Kommunikation und 'professional vision' in der Katastrophen-Medizin. Veränderung der Rolle des Notarztes im Krisenfall

Prof. Dr. Karola Pitsch, Institut für Kommunikationswissenschaft

Um mit Großschadenslagen wie z.B. Busunglücken, Anschlägen etc. adäquat umgehen zu können, ist die Vorbereitung darauf – mit der Entwicklung von Kommunikationskonzepten und technologischer Unterstützung sowie deren praktischer Erprobung – zentral. Bisher sind die Konzepte zur Bewältigung von Großschadenslagen – in medizinischer Terminologie: Massenanfall von Verletzten (MANV) – aus Sicht der Regelrettungsdienste entwickelt worden. Dieses wird flankiert von der Entwicklung neuer Technologien zu ihrer Unterstützung, wobei erste Hinweise ihres Einflusses auf die Praktiken im Feld erkennbar werden. Wie genau die Kommunikation und Interaktion zwischen den beteiligten Einsatzkräften im situativen Handlungsvollzug abläuft, ist bislang noch unerforscht. 

In Großschadenslagen entsteht ein veränderter Bedarf an institutionell verfassten Handlungsorientierungen und professionellen Rollen der Akteure. So ist z.B. ein Notarzt im MANV angesichts der vorübergehenden Mangel-Versorgung nicht primär mit der sofortigen Behandlung eines Patienten befasst (Individual-Medizin), sondern führt eine 'Triage' der Verletzten mit Festlegung von Behandlungsprioritäten durch (Katastrophen-Medizin) und/oder übernimmt Führungs- und Koordinationsaufgaben in enger Abstimmung mit anderen Professionen. Insgesamt entsteht so ein hochgradig komplexes Handlungsgefüge, in dem eine Vielzahl an Rettungskräften (häufig: 100+) aus unterschiedlichen Kontexten (Feuerwehr, Ärzte, Rettungssanitäter, Hilfsorganisationen, Polizei ...) in enger Kooperation und Koordination miteinander arbeitet.

Vor diesem Hintergrund soll im Projekt empirisch die Rolle des (Leitenden) Notarztes in Katastrophen-MANV-Übungen untersucht und dabei nach den ihn involvierenden Kommunikations- und Interaktionsprozessen sowie nach der spezifischen ‚professional vision’ gefragt werden. Konkretes Ziel dieser Anschubfinanzierung ist die Erhebung eines Corpus von multi-perspektivischen Interaktionsdaten aus authentischen MANV-Übungen. Hierzu werden Trainingssituationen mittels zeitsynchronisierter Aufzeichnungen von multiplen Video-Kameras, mehreren mobilen Eye-Tracking-Brillen, einer Drohnen-Kamera und der Funk-Kommunikation dokumentiert sowie in interdisziplinärer Kooperation die Bewegungsdaten der Teilnehmer aufgezeichnet.