von einem/ Preis, der es wert ist bezahlt zu werden [...] Er möchte sie in den Arm/ nehmen und nicht mehr loslassen“ (Wecker 2003).

Humanität und Menschlichkeit in Kombination mit Zärtlichkeit und wahrem Frieden ist ein Herzensanliegen Weckers, welches er immer wieder seinem Publikum nahezubringen versucht. Dazu trägt auch die Wiederholung der Textpassagen des vierten Willys aus dem Jahr 2001/02 am Ende des fünften Willys bei, welche deutlich machen, dass Veränderung bei jedem/jeder Einzelnen stattfinden muss, um seine/ihre Verantwortung für den Gesamtzustand der Welt wahrzunehmen.

Flüchtlingssituation

Im Zuge seiner Kapitalismuskritik und dem großen Thema Menschlichkeit widmet sich Wecker auch der Flüchtlingssituation.

In seinen Ausführungen des 2015 erschienenen achten Willys kritisiert Wecker die Pegida-Bewegung. Mit seiner neologistischen Formulierung eines „Möchtegernadolfs“ (Wecker 2015), wie er die Menschen bezeichnet, die sich bei solchen Demonstrationen beteiligen, verweist er zum einen auf die faschistischen und rassistischen Denkweisen der Demonstrierenden, zum anderen aber auch auf die Gefahr, die von ihnen ausgeht. Weiter stellt er  der von den Pegidisten widerholt vorgetragenen Warnung vor einer vermeintlichen „Islamisierung des Abendlandes“die „Idiotisierung des Abendlandes“ entgegen.  

Er stellt dabei in seinem 2018 veröffentlichten Willy die rhetorische Frage nach den Fluchtursachen: „Und vor was fliehen die denn wohl?“ und beantwortet diese anschließend: „Du woaßt as Willy: vor unseren Waffen, vor unseren Finanzspekulationen, vor unserer Ausbeutung der/ Erde auf der sie leben!“. Wecker kritisiert damit, die europäischen Waffenexporte und den Umgang der Politik mit Flüchtlingen. Ein Artikel von Markus Becker für den Spiegel aus dem Jahr 2015 fasst dieses Dilemma ausführlich vor Augen: „Die Europäer überweisen Hilfsgelder, wenn Stürme oder Fluten Tausende töten – blasen aber weiter fröhlich Treibhausgase in die Luft, was solche Wetterkatastrophen wahrscheinlicher macht. Sie bauen Märkte in armen Ländern auf, um sie dann mit subventionierten Produkten zu überschwemmen. Sie kaufen gern billige Kleidung, die für Hungerlöhne hergestellt wird. Sie lieben günstige Smartphones, für die Minerale unter katastrophalen Umständen aus der Erde gekratzt werden. Sie kaufen Früchte aus Ländern, die für den Anbau ihre letzten Wasserreserven verschleudern. Konflikten vor der eigenen Haustür sehen sie oft nur zu (wie in Syrien) oder verlieren sie nach einem kurzen Eingreifen aus den Augen (wie in Libyen). Die Folgen dieses Tuns treffen genau jene Länder, deren Menschen jetzt an Europas Grenzen stehen.“ Betrachtet man diesen neunten Willy, treten gerade diese Passagen deutlich hervor, da Wecker jeden Fakt, den er über die Flüchtlinge aufführt, als einversige Strophen in insgesamt fünf Versen absetzt.

