Eine Rezension zu Yade Yasemin Önder "bulimieminiaturen" Drei Texte. Drei Männer.

(von Mona Gaiser)

Yade Yasemin Önder, eine der drei PreisträgerInnen des 26. open mike, zeichnet in ihrer aus drei Fragmenten bestehenden Erzählung bulimieminiaturen ein Bild zerrütteter Beziehungsgeflechte. Die sozialen (familiären, freundschaftlichen und partnerschaftlichen) Kontakte sind der narrative Antrieb der Handlung, in welchen sich Vergangenheit und Aktualität zu einem undurchsichtigen Erinnerungswirrwarr verkreuzen. In drei Texten schildert die Ich-Erzählerin drei Episoden ihres Lebens, die aufgrund des assoziativen Erzählstils als solche kaum noch zu erkennen sind. In jeder Episode wird ein partnerschaftlicher Beziehungsentwurf ausprobiert. Die drei Männer sind dabei den Texten entsprechend episodenhaft voneinander getrennt. Keiner der Männer findet Erwähnung außerhalb seiner Episode und doch scheinen die Beziehungsgeschichten sich gegenseitig zu ergänzen und auseinander zu resultieren. Dieses Sprachspektakel bricht die chronologische Reihenfolge der Episodenhandlungen auf und führt gleichzeitig dazu, dass der Leser versucht, eben jene Chronologie zu rekonstruieren, wobei dieser Versuch kläglich scheitern muss. Der Text springt von Erinnerung zu Erinnerung, indem er sich an Assoziationen hervorrufenden Gegenständen entlang hangelt, wobei ein Gegenstand gleich mehrfache Erinnerungen wachrüttelt. Materielle Körper und Flüssigkeiten leiten den Bewusstseinsstrom der Ich-Erzählerin an, um in den spritzenden, tropfenden und ejakulierenden Körperflüssigkeiten ihren Höhepunkt zu finden. So ergibt sich in den Männerbeziehungen ein triefender Erinnerungsklumpen aus Angst, bodyshaming und Vernachlässigung gepaart mit Blut, Sperma, Kotze und Tränen.

Noch bevor dem Leser in eins: der anfang die wiese der erste Mann vorgestellt wird ist er bereits Exmann. Der Mann Exmann bleibt in der Erzählung reine Erinnerung und gleichzeitig „der mann meines lebens“ (S. 101). Er ist in der Handlung nicht anwesend und nur in Form eines Rückblicks präsent. Mit dieser kindlichen Beziehung wird den LeserInnen ein bürgerliches Partnerschaftsmodell präsentiert, das aber damals schon nicht tragbar erscheint und aus dem Mann ohne Umschweife einen Exmann macht. Hier geht es weder um Liebe noch um Sex und doch ist diese Beziehung für die Protagonistin die mit dem meisten emotionalen Tiefgang. Wenigstens mit dem geschenkten Schaffell wird noch ein Gefühl der Wärme assoziiert. Das krankhafte Körperbild der Ich-Erzählerin ist in dieser Männerbeziehung bereits angelegt und hinterlässt den Gedanken, dick zu sein ist nicht nur nicht wünschenswert, sondern sogar angsteinflößend. Dies erklärt auch den besonderen Stellwert von Essen im (Er)leben der Protagonistin und führt konsequenter Weise zu der titelgebenden Essstörung, die physische wie psychische Narben hinterlässt.

In zwei: fünf stellt der Text sexuelle Selbstentdeckung ins Handlungszentrum. Hier ist der Mann anwesend, aber „nur stimme, kein körper“ (S. 104). Das Alter der fünf Freundinnen, die hier die fünf Säulen des Islam anzitieren, führt in dieser Mann-Frau-Beziehung zu einer pädophilen Schieflage und zeichnet somit auch diese ‚Partnerschaft‘ als krankhaft aus. Die anschließende Wasserschlacht ist sprachlich sexuell so aufgeladen, dass der sich selbstbefriedigende und sich entladende Telefon-Mann zwischen den frühreifen, nassen Mädchen näher und realer erscheint als während des Telefonats. Dies wird unterstrichen durch den Verdrängungscharakter der Szene. Stress, Angst und schlechtes Gewissen entladen sich gleich der metaphorisch anwesenden Telefon-Stimme. „herrlich, dass wir davon nichts mitbekommen“ (S. 105) wird diese Ablenkung sprachlich verdeutlicht. Önder lässt hier nicht unbedingt Kritik an aber doch die Wahrnehmung von sich verändernden sexuellen Entfaltungsmöglichkeiten aufscheinen. Sexuelle (Selbst-)Verwirklichung benötigt keine zweite körperlich anwesende Person, sondern kann über ein zweifaches Medium praktiziert werden: Stimme und Telefon. Der Körper wird (fast) unbedeutend für Sex. Ebenso wie Liebe. Für den Telefonsex wird prostitutionsähnlich bezahlt. (Sexuelle) Beziehungen sind in unserer Gesellschaft nicht vor der Modernisierung durch die Technik und der Ausbeutung durch den Kapitalismus geschützt. Emotionale Tiefe und Zugehörigkeit geht immer mehr verloren.

