Foto: Simone Bandurski

 

Matthias Reuter, Musikkabarettist

Die Uni Essen und ich

 

Als ich im Wintersemester 1997/98 mit meinem Studium in Essen begann, konnte ich erstmal direkt wieder aufhören. Ich hatte mir durch Zufall genau das Semester ausgesucht, in dem die Studenten zu streiken begannen.
Die Bedingungen an der Uni, die zum Streik führten, hatte ich also nur sehr kurz miterlebt. Dann durfte ich nicht mehr in die Uni rein, zumal ja Streik war. Mir gefiel das ganz ausgesprochen gut! Mein Studium mit einem ordentlichen Streik zu beginnen – das schien mir die vernünftigste Lösung zu sein. Seltsamerweise sahen das auch ein Großteil der Dozenten und der Politiker im Herbst 1997 so. Alle waren Pro Streik. Selbst der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl konnte sich in Zeitungs-Interviews für die streikenden Studenten begeistern. Ich fragte mich, warum. Der Grund wurde mir aber schnell klar: der Streik entsprach exakt der Aktionsintensität, die auch die Politik seit Jahren in Bezug auf die Uni an den Tag legte. Kurz gesagt – endlich taten Studenten und Politiker beim Thema Bildung einmal dasselbe: Die Studenten machten nichts. Und die Politiker auch.

Ich entschied mich für eine einfache Lösung, um herauszufinden, ob der Uni-Tag stattfindet oder nicht: wenn ich vom Berliner Platz in Richtung gelbes Gebäude lief, konnte ich schon von Weitem sehen, ob vor der Mensa oder der Bibliothek jemand mit einem Diabolo Jonglage-Tricks in der Luft vollführte. Sobald ich einen Diabolokünstler sah, drehte ich wieder um und kaufte mir ein Eis.
Insgesamt hätte es für mich gerne so weitergehen können.

Einmal sah ich einen Studenten, der ein großes Plakat mit sich schleppte. Das Plakat trug die Aufschrift „IQ für alle!“. Ich stimmte dem in allen Punkten zu, sah aber schon beim Plakatträger die ersten Probleme bei der Durchsetzung dieser Forderung auf uns zukommen. Vom damaligen Bildungsminister Jürgen Rüttgers ganz zu schweigen…

1998 beendete man dann den Streik, weil es einfach keinem mehr Spaß machte, sich beim Diabolo-Spielen auch noch dauernd von allen Seiten auf die Schulter klopfen lassen zu müssen. Außerdem wurde festgestellt, dass beispielsweise die Straßenreinigung bei einem Streik langfristig deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als der Fachbereich Drei der Uni Essen. In beiden Fällen bleibt zwar Papier liegen. Aber bei der Straßenreinigung ist der Aufschrei in der Bevölkerung größer.

So begann ich dann doch noch zu studieren. Die Bedingungen hatten sich kaum verbessert. Viele Bücher suchte man statt in der Bibliothek besser im Handel und der Platz war so beengt, dass die Studierenden bei einigen Veranstaltungen im Schneidersitz um den Dozenten herumsaßen wie um ein Lagerfeuer, bloß ohne Gitarre.

Zu dieser Zeit hoffte ich morgens jedes Mal sehr intensiv darauf, mal wieder einen Jongleur vor der Uni zu sehen. Aber es hatte sich leider ausgestreikt. Nagut, dachte ich – dann machste halt dein Latinum nach…

Hier in Kürze die folgenden Ereignisse:
Latinum
Zwischenprüfung
Magisterarbeit in Literaturwissenschaften (Thema „Kabarett der Weimarer Republik“)
Während ich an der Uni nur das Nötigste machte, um meinen Abschluss zu bekommen, wurde ich außerhalb der Uni immer aktiver, spielte in mehreren Bands, beteiligte mich an Poetry Slams, schrieb Kabarett-Texte und eigene kleine Lieder, arbeitete beim Fischfastfoodrestaurant Nordsee und gab Musikunterricht an einer Oberhausener Musikschule, um Studium, Wohnung und alles Weitere finanzieren zu können.

2004 machte ich meinen Magisterabschluss im Fach Deutsch mit den Nebenfächern neuere Geschichte und Philosophie. In meiner letzten mündlichen Prüfung in Literaturwissenschaften wies mich der Professor darauf hin, dass ich zwar nicht gänzlich unwissend sei, mir seiner Meinung nach aber sprachlich im Wege stehe.
Er gab mir dann trotzdem eine Drei.
Seitdem stehe ich mir auf der Bühne mit Kabarettprogrammen sprachlich im Wege.

Zum Ende meiner mündlichen Prüfung in Philosophie fragte mich der Professor, was ich denn jetzt mit dem Abschluss machen werde. Ich sagte, dass ich wahrscheinlich weiter Keyboardunterricht gebe. Er fragte, ob „Keyboard“ dieses Instrument sei,
„in das man so reinpustet“. Ich antwortete ihm, dass es sich dabei wahrscheinlich um eine Melodika handle. Er sagte: „Aha.“ Im Nachhinein betrachtet scheint es mir so, als ob wir an diesem Tag vielleicht beide etwas dazugelernt haben.

Abschließend vielleicht noch ein kurzes Originalgedicht aus dem Jahr 1999, gelbes Vorlesungszentrum, ich glaube, Einführung in die Mediävistik, 10-12 Uhr c.t.

S05 T00 B08

In der letzten Reihe
sitz ich und gedeihe
akademisch schlecht.
Ich weiß nichts über Brecht
und auch nichts über Wittgenstein.
Obwohl – auch in den vorderen Reihen
so kommt es mir vor,
leiht man dem Redner nicht das Hirn,
sondern wie immer
nur das Ohr.

Das Gedicht konnte ich dann ein Jahr später als Teil einer Hausaufgabe zum Seminar „Praktische Sprachstilistik“ bei Professor Karl-Dieter Bünting einreichen. Zwei Minus. Immerhin.

 

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