Zum Ende seines neunten Willys begründet Wecker als Anfang einer neuen Zeit seine Intention und Motivation, seine Gedanken öffentlich zu machen, damit, dass er Mut machen und zum Widerstand aufrufen will, der vor allem von Mitgefühl, Verstand, Poesie und Zärtlichkeit geprägt ist. Hier verweist Wecker auf ein Zitat Jürgen Werthmeiers. Das Paradoxon, dass ein Land wie Deutschland, welches Kolonisation in der gesamten Welt betrieben hat, nun nach „strikter Wahrung und Sicherung [der] Außengrenzen“ (Wecker 2018) ruft, ist aus Werthmeiers Sicht nicht tragbar und stringent. Mit einem ironischen Unterton, verweist Wecker anschließend drauf, dass die Bibel wohl nicht „in Tübingen, Gelsenkirchen oder Straßburg geschrieben wurde“ (Wecker 2018). Dies richtet sich an all diejenigen, die darauf beharren, dass Deutschland eine christliche und somit westliche Kultur hat, welche de facto aber geographisch betrachtet  auf einer orientalischen Glaubensgeschichte fußt. Als Gegenpol zu dieser Form des Umgangs mit Geflüchteten steht die „Willkommenskultur“ (Wecker 2018), welche Wecker als Zeichen der Menschlichkeit und Hoffnung wertet. Wecker betont in seinem neunten Willy aus dem Jahr 2018 seine Begeisterung für die Zeit der Willkommenskultur durch Verwendung des Adjektivs „großartig“ in Bezug auf diese Bürger*innenbewegung. Dass diese von einer rassistischen und ausländerfeindlichen Bewegung übertönt wurde, erklärt sich Wecker folgendermaßen: „Denn wer seine Identität nicht in seinem tiefen Selbst wahrnehmen kann, sucht sich Identität bei/ „Identitären“ (Wecker 2018) oder gar in etwas „Größerem“, „Hehren“ – in Volk, Nation und Vaterland“ (Wecker 2018).  Damit verdeutlicht Wecker, dass das, was bei Rassismus und Fremdenfeindlichkeit passiert, oft dadurch ausgelöst wird, dass Menschen, die mit sich selbst ein Problem haben, dies auf andere projizieren. Dass das eigentliche Problem, aber bei ihnen selbst liegt. Die Frage danach, über was ein jede*r Einzelne seine/ihre Identität definiert, soll an dieser Stelle zur Selbstreflexion anregen und letzten Endes  individuell beantwortet werden.

Zusammenfassend ist die Flüchtlingskrise, so wie Wecker sie beschreibt, keine Frage, die mit parteipolitischen Programmen, Verordnungen und Gesetzen gelöst werden kann. Menschen soll mit Menschlichkeit begegnet werden und Menschen sollen als Menschen gesehen werden. Dies bekräftigt Wecker am Ende dieses neunten Willys, wenn er ausruft, dass jeder einzelne der Flüchtlingshelfer wertvoller für eine menschliche Gesellschaft ist, als das „unmenschliche Taktieren“ (Wecker 2018) eines Herrn Seehofers, womit gleichzeitig auch den Menschen, die in der Politik agieren, ihre Menschlichkeit, in Bezug auf Empathie, abgesprochen wird.

Ist es jetzt soweit?

Weckers neun Willys setzten sich allesamt mit den großen Themenfeldern Faschismus, Pazifismus, Anarchie und Kapitalismus auseinanderIn jedem von ihnen formuliert Wecker immer wieder aufs Neue seine Utopie „von einer herrschaftsfreien, liebevollen und/ solidarischen Welt“, wie er es auch in seinem jüngst erschienenen Willy aus dem Jahr 2020 besingt. In seiner Zwiesprache mit dem Weggefährten wird Wecker nicht müde, daran zu glauben, dass diese friedliche und liebvolle Welt irgendwann einmal Realität werden könnte.. Dabei versteht Wecker seine Rolle als Künstler so, dass er die Menschen aufzurütteln und wachzurufen versucht. . Damit übernimmt er die Rolle des besungenen Willy, von dem erst im ersten Willy von 1977 heißt, dass Willy „immer oan Dreh weiter [war]“, als Wecker selbst, er also auch von Willy „aufgeweckt“ wurde.

