Grammatische Fähigkeiten mehrsprachiger Kinder (GME)
Grammatische Fähigkeiten mehrsprachiger Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung (GME)
Projektleitung
Prof. Dr. Tanja Ulrich
Projektkoordination
Dr. Sandra Mennicken
Unter Mitarbeit von:
Kimberly Beil, Jeannine Arenz, Sina Reeker, Michelle Seidel, (Studierende des BA Sprachtherapie bzw. Lehramts Sonderpädagogische Förderung der Universität zu Köln), Mia Kulic, Janis Ihnen (studentische Hilfskräfte, Universität Duisburg-Essen)
Kooperationspartner
Amt für Kinder, Jugend und Familie der Städte Köln und Düsseldorf
Laufzeit
2019–2024
Hintergrund
Das Projekt GME untersuchte, welche grammatischen Fähigkeiten mehrsprachig aufwachsende Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung zeigten. Die umfassende Erhebung sprachlicher Fähigkeiten stellt die notwendige Grundlage dar, um den sprachlichen Entwicklungsstand eines Kindes beurteilen und eine evtl. indizierte Förderung möglichst individuell anpassen zu können. Während für einsprachig deutschsprachige Kinder umfangreiche Normdaten vorliegen, fehlte bislang eine solide empirische Grundlage für Kinder, die mit mehreren Sprachen aufwachsen. Ziel des Projekts war es, die sprachdiagnostische Bewertung mehrsprachiger Kinder zu verbessern und mögliche Fehleinschätzungen – etwa eine fälschliche Klassifikation als sprachauffällig (mistaken identity) oder sprachunauffällig (missed identity) – zu vermeiden.
Ziel
Das Forschungsvorhaben zielte darauf ab, Orientierungsdaten über den Ist-Zustand zu den grammatischen Fähigkeiten mehrsprachiger Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung zu gewinnen. Im Mittelpunkt standen dabei zentrale Bereiche der deutschen Grammatik – insbesondere Subjekt-Verb-Kongruenz, Verbzweitstellung im Hauptsatz und Verbendstellung im Nebensatz. Erfasst wurde, welche grammatischen Strukturen mehrsprachige Kinder bereits sicher anwenden und in welchen Bereichen sie noch Entwicklungsbedarf zeigen.
Methode
Die Datenerhebung erfolgte 2022 und 2023 in 41 Kindertageseinrichtungen in Köln und Düsseldorf. Teilgenommen haben 371 Kinder im Vorschulalter (5;4-6;7 Jahre, MW=70,65 Monate, SD=4,19 Monate), die neben Deutsch mindestens eine weitere Sprache sprechen und eine Kontaktzeit mit der deutschen Sprache von mindestens 18 Monaten haben. Insgesamt wurden neben dem Deutschen 64 verschiedene Erstsprachen dokumentiert. Zur Erfassung der grammatischen Fähigkeiten wurde das standardisierte Verfahren ESGRAF 4–8 (Motsch & Rietz, 2016) eingesetzt, das zuvor auf seine Eignung für mehrsprachige Kinder geprüft wurde. Ausgewertet wurden die Subtests für Subjekt-Verb-Kongruenz, Verbzweitstellung und Verbendstellung. Die Analysen erfolgten quantitativ und wurden durch qualitative Auswertungen ergänzt, die sich u. a. auf die Analyse der von der Zielstruktur abweichenden Äußerungen sowie die Zusammenhänge zu möglichen Einflussvariablen fokussierten.
Die Ergebnisse wurden dabei sowohl für die Gesamtstichprobe als auch für die eingeteilten Erwerbstypen sowie die definierten Kontaktzeitgruppen ausgewertet, um einen möglichst detaillierten Einblick in die grammatischen Fähigkeiten mehrsprachiger Kinder zu bieten.
Zentrale Ergebnisse
Die Datenauswertung zeigte, dass viele mehrsprachige Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung bereits über ein beachtliches Repertoire grammatischer Strukturen verfügen, insgesamt die Leistungen jedoch in allen untersuchten Bereichen deutlich variieren. Rund zwei Drittel der Kinder erreichten bei der Subjekt-Verb-Kongruenz das 90%-Erwerbskriterium, während die Verbzweitstellung seltener vollständig beherrscht wurde. Besonders herausfordernd erwies sich die Verbendstellung im Nebensatz, die nur von etwa einem Drittel der Kinder korrekt produziert wurde.
Einflussfaktoren wie Erwerbstyp (simultan vs. sukzessiv), Kontaktzeit mit der deutschen Sprache und sozioökonomischer Hintergrund wirkten sich – z. T. signifikant – auf die Ergebnisse aus. Kinder mit längerer Kontaktzeit und früherem Erwerbsbeginn zeigten im Durchschnitt höhere Korrektheitswerte. Die Analyse der Fehlertypen verdeutlichte, dass grammatische Abweichungen häufig systematisch und entwicklungsbedingt waren – also nicht zwingend auf eine Sprachentwicklungsstörung hindeuten.
