Informationen rund um den SFB 1242

Was bedeutet "Nichtsgleichgewichtsdynamik kondensierter Materie in der Zeitdomäne"?

„Kondensierte Materie“:
Damit sind alle festen Stoffe und Materialien gemeint, die es in unserer Welt gibt. Aber auch Flüssigkeiten werden dazugerechnet. Gase oder Plasmen gehören nicht dazu.

„Zeitdomäne“:
Im Sonderforschungsbereich werden Methoden entwickelt, mit denen ultraschnelle Prozesse, wie in einem Zeitlupen-Film, beobachtet werden können. Kurze Zeitspannen können in der Physik auch spektroskopisch bestimmt werden. Man spricht dann von der „Frequenzdomäne“. Bei solchen indirekten Methoden können aber Details des Zeitverlaufs verloren gehen. Damit möglichst alle Einzelheiten des Zeitverlaufs abgebildet werden können, treiben wir die Entwicklung von Methoden in der Zeitdomäne voran.

„Nichtgleichgewichtsdynamik“:
Wird ein System, dass sich zunächst in Ruhe befindet, einem kurzen Impuls ausgesetzt, so kann es in einen neuen, angeregten Zustand versetzt werden. Ein Golfball erhält durch den Schläger eine hohe Geschwindigkeit; eine Glocke wird in Schwingungen versetzt; ein Stoßdämpfer wird zusammengedrückt. Nach einiger Zeit kehrt das System wieder in einen stabilen Zustand zurück: Der Golfball ruht wieder, die Glocke ist ausgeschwungen, der Stoßdämpfer ist in die ursprüngliche Position zurückgekehrt. Die anfangs vorhandene Energie (Bewegungsenergie, Schwingungsenergie, Federspannungs-Energie) ist dabei in allen Fällen in Wärme umgewandelt worden. Aber was genau ist dazwischen passiert? Bei den genannten Beispielen kann das mit schnellen Kameras genau verfolgt werden. Aber bei angeregten Elektronen oder Schwingungen von Kristallen war dies bisher nicht möglich. Hier werden Methoden benötigt, die eine Zeitauflösung bis in den Bereich von 0,000 000 000 000 1 Sekunden ermöglichen. Diese werden im SFB 1242 weiterentwickelt.

Zwei Beispiele in unseren Erklär-Videos (Kapitza-Pendel und Leidenfrost-Effekt) veranschaulichen, wie neue Effekte und Phänomene entstehen können, wenn ein System gezielt (und heftig!) aus dem Gleichgewicht gebracht wird.

Was sind die Forschungsziele?

Durch die Anregung mit einem äußeren Stimulus (z. B. optisch per Laser) wird ein System (z. B. eine Metallschicht) in einen angeregten Zustand ("Nichtgleichgewicht") versetzt. Danach wird das System mit höchster Zeitauflösung beobachtet, um so verschiedene Fragen zu beantworten: Auf welche Weise kehrt das System in seinen "Ruhezustand" zurück? Welche Zwischenzustände nimmt es auf dem Weg ins Gleichgewicht ein? Durchläuft es dabei vielleicht neuartige Zustände, die es im Gleichgewicht nicht gibt? Wo bleibt die Energie, die dem System durch den Stimulus anfangs zugeführt wurde?

Ziel ist ein materialübergreifendes, mikroskopisches Verständnis von Nichtgleichgewichtszuständen und von der Dynamik, mit der ein angeregtes Material über verschiedene Zwischenzustände wieder ins Gleichgewicht gelangt. Daraus können sich neue Impulse und Konzepte für die Wissenschaft und für neue Anwendungen ergeben. Vielleicht könnten auch vollständig neue Materialeigenschaften entstehen, die ausschließlich im Nichtgleichgewicht existieren.  

Mit welchen Methoden wird geforscht?

In unserem Sonderforschungsbereich geht es vor allem um eines: schneller zu sein als die untersuchten Prozesse. Als zentrale Methode wird das sogenannte "pump-probe"-Verfahren eingesetzt. Diese Anregungs-Abfrage-Experimente sind üblich in der Ultrakurzzeit-Spektroskopie, deren zeitliche Auflösung im Femtosekundenbereich liegt. Eine Femtosekunde sind 0,000 000 000 000 001 Sekunden! Das Ganze funktioniert zum Beispiel so: Materie wird mit einem kurzen, intensiven Laserpuls in einen angeregten, elektronischen Zustand versetzt. Durch einen zweiten, zeitlich verzögerten Laserpuls wird die Reaktion der Materie auf den ersten Laserpuls abgefragt. Die Messwerte (abhängig von der Verzögerungsdauer) zeigen die Dynamik der nach der Anregung ablaufenden Prozesse.

Für welche Anwendungsbereiche ist das von Bedeutung?

