Leitthema

In einer demokratischen Gesellschaft, die von ethnischer, religiöser und kultureller Diversifizierung geprägt ist, stellt sich kontinuierlich die Frage nach den Gelingensbedingungen für gesellschaftliche Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt.1 Diversifizierung verändert Gesellschaften ebenso wie großräumige politische und ökonomische Umbrüche, wobei gemeinschaftliche Vorstellungen von Weltoffenheit und Toleranz – in ihren selbstwidersprüchlichen Bedeutungsdimensionen als anthropologische Konstante und normative Setzungen – für Fragen der Orientierung und der weiteren Legitimation bestehender sozialer Ordnungen von zentraler Bedeutung sind.2 Welche Ideale, Normen und Symbole als Grundlage gesellschaftlicher Kohäsion dienen können, muss ebenso diskursiv ausgehandelt werden, wie die Möglichkeiten und Grenzen der sozialstrukturellen und kulturellen Integration.3

Wie sehr bestehende Einigungen über gesellschaftliche Grundwerte wie Weltoffenheit, Toleranz und Gemeinsinn in der Gegenwart unter Druck geraten sind, zeigen die aktuellen Diskurse zu Migration und Integration, zur Ehe für Alle und die Wahlkampagnen rechtspopulistischer Parteien, die anti-pluralistische Einstellungen schüren.4 Die Abwertung Anderer und die damit verbundenen Differenzmarkierungen sind ein durchaus wiederkehrendes Phänomen gesellschaftlicher Modernisierung und wirtschaftlich-technologischer Umbruchssituationen, in denen sich zum Beispiel Arbeitsverhältnisse so stark verändern, dass Statusängste, Zukunftsunsicherheit und Entfremdungsgefühle exponentiell steigen.5

Weltoffenheit, Toleranz und Gemeinsinn berühren unmittelbar das Identitätsverständnis und damit die Vorstellungen von „us“ und „them“, Identität und Alterität sowie Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit.6 Diese Begriffe, so vermittelte es der politische Diskurs der Postmoderne, stehen im Dienst einer bestimmten Vorstellung von Gemeinschaft und Vergemeinschaftung. Sie galten lange Zeit als wichtige Grundvoraussetzungen für Chancen- und Teilhabegerechtigkeit. In der Gegenwart ist diese grundsätzliche Äquivalenz weitaus weniger eindeutig, da auch die fremdenfeindlichen politischen Lager und die sie stärkenden sozialen Bewegungen die Konzepte von Weltoffenheit, Toleranz und Gemeinsinn für sich in Anspruch nehmen.7 Insofern gilt es, auch die Identitäts- und Alteritätsentwürfe, d.h. die Konstruktionen des Eigenen und des Fremden, ihre Veränderungsdynamik, Historizität sowie mediale Inszenierung zu berücksichtigen.

In diesem Kontext macht ihre Volubilität die drei Hochwertbegriffe „Weltoffenheit, Toleranz und Gemeinsinn“ bis heute attraktiv, da sie leicht im Dienst unterschiedlicher Ideologien besetzbar sind. Sie können also als athematische, diffuse, latente politisch-soziale Leitbegriffe gelten, die eine „Konkordanzformel“ zur simultanen Vermittlung divergierender Ziele wie internationaler Frieden, innere Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit in Aussicht stellen.8

So erleben der Begriff Gemeinsinn, und sein naher Assoziierter das Gemeinwohl, seit den 1980er Jahren einen Aufschwung im zivilgesellschaftlichen und politischen Raum. Oft finden sie sich in Appellen gegen die Individualisierung der Gesellschaft und sind mit einer selbstverständlichen, nahezu ohne nähere Analyse effektiven, moralischen Überlegenheit verbunden.9 Im alltäglichen gegenwärtigen Sprachgebrauch versteht sich Gemeinsinn als die Orientierung mehrerer Einzelner am Gemeinwohl.10 Beide Begriffe, geprägt in der Antike, waren semantisch allerdings nie eindeutig definiert. Jedoch wurden beide Schlagworte in der Historie politisch immer wieder instrumentalisiert und höchst variabel definiert, zuletzt in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Heute verändert sich mit dem zunehmenden Rückzug des Staates aus dem öffentlichen Raum und der Privatisierung seiner Verantwortlichkeiten auch die Deutungsmacht über die Begrifflichkeiten. Die Zahl jener, die festlegen, was als Gemeinsinn und Gemeinwohl anerkannt wird und wer daran teilhaben darf, hat sich vervielfacht.11

Ähnliches zeichnet die Historie von Toleranz und Weltoffenheit aus. Der Begriff Toleranz erlangte im 16. Jahrhundert besondere Relevanz, als er darin Verwendung fand zu diskutieren, unter welchen Bedingungen ein friedliches Zusammenleben verschiedenere Religionsanhänger möglich sein könne. Mit der Aufklärung hat sich die Bedeutung des Begriffs erweitert und umfasst heute eine Toleranz gegenüber „Fragen der religiösen, politischen o. a. Überzeugung [und] der Lebensführung anderer;“12 die bereit ist „eine andere Anschauung, Einstellung, andere Sitten, Gewohnheiten u. a. gelten zu lassen“.13 Für uns gilt Toleranz als positiver Grundwert einer demokratischen Gesellschaft, ein Grundwert dem aber zugleich eine Ablehnung und ein reines Geltenlassen zu inne ist, das unbeachtet bleibt „mit dem Ergebnis einer Duldung oder einer friedlich begleitenden Koexistenz, eventuell sogar gesteigert bis hin zum gegenseitigen Respekt. Toleranz unterscheidet sich sowohl von Anerkennung und Wertschätzung – denen das Moment der Ablehnung fehlt – als auch von bloßer Gleichgültigkeit und Beziehungslosigkeit.“14 Der Wortursprung „tolerare“, Latein für ertragen, (er)dulden, unterstreicht, dass nicht nur eine Instrumentalisierung der Toleranz als Schlagwort durch jegliche politische Ausrichtung kritisch zu sehen ist, sondern auch die Manifestation des positiv besetzten Wertes in unserer Gesellschaft, trotz ihrer Etymologie.
Weltoffenheit kommt in seiner heutigen Bedeutung ähnlich daher, beschreibt es doch das Aufgeschlossen sein „gegenüber allem diesseitigen, im Gegensatz zu einer streng kirchlichen Haltung [oder] der empirischen Welt und anderen Völkern […], im Gegensatz zu einer beschränkt nationalen Denkart“.15 Ursprünglich jedoch erlangte der Begriff Popularität in der Philosophischen Anthropologie. Max Scheeler differenzierte mit ihm Anfang des 20. Jahrhunderts das Wesen von Mensch und Tier: ein weltoffenes Wesen erhebt sich über die Triebsteuerung des Tieres und reflektiert die Welt um sich herum.16

Quellen zum Text "Leitthema": Quellen Zum Webseitentext Forschung