Eine Rezension zu Andra Schwarz "Gedichte" Wir gehen soweit wir können

(von Marie-Luise Eberhardt)

„hier endet alles, auch unsere sicht / wir schließen die augen und gehen zurück / ins dorf zu den andern im rücken kehrt wind“ (S. 134). Innehalten. Ruhe. Der melancholische Klang sitzt in den Reihen, ist tief spürbar. Andra Schwarz beendet den ersten Block des 23. open mikes. Ihre ruhige Stimme, ihre Pausen und ihre Lyrik harmonieren, versetzen in eine Textwelt, die „dem Wesen eines Landstrichs nachgeht, seinen Grenzen und seiner Ganzheit“, wie es Klaus Merz bei der Verleihung des Lyrikpreises formuliert. Die 33-Jährige, die aus der Oberlausitz nahe der polnischen Grenze stammt, hat sich wie auch vor zwei Jahren am Leipziger Literaturinstitut [http://www.deutsches-literaturinstitut.de/] kurzerhand ohne Erwartungen erfolgreich beim open mike beworben. Umso überraschender ist für die Lyrikerin der Preis. Für die Jury hingegen eine klare Entscheidung: Schwarz hat ihren eigenen Ton gefunden.

Inmitten der experimentellen Lyrik, inmitten der Neuzeitthemen wie Social Media und Alltag sticht Andra Schwarz Lyrik durch ihre Schlichtheit und Tiefe heraus. Ihre zwölf Gedichte sind keine „brave Naturlyrik“, wie die ZEIT [http://www.zeit.de/kultur/literatur/2015-11/open-mike-2015-literaturwettbewerb/seite-2] kommentiert. Sie erzählen von Trostlosigkeit, Grenzen, Kindheit, Zeit, Vergangenheit, dem „endliche[n] gehen“ (S. 139), Beziehungen, Erwachen, Fremde und Licht. Dabei geht die Lyrik Andra Schwarz zumeist von Naturbildern aus – von Einöde, moorland, grasland, Wald oder Meer –, deren Wirkung sich weiter entfaltet und sich mit der subjektiven Erinnerung der Rezipient*innen verknüpft.

Trotz der Natur oder gerade wegen dieses Motivs erinnern ihre Gedichte nicht an die Romantik, nicht an Joseph von Eichendorff, sondern eröffnen ganz eigene Bilder:

„außer im winter frisst sich frost / in die lungen legt sich der schnee / und vergisst wer du warst“ (S. 135). Schwarz personifiziert Objekte wie Frost oder Lunge, erschafft dadurch eine Bildhaftigkeit, die sich einfrisst, aber nicht greifen lässt. Das lyrische Ich taucht oft in die Umgebung ein, verschwimmt mit ihr, taucht wieder auf und spricht ein Du an. Enjambements und Alliterationen verstärken einen Fluss, der durch den Perspektivwechsel von innen nach außen gebrochen wird. Schwarz erreicht diese Brüche teilweise auch durch ihre starken Bilder, die inne halten lassen: „landschaften dünnwandig ohne gesicht / schieben sich vor bis an die ausfallstraße“ (S. 139). Vereinzelt fallen stilistische Brüche auf, die nicht intendiert scheinen, wie „die ausschabung der dörfer“ oder „zahlreiches verschwinden“ (S. 136).

Formal bestehen die Gedichte jeweils aus einer Strophe, das kürzeste Gedicht ist dabei acht Verse lang, das längste 15 Zeilen. Keines von Andra Schwarz Gedichten trägt einen Titel. Die Lyrikerin arbeitet visuell außerdem mit kursiver Schrift einzelner Wörter bis hin zu ganzen Zeilen. In zwei Gedichten wird jeweils ein Wort durch die Großschreibung aller Buchstaben hervorgehoben, GRENZE und ALLES. Ansonsten schreibt sie außer dem ersten Wort in der ersten Zeile jeden Laut klein. Bei Aufzählungen verwendet Schwarz das Zeichen „&“ anstatt des und. Damit stellt sie auch visuell einen Bruch her. Interpunktionen benutzt die Lyrikerin kaum. Sie arbeitet hauptsächlich mit dem Doppelpunkt, der in sieben Gedichten mal als Abgrenzung, mal als Hervorhebung oder auch als Zeichen für die direkte Rede fungiert. Kommata setzt Schwarz in nur drei Gedichten ein und markiert damit beispielsweise die Zeitverschiebung: „ins blaue hinein gerät eine schwalbe / sie flieht vor dem abwind, was war“ (S. 142).

Andra Schwarz Lyrik ist ungewöhnlich in der Gewöhnlichkeit des ersten Blicks. Durch sich wiederholende Motive wie Vögel und Wind, aber auch durch ihre schlichte Sprache erreicht sie auf den ersten Blick eine Allgemeinheit, die auf den zweiten Blick durch ihr Können, durch die Kraft ihrer Bilder aufgebrochen wird. Dadurch stellt die Lyrikerin eine Offenheit her, die verwirrt und hinhören lässt, in jedem Fall aber bewegt. Andra Schwarz Gedichte verbreiten eine mystische Atmosphäre, bergen einen Zauber, ein Geheimnis, das zum Nebel wird, zum „gewese das wesen von dir“ (S. 143) und „eine frage [berührt] die seltsam tief schlägt“ (S. 138).

 

Bibliographische Angaben:
Andra Schwarz: Gedichte. In: 23. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag. 2015. S. 134-145.