In der dritten Episode drei: dede scheint diese Erkenntnis in der partnerschaftlichen Beziehung zu korrelieren. Die zwei Meter große, angsteinflößend Erscheinung, vor der sich die Protagonistin als Kind noch hinter ihrer Mutter versteckt hat, ist dann im Vergleich zu den zwei vorausgehenden Männern nur noch Körper, keine Stimme, keine Erinnerung und keine Emotion mehr. Eine sich lösende Träne „tropft auf den penis und perlt ab“ (S. 107). Sie symbolisiert hier die Wahrnehmung der eigenen Determiniertheit: der körperlichen -wie mittlerweile auch emotionalen- Unzulänglichkeit eine Liebesbeziehung zu führen und die daraus resultierende Selbsterniedrigung in sexuellen Beziehungen. Das körperliche Idealbild des Mannes steht hier im Gegensatz zu dem Gestank und Geschmack seines Spermas, das bildlich neben dem heilenden Wasser der Kalkquellen von Pamukkale angesiedelt wird. Was ist hier Reinigung und was Selbstzerstörung?

Önder spielt in ihrem Text mit der Wahrnehmung unterschiedlichster Globalisierungszusammenhänge: die kulturelle Zerrissenheit einer Persönlichkeit, die zwischen moderner Selbstverwirklichung und konservativem Lebensentwurf eine Identität fordert. Zwischen religiösen Grundsätzen und Emanzipation steht die Suche nach Bestätigung in den familiären, freundschaftlichen und partnerschaftlichen Beziehungen. Über die Numerologie werden, als weiterer kulturdifferenzierender Aspekt, Christentum und Islam nebeneinander angeordnet und verglichen. 

Die Beziehungen zu den Männern sind nicht auf eine bürgerliche Vorstellung der Familiengründung ausgelegt. Männer und Familie scheint in diesem Lebensentwurf nicht miteinander vereinbar zu sein. Auch in der handlungsantreibenden Narration finden entweder Männer oder die Familie Platz. Beides gleichzeitig scheint unvorstellbar.

Dieser dreifaltige Entwurf sozialer Beziehungen, in der modernisierten westlichen Gesellschaft stellt diese als generationenübergreifendes Negativszenario dar, fast so, als hätte jede Generation ihre eigenen Männer, die dann doch wieder alle gleich sind.

Bibliographische Angaben:

Yade Yasemin Önder: bulimieminiaturen. In: 26. open mike: Wettbewerb für junge Literatur. Die 20 Finaltexte. München 2018: Allitera, S.101-108

Eine Rezension zu Yade Yasemin Önder "bulimieminiaturen" Familie und Körper in Yade Önders bulemieminiaturen

(von Maximilian Verstraelen)

Yade Önders preisgekrönter Prosatext bulimieminiaturen umfasst drei kurze Texte (eins der anfang die wiese, zwei fünf und drei dede), die sich im Wesentlichen um Kindheitserinnerungen einer Ich-Erzählerin drehen. Die drei kurzen Einblicke haben, so die These, jeweils zwei verbindende Elemente: Zum einen der Fokus auf eine Person aus der eigenen Familie (Vater, Mutter und Großvater). Zum anderen sind es die Körper bzw. die Körperlichkeit der Figuren, die in den drei Texten auf unterschiedliche Weise zur Geltung kommen, sich aber in allen drei Texten durch Übergeben äußern. Önders stark assoziative und episodenhafte Texte, die durchgängig auf Großschreibung verzichten, erzählen von insgesamt drei Generationen türkischer Einwanderer, die sich vor allem durch Probleme (bspw. in der Kommunikation untereinander) definieren.

