Teil I: Kind sein in der postsowjetischen Gesellschaft

Teil I: Kind sein in der postsowjetischen Gesellschaft

Kirgisistan im Frühjahr 2010. Die Proteste gegen die Regierung eskalieren, der Präsidentenpalast wird gestürmt. Die Revolution kostet viele Menschen das Leben und den Präsidenten das Amt. Während der Mob auf der Straße tobt, sitzen Studentin Jessica Schwittek und ihre Professorin Doris Bühler-Niederberger in einem Gästehaus fest und wissen nicht weiter. Ihr Fahrer hatte sie gedrängt, ihre Feldforschung in einem entlegenen Dorf der Provinz Alai abzubrechen und sich in Sicherheit zu bringen. Doch was nun?

„Die Situation war ziemlich angespannt und für uns schwer einzuschätzen. Die Flughäfen und die Highways waren gesperrt und es waren kaum brauchbare Informationen zu bekommen“, erinnert sich Jessica Schwittek. Es folgte eine lange Woche, in der unklar war, wie sich die Situation entwickeln würde. „Aus irgendwelchen Gründen hatten wir eine Loriot DVD-Box dabei, die war einfach Gold wert und hat für etwas Zerstreuung gesorgt!“ Irgendwann meldet sich die Botschaft, man könne sie holen kommen. Schließlich entspannt sich die Lage aber so weit, dass die Frauen eigenständig ausreisen können. „Tja, so war mein erster Ausflug in die Feldforschung“, lacht Schwittek, „und er prägt mich bis heute.“

Zugegeben: Selten sind wissenschaftliche Reisen so dramatisch-abenteuerlich, noch machen sie den Großteil eines Forscherlebens aus. Und doch sind sie für Jessica Schwittek ein wichtiger Teil ihrer Arbeit – und machen sie demütig. „Ich weiß, wie privilegiert ich als weiße Forscherin aus Europa ins Feld gehe. Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort haben diese Privilegien oft nicht und müssen mit ihren Lebensumständen zurechtkommen. Wir sind bei unserer Arbeit auf die Unterstützung von Hilfsorganisationen, Stiftungen, Übersetzern oder Fahrern angewiesen. Das beeinflusst, wie man schaut, wie man denkt, wie man die Fragen stellt.“ Es brauche eine große Anpassungsfähigkeit. Umdisponieren und kreative Lösungen finden – beides sind Stärken der 38-Jährigen.

Nach Kirgisistan war sie damals mit ihrer Professorin gereist. Sie wollten qualitative Interviews mit Kindern und Jugendlichen sowie mit deren Verwandten führen, um mehr über ihr Aufwachsen und ihre Position in der postsowjetischen Gesellschaft zu erfahren. Der Umsturz machte dies unmöglich. „Deshalb habe ich junge Kirgisen über den DAAD kontaktiert. Die waren mit einem Stipendium hier. Mit ihnen habe ich dann sprechen können und retrospektiv auf deren Kindheit und Jugend geschaut. Daraus ist dann meine Dissertation entstanden.“

Children-forschungstalente

​Die Datenerhebung vor Ort wurde ebenfalls wieder aufgegriffen. Insgesamt fünf Mal bereiste sie das Land an der Seidenstraße, blieb zwischen zwei und fünf Wochen. „Da macht man dann auch wenig anderes, als Forschung, Memos und Notizen zu schreiben und Datenmaterial zu sortieren.“ Eine lange Phase der Datenaufbereitung und -analyse folgte. „Die Zusammenhänge herausarbeiten, Themen, die aufgetaucht sind, vertiefen – auch das macht mir viel Spaß. Gerade, weil man das gemeinsam tut“ – in diesem Fall im internationalen Team mit Kolleg:innen aus Kirgistan und Deutschland.

Am Schluss steht dann das Aufbereiten für Publikationen. Alles in allem kann so ein Forschungsprojekt schon mal drei, vier Jahre dauern. Noch immer entstehen aus den damals entwickelten Ideen und Ergebnissen gemeinsame Projekte mit ihrer früheren Doktormutter Doris Bühler-Niederberger.

Für Soziologie Feuer gefangen

Flexibel war die gebürtige Düsseldorferin auch schon in ihrem Studium. Ursprünglich mit Psychologie in Berlin gestartet, wechselte Schwittek an die Uni Wuppertal – und stellte bald fest, dass sie die Soziologievorlesungen viel spannender fand, besonders die von Professorin Doris Bühler-Niederberger. „Von ihren Veranstaltungen war ich sofort total fasziniert und habe Feuer gefangen für die soziologischen Thematiken des privaten Lebens.“ Ihren Abschluss machte Schwittek als Diplom-Psychologin, in Soziologie promovierte sie.

Seit 2018 arbeitet sie an der UDE, in der AG Sozialisationsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft, gemeinsam mit Professorin Alexandra König. Ihr neues Forschungsprojekt zu transnationalen Kindheiten, eine Kooperation mit Wissenschaftler:innen der Universität Wrocław, startet in Kürze: „Wir gehen der Frage nach, wie Kinder in Polen, von denen viele Eltern zeitweise in die Arbeitsmigration gehen, eigentlich auf diese Familienarrangements schauen. Wie sie sie bewerten und was die Vorzüge, aber auch die Herausforderungen aus ihrer Perspektive sind.“ Oft beschäftige sich die Forschung vorrangig mit den Erfahrungen und Anliegen von Erwachsenen. Bis heute brennt die Wissenschaftlerin für das Thema Kindheit und Jugend in unterschiedlichen Gesellschaften.

Von Cathrin Becker.

Stand: 03/2022

Bildnachweise: privat