Die Biographie Walter Ghims

Der erste Erinnerungsort Die Biographie Walter Ghims

Die erste Biographie Gerhard Mercators entsteht schon kurz nach seinem Tod: In der Rumold-Ausgabe des Atlas aus dem 1595 findet sich eine kurze, lateinisch verfasste Biographie von Walter Ghim. In nahezu allen Publikationen zu Mercator wird reflexartig auf diese Biographie verwiesen, insbesondere erweist sie sich natürlich als idealer Steinbruch für allerlei deklaratives Wissen rund um den berühmten Geographen – Ghim bietet recht klare Daten für entscheidende Ereignisse in Mercators Leben. Tiefgreifender, allerdings nur in einer Nebenbemerkung ausgeführt, ist vielleicht das Postulat Marc Monmoniers über die erste Biographie: „Ghim's essay is more a long obituary than a critical biography.“1.

Der Anfang der "Vita Mercatoris"

Der Beginn von Ghims Vita im Atlas

Die Fragestellung von Marc Monmonier fragt nicht nach den Intentionen der Ghim-Biographie – so setzt er vermutlich den zeitgenössischen Begriff der vita mit der modernen Biographie gleich. Nun ist die „vitain der Geschichte der lateinischen Literatur eine Gattung von besonderer Art: Den Ausgang nimmt diese Form mit den antiken Lebensbeschreibungen der römischen Kaiser durch Sueton (2. Jhd. n. Chr.; Parallel dazu auch in der griechischen Literatur Plutarchs „bioi paralleloi“), gelangt ins Mittelalter durch die vita caroli magni Einharts in Anlehnung an Sueton, zusätzlich tritt dann noch die Sonderform hinzu, die Hagiographie (die kurze Reise durch die lateinische Literatur ersetzt nicht die eigenständige Recherche in einschlägigen Literaturgeschichten!). Diese Lebensbeschreibung erheben allerdings nicht den Anspruch (bzw. sie kannten den Anspruch noch nicht!) eine „kritische Biographie“ zu sein. Ihre Darstellungsintention zielt wohl eher auf eine Hervorhebung des tugendhaften Verhaltens der Biographierten ab: eben ein „langer Nachruf“2.

Bleiben wir bei Monmonier und schauen noch einmal genauer auf Walter Ghim. Wir scheinen es also bei der „Vita Gerardi Mercatoris“ mit einem Nachruf zu tun zu haben. Nun steht dieser nicht in einer Zeitung und wird von einem weitestgehend anonymen Autor verfasst, sondern er befindet sich im Vorfeld eines der bekanntesten Werke Mercators, dem Atlas. Dieser Nachruf wurde von Walter Ghim verfasst und steht übrigens zusammen mit Epitaph-Inschriften vor dem „eigentlichen“ Atlas-Werk.

Zu Recht mag man sich die Fragen stellen: Wer ist Walter Ghim und in welcher Beziehung steht er zu Mercator? Diese Fragen lassen sich zunächst aus der Lebensbeschreibung selbst heraus beantworten. Walter Ghim entstammte dem Patriziat der Stadt Duisburg, gehörte demnach einer alteingesessenen Duisburger Familie an und war zugleich auch der Bürgermeister (praetor) der Stadt. Darüber hinaus steht er allerdings noch in einem weiteren Verhältnis zu Mercator (nicht nur als „sein“ Bürgermeister) – er ist der Nachbar von Mercator3. Indirekt greift Ghim dann späterhin dieses Nachbarschaftsverhältnis noch einmal auf, um seine Beziehung zu charakterisieren: „Egal wo er wohnte, er verstand sich immer gut mit seinen Nachbarn, er war niemandem ein Feind.“4. Ghim scheint also seinen Nachruf auf Mercator in einer doppelten Funktion zu verfassen: Sowohl als „guter Nachbar“ Mercators, dem dadurch der Ruf eines Kenners zukommen kann, als auch als sein Bürgermeister. Folglich kann man auf die Idee kommen, dass bereits kurz nach dem Tode Mercators seitens der Duisburger Offiziellen daran gearbeitet wurde, Mercator einen bleibenden Platz in der kollektiven Erinnerung der Stadt zu schaffen. Doch über diesen Lokalkolorit hinaus verspricht natürlich der Veröffentlichungskreis des Atlas einen gewissen Weltruhm – Duisburg als Hort von Wissenschaft und Gelehrsamkeit. Warum sonst hätte Ghim so selbstbewusst seine offizielle Funktion als Bürgermeister in den Titel der Lebensbeschreibung aufnehmen sollen?5. Wenn Duisburg also ein Ort der Gelehrtenrepublik werden soll, so benötigt man die Biographie einer Person, die Teil dieser Republik war und nachhaltig gewirkt hat. Und Ghim nimmt sich seinen Nachbarn als Exempel vor, um Duisburg zu einem Wissensstandort zu machen.