In der anfang die wiese baut sich die Familie, bestehend aus Mutter, Vater und Kind, im Park eine Dreizimmerwohnung auf, die im Verlauf der Erzählung allerdings der gemeinsamen Wohnung mit ihrem „mann exmann“ (vgl. S. 101) weicht. Hier findet der Vater der Ich-Erzählerin seinen Tod, als er im Garten eine Schaukel für seine Tochter bauen will und durch eine Kreissäge dabei verunfallt. Die Erzählerin gibt sich selbst die Schuld an dem Tod ihres Vaters, da sie lange gewartet hat, ihren Vater zum Abendessen zu rufen. Das traumatische Bild des zerstückelten Vaters weckt in der Protagonistin Schuldgefühle, die durch die Körperlichkeit des Vaters erzählerisch verdeutlicht werden: „ich hatte nun meinen vater auf dem gewissen und man weiß ja, wie schwer so ein vater ist. Er wog ja damals schon an die drei-, vierhundert kilo […]“ (vgl. S. 102). Diese groteske Darstellung des Vaters verdeutlicht nicht nur die metaphorische, sondern auch körperliche Last, die die Erzählerin nach dem Tod ihres Vaters zu tragen hat. So scheint sie nicht fähig zu sein, Beziehungen zu ihrer Familie aufrechtzuhalten bzw. in den entscheidenden Momenten zu handeln. der anfang die wiese zeichnet ein Bild einer heillos überforderten Tochter, die vor allem mit der eigenen Vergangenheit zu kämpfen hat.

In fünf, eine traumhaft-traumatischen Erzählung, steht die Mutter der Ich-Erzählerin als familiäres Mitglied im Mittelpunkt. Sie wird als „fünfundzwanzig, mitte dreißig“ (vgl. S. 105) beschrieben, was einerseits auf ihr Alter bei der Geburt ihrer Tochter und andererseits auf ihr aktuelles Alter hindeuten kann. Nachdem die Ich-Erzählerin und vier weitere Mädchen einen Telefonstreich in einer Sex-Hotline mit anschließender Verdrängungs-Wasserschlacht gemacht haben, ist der Auftritt der Mutter von Wut und Zorn geprägt, denn sie schmeißt sämtliches Mobiliar aus dem Fenster. „[…] und dann das schreien der spätzünderin scheidungskinder, ihr! und raus fliegt ihr, raus!“ (vgl. S. 106). Schlussendlich sitzt die Ich-Erzählerin komplett allein in der Wohnung, da ihre Mutter selbst auch aus dem Fenster gesprungen ist. Obwohl es Indizien dafür gibt, dass sich die Mutter um ihre Tochter zu kümmern scheint – zumindest finanziell – (Zahnspange, Urlaub auf Fehmarn?), zeigen die anderen fliegenden Gegenstände eine durchscheinende Vernachlässigungsperspektive auf, die eine klare Trennlinie zwischen den Welten von Mutter und Tochter zieht (gelber Wonderbra und Tigertanga, Tagebuch und Zeichnungen). Auch diese Erzählung entwirft ein destruktives Bild von Familie: Misskommunikation, Unverständnis und Wut dominieren die Beziehung von Mutter und Tochter. Körperlichkeit wird in fünf getreu dem Titel bulimieminiaturen durch den Body-Maß-Index beschrieben. Der Körper ist in diesem Teenager-Szenario also eine Zahl, die durch den Druck der Gesellschaft verändert und angepasst werden muss.

In dede, der vulgärsten der drei Erzählungen, wird das Verhältnis zum Großvater fokussiert. Enkelin und Großvater finden, ähnlich wie in der ersten Erzählung, auf sprachlicher Ebene keinen Draht zueinander („was sagt dede da?“). Die Barriere zwischen den beiden ist so groß, dass auch Annäherungsversuche des Großvaters kläglich scheitern: „dede versuchte vergeblich mich mit seinem cok güzel zu beruhigen“ (vgl. S. 107). dede zeigt auf eindringliche Weise die Probleme zwischen der dritten und der ersten Generation von türkischen Gastarbeitern in Deutschland. Die Ich-Erzählerin versteht kein Türkisch und ihr Großvater spricht kein Deutsch. Sie haben keinen gemeinsamen Bezugspunkt, außer miteinander verwandt zu sein. Die kulturelle Entwurzelung, gemeint ist damit das Nicht-verstehen der Sprache der Eltern und Großeltern, scheint insgesamt ein Grund für die problematischen Beziehungen innerhalb der Familie zu sein. Der Körper des Großvaters spielt in seiner Beschreibung eine zentrale Rolle: sein Loch im Hals deutet einerseits auf seine Erkrankung hin, andererseits wird damit deutlich, dass der Großvater unfähig ist, familiären Halt zu ermöglichen, da selbst Sesamkörner aus seinem Loch herausfallen.

Insgesamt entwirft Yade Önder ein Bild von Familie, was durch sprachliche Hindernisse, Frustration und Missverstehen geprägt ist. Die Ich-Erzählerinnen finden zu keinem Familienmitglied eine Verbindung, was über die jeweilige Beschreibung der Körper sprachlich-assoziativ unterstrichen wird (Gewicht des Vaters, Beschreibung der Wut der Mutter etc.).

Bibliographische Angaben:

Yade Yasemin Önder: bulimieminiaturen. In: 26. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2018. S. 101-108.