Nonverbale Kommunikation

Urteilsgeschwindigkeit: Ein kurzer Blick genügt

Wie aus Untersuchungen hervorgeht, in denen Porträtfotos Probanden tachistoskopisch für nur wenige Sekundenbruchteile vor Augen geführt wurden, genügt bereits eine schemenhafte Wahrnehmung menschlicher Gesichtszüge, um bei den Betrachtern eine dezidierte Meinung über die Persönlichkeitseigenschaften der betreffenden Person hervorzurufen. So zeigten die Ergebnisse einer Studie, in der 16 Bewerbungsfotos, die von Studenten einer Schauspielschule eingereicht worden waren, einer Gruppe von 19 Beurteilern mit variierender Expositionszeit dargeboten wurden, dass eine Viertelsekunde genügt, um bei den Betrachtern ein höchst nuanciertes Bild vom Anderen entstehen zu lassen, bei dem sich u.a. entscheidet, ob jemand als "autoritär", "sympathisch", "gefühlsbetont", "hinterhältig", "intelligent", "langweilig" eingestuft wird. Ebenso blitzschnell wurden aufgrund solcher optischer Eindrücke Einstellungen geschaffen, die festlegen, ob man die wahrgenommene Person gerne als "Kollegen", "Vorgesetzten", "Partner" oder "Bekannten" haben möchte.

Ein fast noch überraschenderes Ergebnis ist der Befund, dass die durch nonverbale Stimuli ausgelösten Urteilsprozesse in einer Viertelsekunde praktisch abgeschlossen waren. Gab man den Beurteilern nämlich die Möglichkeit, die Bildvorlagen beliebig lange zu betrachten, so gaben diese praktisch dieselben Urteile ab: Die Eigenschaften, die Beurteiler Personen zuschrieben, die sie für eine Zeitspanne von nur 250 Millisekunden gesehen hatten, korrelierten mit den Urteilen, die bei permanenter Exposition der Bildvorlagen ermittelt wurden, im Durchschnitt in einer Höhe von r=.92. Eine Replikationsstudie, bei der den Beurteilern Porträtfotos von 45 ihnen unbekannten Personen des öffentlichen Lebens gezeigt wurden, erbrachten nahezu dieselben Ergebnisse: Die Persönlichkeitsurteile, die nach einer Viertelsekunde abgegeben worden waren, korrelierten mit denen, die permanent betrachtet werden konnten, im Durchschnitt r=.89.

Ein dritter, nicht weniger erstaunlicher Befund ist die Mühelosigkeit, mit der die Betrachter zu ihrem Urteil gelangen. Wurde nach Abschluss des Versuchs, in dem die Porträtfotos den Betrachtern für 250 Millisekunden dargeboten wurden, gefragt, ob die Expositionszeit denn nicht zu kurz gewesen sei, um sich ein Urteil zu bilden, so antworteten mehr als 80 Prozent der Probanden, nein, das habe schon ausgereicht. Ein Ergebnis, das eine aphoristische Bemerkung des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann belegt, der bereits 1922 in seinem die Medienwirkungsforschung begründenden Werk „Public Opinion“ die Auffassung vertrat, dass im krassen Gegensatz zur Sprachverarbeitung für die Bildverarbeitung „nicht mehr Mühe aufgewendet werden muss, als nötig ist, um wach zu bleiben“ (Lippmann, 1997:92).

 References

  • Die öffentliche Meinung. Lippmann, W. Bochum: Brockmeyer, 1990