Wie sieht dieses Exempel nun genau aus? Wie zeichnet sich Mercator laut Ghim aus und welche Perspektiven ergeben sich hiermit möglicherweise für einen Wissensstandort Duisburg? Die Lebensbeschreibung lässt sich grob in zwei Teile unterscheiden. Der erste Teil der Vita befasst sich mit den Werken und dem allgemeinen Lebenslauf, wohingegen sich der zweite Teil der vornehmlich mit den Tugenden und dem Charakter Mercators beschäftigt. Daraus ergibt sich dann letztendlich ein gesamtheitliches Mercator-Bild, welches Ghim zu produzieren versucht.

Auffallend für den ersten Teil der Arbeit ist die Konzentration auf das geographische Oevre Mercators – im Prinzip findet sich bereits ein Jahr nach dem Tod Mercators eben diese Fundsituation, die z.B. für die Einträge in den Enzyklopädien des 18. und 19./20. Jahrhunderts später so charakteristisch sein wird. Die Werke abseits der Geographie werden angesprochen, allerdings findet der geographisch-astronomische Tätigkeitskreis Mercators mehr Beachtung – es finden sich bereits also die Leerstellen, die es heute in der Forschung gibt. So benennt Ghim folgende Wirkungskreise Mercators besonders ausführlich: Die Kartenwerke, angefangen mit der Karte des heiligen Landes über die Europakarte, die Karte ad usum navigantium (also jene Karte, die die Mercator-Projektion begründet), die Herausgabe des Ptolemaios und schließlich natürlich das Werk, in dem die Biographie abgedruckt wurde: der Atlas.

 

Kolorierter Frontispiz des Atlas

Auch die Globen und Instrumente, die Mercator baute, werden gebührend von Ghim beachtet. Nur kurz wird die Chronologie abgehandelt, der Inhalt selbiger wird nicht wirklich beschrieben. Ebenso finden die Evangelienharmonie und die Kommentare zu den Paulus-Briefen kurz Erwähnung. Rein quantitativ gesehen nehmen die geographischen Werke auch bei Ghim den meisten Raum ein. Über chronologische und theologische Werke verliert er dabei bei weitem weniger Worte. Dennoch bescheinigt er der Chronologie zumindest eine vereinzelt begeisterte Rezeption. So habe der italienische Gelehrte Onuphrius Panvinius (1529-1568, war ein italienischer Antikenliebhaber) einen besonderen Vorzug für die Chronologie Mercators gehabt6. Insgesamt lässt sich für den ersten Teil der Biographie sagen, dass Ghim das Werk Mercators in relativer Breite rezipiert (sofern man nicht davon sprechen kann, dass er es aufzählt) – allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung.

Eindeutiger Schwerpunkt liegt auf den geographisch-astronomischen Werken wie Karten und Globen, was sich auch in der ausschließlichen Berufsbezeichnung cosmographus niederschlägt. Mercator wird also zu einem Universalgelehrten mit eindeutigen „Paradegebieten“, auch wenn Exzellenz zumindest auch in einigen anderen Bereichen seines Wirkens bescheinigt wird. Dennoch gibt eine derartig breit aufstellte Person eine ordentliche Werbung für den Wissenstandort Duisburg ab.