In einem Zeitungsinterview mit der Rhein-Neckar-Zeitung aus dem Jahr 2019 antwortet Wecker auf die Frage, ob es bei ihm in den vergangenen 45 Jahren einen Punkt gab, an dem er das Gefühl gehabt habe, dass unsere Gesellschaft den Rassismus mehr oder weniger überwunden hat, allerdings skeptisch: „Anstatt den eigentlichen Grund dieser Verunsicherung anzugehen – nämlich den Kapitalismus –, suchen sie [die Rassisten, S.Sl.] sich Schwächere aus, um an ihnen ihre Wut auszulassen. Das trifft auf die heutigen populistischen Parteien hundertprozentig zu. Sie sind nicht die Parteien des kleinen Mannes, sondern des Kapitals. Darüber müssen wir aufklären“. Damit fasst Wecker seine Willys und die Intentionen, die dahinter stecken, kompakt zusammen. „Als alter Anarcho“, wie er sich in seinem 2020 zum Anlass der Coronakrise und dem Aussetzen der Grundrechte neuesten Willy geäußert hat, will er sich weder vom Kapitalismus noch seiner Freiheit beschnitten sehen. Trotz Weckers Bedenken hinsichtlich einer nicht stattgefundenen Diskussion zu Alternativen der radikalen Einschränkung der Grundrechte sei diese Zeit eine Zeit des Umdenkens. Mit der elffachen Verwendung des Adverbs „jetzt“ in seinem neuesten Willy von 2020 bekräftigt Wecker die Notwendigkeit der Revolutionierung der Gesellschaft. Begründet wird dies hier konkret mit dem Zustand der Gesundheitssysteme, dem fehlenden Krisenplan, dem Klimanotstand, der schlechten Bezahlung der wichtigen Berufe wie Krankenpfleger*innen oder Hospizarbeiter*innen, dem Umgang mit Flüchtlingen: „Wir sollten endlich die Türen der jetzt ohnehin nutzlos leerstehenden Luxushotels in/ München und Berlin und überall öffnen für die schutzsuchenden Menschen aus den Kriegsgebieten dieser Welt!“ (Wecker 2020.. Nach dem Motto „Wenn nicht jetzt, wann dann“ ruft Wecker zu einer Revolution auf, wie er es auch 2015 in einem seiner Gedichte getan hat. Resümierend betrachtet ziehen sich Weckers revolutionäre Gedanken im Hinblick auf das Ende des Kapitalismus’ als Kernintention und der Möglichkeit einer neuen Gesellschaftsordnung durch alle Willy-Songs.

Willy, welchen Wecker somit als Mittler für die Zuhörer*innen nutzt, durch welchen eine Intimität und Vertrautheit transportiert wird, die den/die Zuhörer*innen noch näher an Wecker und seine Gedanken heranführt, lässt die Worte Revolution, Radikalität und Ungehorsam in einem ruhigen, nachdenklichen, melancholischen und zärtlichen Klang wirken. Willy als Weckers Freund steht hier stellvertretend für andere Freund*innen Weckers, welche ihn geprägt, inspiriert und welche er aufgrund ihres Mutes bewundert (hat). Mit Texten von diesen Wegbegleitern, Vorbildern und Freund*innen wie u.a. Oskar Maria Graf, Bernard Glassman, Petra Kelly, Dietrich Bonhoeffer und Hannah Arendt veröffentlicht Wecker 2012 sein Buch Meine rebellischen Freunde, um sein künstlerisches Selbstverständnis, seine Geschichte und seine Inspiration seinem Publikum und seiner Leserschaft nahezubringen.

Literatur

Anonym: Schuldenkrise. Deutschland macht mit Griechenland-Hilfen 2,9 Milliarden Gewinn. In: Süddeutsche Zeitung (Stand 19.6.2020)

Anonym: Amadeu Antonio Kiowa. 25.11.1990. In: Kein schöner Land. Todesopfer rechter Gewalt in Brandenburg (Stand 17.6.2020).

Anonym: 20 Jahre nach Mauerfall. Deutsche enttäuscht von der Wiedervereinigung. In: Welt Politik (Stand: 18.6.2020).

Becker, Markus: Flüchtlingsmisere. Europas Schuld. In: Spiegel Politik (Stand 17.6.2020)

Burg, Manuel: Gegen die Idiotisierung des Abendlandes. In: Die Welt Kultur (Stand: 16.6.2020)

Kleinhans, Bernd: Horst Wessel (1907-1930). In: Zukunft braucht Erinnerung. Das Online-Portal zu den historischen Themen unserer Zeit (Stand:17.6.2020).

Neumann, Olaf: Pazifistischer Anarcho. Interview. In: Rhein-Neckar-Zeitung (Stand: 20.6.2020).[Zum Album „Weltenbrand“ in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Philharmonie]

Wecker, Konstantin: Meine rebellischen Freunde. Ein persönliches Lesebuch. München 2012.

Wecker, Konstantin: Stürmische Zeiten, mein Schatz. In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. Die Gedichte. München 72018, S. 188-190

Wecker, Konstantin: Sage Nein! Aus: Antifaschistische Lieder 1978 bis heute. Sturm und Klang 2018.

Wecker, Konstantin: Empört euch. EV: Wut und Zärtlichkeit. Sturm & Klang 2011.

Wecker, Konstantin: Auf der Suche nach dem Wunderbaren. Poesie ist Widerstand, Gütersloher Verlagshaus 2018.

Wecker, Konstantin: Revolution. In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. München 2018. S. 271-274.

Wiegrefe, Klaus: Kohls Lüge von den blühenden Landschaften. In: Spiegel Politik online (Stand:17.6.2020).

 

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