Wir betreiben Grundlagenforschung und wollen quasi in erster Linie wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Da im Zuge unserer Forschung vollständig neue Materialeigenschaften entstehen könnten, die ausschließlich im Nichtgleichgewicht existieren, sind diese Erkenntnisse jedoch durchaus anwendungsrelevant. Fragen nach der strukturellen Dynamik auf Oberflächen oder danach, wie Energie transportiert wird, geben beispielsweise neuen Aufschluss über die (Weiter-)Entwicklung von Isolatoren in elektrischen Geräten oder Silizium-Wafern in der Solartechnik. Diese Nichtgleichgewichtszustände zu verstehen, bietet ein vielschichtiges Potential für die Kontrolle von Materie und Energie, kombiniert mit neuartigen Möglichkeiten für eine nachhaltige Gestaltung der Zukunft.

Was ist ein Sonderforschungsbereich?

Wissenschaft der Extraklasse: Sonderforschungsbereiche sind langfristige, auf die Dauer von bis zu zwölf Jahren angelegte Forschungseinrichtungen der Hochschulen, in denen Wissenschaftler/innen im Rahmen eines fächerübergreifenden Forschungsprogramms zusammenarbeiten. Gefördert werden sie durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Solche Sonderforschungsbereiche ermöglichen es, innovative, anspruchsvolle, aufwendige und langfristig konzipierte Forschungsvorhaben zu bearbeiten und dienen der institutionellen Schwerpunkt- und Strukturbildung.

Die Corona-Pandemie hat im Jahr 2020 auch einen wichtigen Aspekt der Sonderforschungsbereiche gezeigt. Der Impfstoff der Firma BioNTech ist auf Forschungsarbeiten an einem Mainzer SFB zurückzuführen. Hier zu hat die DFG eine Pressemitteilung veröffentlicht.

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Wie wird ein Sonderforschungsbereich gefördert?

Ein Sonderforschungsbereich wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bis zu 12 Jahre lang finanziell gefördert, wobei eine Förderperiode jeweils vier Jahre beträgt.  Dazu muss ein Antrag gestellt werden, der verschiedene Kriterien erfüllen muss. Ziel der Förderung ist es, exzellente Forschung im Verbund zu realisieren. Die Summe hängt von dem Projekt ab und wird im Verlauf der Antragstellung und Bewilligung festgelegt. Ein großer Teil der bewilligten Fördersumme kommt dem wissenschaftlichen Nachwuchs zugute, denn in Sonderforschungsbereichen werden zahlreiche Promotionsprojekte und -stellen finanziert. 

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Welche Anforderungen muss ein Sonderforschungsbereich erfüllen?

Ein Sonderforschungsbereich zeichnet sich aus durch eine hohe wissenschaftliche Qualität und Originalität auf international wettbewerbsfähigem Niveau, ein anspruchsvolles und langfristig konzipiertes Forschungsprogramm, die Vernetzung der Teilprojekte und hervorragend ausgewiesene Wissenschaftler/innen. Zudem muss eine angemessene personelle, finanzielle und infrastrukturelle Grundausstattung vorhanden sein, und der Sonderforschungsbereich muss zur Schwerpunkt- und Strukturbildung an den antragstellenden Hochschule beitragen. Auch die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der Gleichstellung von Wissenschaftler/innen sowie ein professionelles Management müssen sichergestellt sein.

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Wer macht bei einem Sonderforschungsbereich alles mit?

Antragsberechtigt sind alle Universitäten (und ihnen gleichgestellte Hochschulen mit Promotionsrecht) in Deutschland. Diese können andere Forschungseinrichtungen, welche essentielle Beiträge zum Forschungsprogramm leisten, mit einbeziehen. Von den ausgewählten Universitäten können verschiedene Fakultäten und Institute an dem Forschungsprogramm teilnehmen. Sonderforschungsbereiche bestehen aus einer Vielzahl von Teilprojekten. Anzahl und Größe der Teilprojekte ergeben sich aus dem Forschungsprogramm des Verbunds. Die Teilprojekte werden von einzelnen oder von mehreren Wissenschaftlern/innen gemeinsam geleitet.

Auch unser Sonderforschungsbereich besteht, wie üblich, aus vielen einzelnen Projekten, die fachlich eng miteinander verzahnt sind. Eine kompakte Übersicht dazu finden Sie unter "Von A bis Ö – Die Teilprojekte".

 

KTF 11092018
 

(c) Horn-von Hoegen
​Unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der Internationalen Tagung zur "Nichtgleichgewichtsdynamik kondensierter Materie in der Zeitdomäne", die im September 2018 in der Abtei Rolduc (Kerkrade, Niederlande) stattfand. Weitere Informationen zu dieser Konferenz und unseren Gästen finden Sie hier (Englisch).

 

Wir hoffen, dass damit die wichtigsten Fragen beantwortet sind.
Fehlt etwas? Dann zögern Sie nicht, uns anzusprechen!

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Irgendwo auf dieser Seite haben wir ein Zitat von Goethe verwendet.
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