Bedeutung und Ausblick
Die Ergebnisse liefern erstmals empirisch fundierte Orientierungswerte für die grammatischen Fähigkeiten mehrsprachiger Kinder im Vorschulalter. Sie tragen dazu bei, die diagnostische Einschätzung mehrsprachiger Kinder im schulischen und therapeutischen Kontext zu verbessern. Für die Praxis bedeutet dies, dass sprachliche Auffälligkeiten differenzierter bewertet werden können, indem individuelle Faktoren wie Kontaktzeit, Erwerbsverlauf und Erstsprache stärker berücksichtigt werden. Künftige Analysen sollten insbesondere den Einfluss einzelner Erstsprachen auf den Erwerb der deutschen Grammatik weiter untersuchen sowie die Subjekt-Verb-Kongruenz in Abhängigkeit von der Verbposition untersuchen. Auch die Ergebnisse im potenziell auffälligen Bereich beim Pseudowörter-Nachsprechen sollten gesondert betrachtet werden, um zu analysieren, ob all diese Kinder auch niedrige Korrektheitswerte in den untersuchten grammatischen Bereichen haben oder ob einige Kinder fälschlicherweise als auffällig klassifiziert wurden, weil die Konstruktion der Pseudowörter sie benachteiligte.
Outcome
Vorarbeiten und Pilotstudien
Ulrich, T.; Thater, S.; Mennicken, S. (2021): Kasusfähigkeiten mehrsprachiger Achtjähriger. Eine explorative Pilotuntersuchung in Regelgrundschulen. Logos 29(2), 84-95.
Olbertz, L. K. (2019): Differenzen zwischen mündlichen und schriftsprachlichen Kasusfähigkeiten mehrsprachiger Kinder im dritten Schulbesuchsjahr einer Grundschule. Unveröffentlichte Masterarbeit. Köln: Universität zu Köln.
Heise, C. (2018): Erhebung der frühen grammatischen Fähigkeiten Subjekt-Verb-Kongruenz und Verbzweitstellung im Hauptsatz bei Schulanfängern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen. Ein Vergleich von monolingual-deutschen und mehrsprachigen Schulanfängern einer Förderschule Sprache. Unveröffentlichte Masterarbeit. Köln: Universität zu Köln.
Lohaus, A. (2018): Verwendung der Verbendstellungsregel von simultan-bilingualen und sukzessiv-bilingualen Erstklässlern. Unveröffentlichte Masterarbeit. Köln: Universität zu Köln.
Plura, H. C. (2018): Erhebung der frühen grammatischen Fähigkeiten Subjekt-Verb-Kongruenz und Verbzweitstellung im Hauptsatz. Ein Vergleich von mehrsprachigen Schulanfängern einer Regelgrundschule und einer Förderschule Sprache. Unveröffentlichte Masterarbeit. Köln: Universität zu Köln.
Thater, S. M. (2018): Kasusfähigkeiten mehrsprachiger Kinder im Deutschen. Eine Untersuchung der Akkusativ- und Dativkorrektheit bei Achtjährigen an Regelschulen. Unveröffentlichte Masterarbeit. Köln: Universität zu Köln.
Baumeister, I. (2017): Der Genuserwerb im Deutschen bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern. Eine vergleichende Untersuchung von Kindern mit türkischer und romanischer Erstsprache. Unveröffentlichte Masterarbeit. Köln: Universität zu Köln.
Publikationen zu den Ergebnissen des Projekts
Mennicken, S. (2024). Grammatische Fähigkeiten mehrsprachiger Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung (Dissertation). Universität zu Köln. Verfügbar unter https://kups.ub.uni-koeln.de/73586/.
Mennicken, S., & Ulrich, T. (2023). Wie lassen sich die grammatischen Fähigkeiten mehrsprachig aufwachsender Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung beschreiben? In A. Paier (Hrsg.), Ein Recht auf Sprache. Sprachheilpädagogische Interventionen- Fundamente der Inklusion (S. 221-232). Österreichische Gesellschaft für Sprachheilpädagogik [ÖGS]. Verlag mit Pfiff.
Ulrich, T. (11/2022): Gastvortrag 26. Aachener Kolloquium zur Logopädie, RWTH Aachen: „Sprachtherapeutische Diagnostik mehrsprachig aufwachsender Kinder. Herausforderungen für die Praxis und Beitrag des Forschungsprojekts GME.“
Ulrich, T. & Mennicken, S. (9/2021): Online-Tagung "Zukunft Bildungschancen" des Zentrums für LehrerInnenbildung der Universität zu Köln (ZfL Köln): „Welche grammatischen Fähigkeiten bringen mehrsprachige Kinder mit in die Schule? Erhebung sprachdiagnostischer Orientierungsdaten.“
Literatur
Motsch, H. J.; Rietz, C. (2016): ESGRAF 4-8. München: E. Reinhardt.




