Neu, Rainer (2006-09-11): Ein Wort zum 5. Jahrestag des 11. September

Schart, Aaron, last edited: 2007-04-05

Der 11. September. Kein Datum wie irgendein anderes. Ich werde die apokalyptischen Bilder nicht vergessen, die heute vor fünf Jahren um die Welt gingen. Fassungslos saß ich vor dem Fernseher und sah, wie sich eine riesige Boeing in einen der über 400 Meter hohen Türme des World Trade Center in New York bohrte und explodierte. Achtzehn Minuten später schlug eine weitere Boeing in den zweiten Turm ein. Etwas später stürzte der erste Turm ein, dann sackte auch der andere Turm in sich zusammen.

Dieser Tag, der 11. September 2001, hat unsere Welt verändert. Schon wenige Stunden nach dem Anschlag wurde klar, dass auch religiöse Motive die Täter zu ihren schrecklichen Handlungen bewegten. Religion kann zur Rechtfertigung von Gewalt missbraucht werden. Wir wollen damit kein voreiliges Urteil über den Islam als Religion verbinden. Auch im Namen des Christentums sind Kriege geführt und Menschen getötet worden. Die Christenheit ist von Schuld nicht frei. Von der überwältigenden Mehrheit der Muslime wird der Anschlag auf das World Trade Center verurteilt. Auch unter Muslimen gilt Terrorismus als Pervertierung der Religion. Der Koran, die heilige Schrift der Muslime, lehrt, dass Böses nicht mit Bösem, sondern mit Gutem vergolten werden soll [Sure 13,22]. Die Menschen sollen mit Weisheit ermahnt werden und selbst mit Feinden soll auf ‚eine möglichst gute Art’ gestritten werden [Sure 16,125].

Allerdings berufen sich auch die Terroristen auf den Koran. Auch sie glauben von dieser Schrift inspiriert zu sein und den Willen Gottes zu tun. In diesem Punkt dürfen wir von den Muslimen ein paar Klärungen erwarten: Wie ist der Koran in diesen Fragen zu verstehen? Wer ist legitimiert im Namen des Koran zu sprechen und zu handeln? Können Christen und Muslime gegen Fanatiker und Gewalttäter gemeinsam vorgehen?

Religionen dürfen sich nicht dazu verführen lassen Konflikte zu schaffen oder zu verstärken. Nein, Religionen können und müssen zur Konfliktentschärfung beitragen. Versöhnung und Frieden sind ihr ureigenstes Anliegen. Ein Dialog der Religionen kann dazu beitragen Feindbilder und Ängste abzubauen. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer hat schon vor siebzig Jahren gesagt: „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit.“ Er meinte damit den Versuch, vermeintliche Sicherheit durch Gewalt und Krieg zu erreichen. Sicherheit entsteht nur durch Vertrauen und Frieden. Die erreichen wir durch Verständigung und Versöhnung. Dafür lohnt es sich Geld, Zeit und Kraft zu investieren und ein neues Denken zu wagen.

Mahatma Gandhi, der gewaltlose indische Freiheitskämpfer, formulierte 1947 eine Botschaft, die auch für unsere Zeit gilt: „Die Menschen haben fortwährend versucht Gewalt und Krieg damit zu rechtfertigen, dass Selbstverteidigung unumgänglich sei. Man war sich über die Regel einig, dass der Gewalt des Angreifers nur durch die überlegene Gewalt des Verteidigers zu begegnen sei. So sind die Menschen weltweit in einen wahnwitzigen Rüstungswettlauf hineingeschlittert und noch ist nicht abzusehen, wann der Tag kommen wird, das Schwert mit dem Pflug zu vertauschen."

Was müssen wir also tun, um aus der Spirale der Gewalt auszubrechen? Zunächst müssen die Religionen gemeinsam der Gewalt abschwören. Dann müssen wir uns gegenseitig besser kennen lernen. Wir werden das Gemeinsame entdecken, aber auch Differenzen wahrnehmen. Wir werden lernen müssen, Differenzen zu akzeptieren und auszuhalten. Und schließlich brauchen wir den Mut den Fremden nicht als Gegner, sondern als Gegenüber und Partner zu erleben, der unser Leben zu bereichern vermag.

 

                                                                                                                                                                      Dr. Rainer Neu

Dieser Text wird am 11. September 2006 auch in WDR 3, 4 und 5 ausgestrahlt.    

Sie empfangen den Beitrag jeweils vor den Nachrichten auf WDR 3 um 7. 55 Uhr, 

auf WDR 4 um 8. 53 Uhr und auf WDR 5 um 6. 55 Uhr.