„Nun verbleibt es, dass ich einige wenige Dinge über seine gefälligen Sitten, seine besonders ehrenhafte Lebensweise, zum Lob und auch zur Empfehlung des beeindruckenden Mannes sage.“7 - so beginnt der quasi zweite Teil der Lebensbeschreibung Gerhard Mercators. Nachdem im ersten Teil die Werke des Kosmographen im Vordergrund standen, nimmt sich Ghim hier vor, über die Tugenden und Sitten Mercators zu reden. Diese Darstellung des Charaktes von Gerhard Mercator wird eröffnet durch die Darstellung des Verhaltens Mercators, aus der Perspektive Ghims, in Bezug auf die Bürger der Stadt Duisburg. Demnach war er ein friedfertiger Charakter, der keinen Zwist mit irgendjemandem suchte und den Magistraten der Stadt stets höflich und respektvoll begegnete. Warum vermerkt Ghim dies in einer Biographie? Vermutlich gilt es, Mercator als einen guten Bürger der Stadt Duisburg darzustellen und somit seiner Erinnerungswürdigkeit im Rahmen des städtischen Gedächtnisses einzuräumen. Dies würde dem Gedächtnis der Stadt einen nicht nur in seinen Werken, sondern auch in seinen Taten erinnerungswürdigen Menschen erhalten – quasi ein gelehrter und tugendreicher Mann. Diese enthaltsame, gutmenschliche christliche Tugend wird auch an weiterer Stelle in der Biographie ausgeführt: So war Mercator den weniger begüterten Menschen stets mildtätig und ein Bewahrer und Hüter der Gastfreundschaft, sowie stets um seine Werke bemüht – Ghim fand ihn nie tatenlos vor, sondern stets in die Arbeit vertieft. Mercator ist also das beste Beispiel für eine vita activa: Eine dem zurückgezogenen Mönchstum entgegengesetzte Lebensform, die aktive christliche Nächstenliebe betont.

Allerdings möchte Ghim keineswegs nur einen guten Christen beschreiben, sondern vielmehr einen tätigen Mann. Besonders hebt Ghim daher die Einbindung Mercators in ein Netzwerk von Gelehrten hervor – ebenso wie die Inhalte der Gespräche mit diesen Persönlichkeiten: „Nichts besseres konnte ihm passieren als freundschaftlich und zuvorkommend über alle Philosophen […], über die Taten der allergrößten Männer […] zu diskutieren.“ - auch im internationalen Kontext. Die Erinnerung an einen derartig eingebundenen Mann muss für den Standort Duisburg einfach von Vorteil sein: Es begründet eine Tradition der Einbindung Duisburgs in den internationalen Wissenskontext der frühen Neuzeit.

Kritische Biographie oder langer Nachruf? In keinem Falle das erstere, die Schreibintention ist eine andere: Die Darstellung eines Duisburger Bürgers, der bedeutende Werke hervorgebracht hat, darüber hinaus eine christliche vita activa geführt hat und damit stets Verflechtungen in die internationalen Wissenskontexte hatte. Der Text liest sich wie der Nachruf auf einen Mann, der als Litfaßsäule der Wissensfabrik Duisburg herhalten soll: Warum sonst wird er dem Werk Mercators beigefügt? Der erste Erinnerungsort wird durch Walter Ghim im Jahre 1595 errichtet.

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1 Monmonier, Marc, Rhumb Lines and Map Wars, Chicago 2004:32.

2 Vgl. Dihle, Albrecht, Antike in Grundlagen in: Berschin, Walter, Biographie zwischen Renaissance und Barock, Heidelberg 1993:1ff.

3 Vita Mercatoris, „cumque sedem hic apud nos in nostra vicinia fixisset [...]“.

4 cum vicinis, ubicumque habitaret, semper illi optime convenit, nemini adversus fuit [...].

5 Vita Celeberrimi Clarissimique viri Gerardi Mercatoris Rupelmundani a Domino Gualtero Ghymmio, Patritio Teuroburgensi, ac eiusdem oppidi antiquissimi Praetore dignissimo, conscripta.

6 Vgl. hierzu: Steiner, Benjamin, Die Ordnung der Geschichte, München 2008:110.

7 Vita Mercatoris, restat nunc, ut pauca quaedam, de illius placidis moribus honestissiomoque vitae genere, in eximij viri laudem ac commendationem dicamus.