Weltfrauentag 2022

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Gastbeitrag von Jasamin Ulfat-Seddiqzai Wenn Frauen zu Monstern werden

Sind Frauen in der Lage, sich am gesellschaftlichen Leben politisch und geistig zu beteiligen? Können Sie mehr als nur Kinder kriegen? Etwas polemisch könnte man formulieren: sind Frauen eigentlich auch Menschen? Es ist gut, dass wir uns heute die „Frauenfrage“ nicht mehr stellen – zumindest nicht in der öffentlichen Diskussion. Im 18. und 19. Jahrhundert war diese „woman question“ noch ein Thema, das ganz Europa beschäftigte. Und nicht jeder wollte auf die oben genannten Fragen uneingeschränkt mit „ja“ antworten.

Berühmte Denker wie John Bunyan, John Stuart Mill oder Thomas Carlyle schrieben leidenschaftliche Pro- und Contra-Essays. Aber auch Frauen ließen ihre Stimmen hören. Die Quäkerin Margaret Fell zeigte, dass Frauen religiöse Vordenkerinnen sein konnten, Anne Bradstreet erlangte als erste publizierte Dichterin Nordamerikas Aufmerksamkeit und die Aristokratin Lady Mary Wortley Montagu schrieb mit ihren „Turkish Embassy Letters“ (posthum veröffentlicht im Jahr 1763) das erste säkulare Werk einer Frau über die muslimische Welt.

Frauen schrieben aber nicht nur, sie schafften auch Fakten. Pionierinnen übernahmen traditionelle Männerjobs immer dann, wenn – wortwörtlich – Not am Mann war, was mit der Industrialisierung und später mit dem Ersten Weltkrieg immer häufiger geschah. Der Kampf der Suffragetten für das Frauenwahlrecht ist uns heute noch sehr präsent. Er wird am 8. März, dem internationalen Frauentag, mitgefeiert. Auch Symbole wie „Rosie the Riveter“, die mit ihrem Slogan „We can do it“ für das Recht der Frauen auf bezahlte Arbeit wirbt, erfreuen sich weiterhin großer Beliebtheit.

"Mädchen der Zeit"

Nicht immer wurden Frauen, die für ihre Rechte kämpfen, jedoch als gesellschaftlicher Gewinn betrachtet. Gerade zum Ende des 19. Jahrhundert mussten sich Feministinnen, die man damals noch etwas ominös „neue Frauen“ nannte, immer wieder dagegen wehren, als Zerstörerinnen der Gesellschaft gebrandmarkt zu werden. In ihrem 1868 erschienenen, anti-feministischen Essay beschrieb die Journalistin Eliza Lynn Linton diese neuen „Mädchen der Zeit“ als selbstsüchtige, unmoralische Ärgernisse, die ihre Haare färbten und ihre Gesichter bemalten und alles ihrem eigenen Vergnügen unterordneten. Immer wieder stellten sich also auch Frauen gegen die frühe Frauenbewegung.

Viele dieser Vorwürfe kennen wir auch heute noch: die moderne Frau musste sich immer schon vorwerfen lassen, eine Art Dämon zu sein. Eine Blutsaugerin, die – anders als das Ideal der fürsorglichen Mutter – nur nimmt und nicht gibt. Und so wurden schnell Vorwürfe des Vaterlandverrats laut. Welche unheilvollen Motive hatten Frauen wirklich? Ging es ihnen tatsächlich nur um mehr Rechte? Oder wollten sie mit ihrem Kampf vielleicht gar nicht das Patriarchat, sondern die westliche Zivilisation zerstören?

Platz in der Gesellschaft

Ende des 19. Jahrhunderts erschienen zahlreiche Romane, die sich mit dem Untergang des Abendlands beschäftigten. Einer davon ist Bram Stokers Klassiker „Dracula“ (1897). Die Geschichte ist schnell erzählt: der untote Graf Dracula kommt nach London, um das Land zu kolonisieren und neue Untertanen zu schaffen. Die einzigen, die er dabei wirklich zu Vampiren macht, sind Frauen. So wie die frivole Lucy Westenra, die bereits vor ihrer Verwandlung in eine Vampirin davon träumt, mehrere Männer gleichzeitig heiraten zu können. Vampirinnen, die Dracula dienen, sind schöne, wilde Kreaturen. Während die ordentliche, gute Frau Kinder mit Liebe großzieht, trinkt die Vampirin Kinderblut. Auch Lucy vergreift sich nach ihrer Verwandlung an Kindern, bis Professor van Helsing und seine Clique ihrer dämonischen Form den Garaus machen können.

In Bram Stokers Werk wird die starke Frau zum Monster. Mina Murray, auch eine Heldin der Geschichte, ist zwar ebenfalls eine „new woman“, also eine Frau, die einem Beruf nachgeht und ihren Kopf gebraucht. Nach dem Sieg über den dunklen Grafen fügt sie sich aber als Mina Harker dem Leben als Ehefrau und Mutter.

Auch andere Vampirromane der Zeit tun sich mit selbstbewussten, finanziell unabhängigen Frauen schwer. In Florence Marryats „Blood of the Vampire“ (1897) ist die Protagonistin Harriet eine junge Frau mit jamaikanischen Wurzeln, die über ein großes Erbe verfügt und gutes Essen liebt. Leider sorgt ein Gendefekt (und - ganz im Sinne des damals salonfähigen Rassismus - auch ihre afrikanischen Wurzeln) dafür, dass sie den Menschen in ihrer Umgebung die Lebensenergie aussaugt. Der Arzt diagnostiziert Vampirismus. Auch hier sterben bald Kinder und Liebhaber. Am Ende ist Harriets Suizid die einzige Lösung, um Unschuldige zu schützen.

Lange fiel uns die Vorstellung schwer, dass Frauen, die sich aus ihrer häuslichen Sphäre heraustrauten und ihren Platz in der Gesellschaft einforderten, trotzdem gute Menschen sein konnten. Die Dämonisierung von Frauenrechtlerinnen erfolgte in Zeitungsartikeln, Essays, Karikaturen und eben auch Romanen. Auch heute führt die Angst vor Veränderung und Privilegienverlust leider immer noch zu Diffamierung und Herabsetzung der Frauenbewegung.

Deswegen ist und bleibt der internationale Frauentag wichtig.

​Jasamin Ulfat-Seddiqzai lehrt und forscht an der Universität Duisburg-Essen zu britischer Literatur im Department für Postcolonial Studies. Ihre Schwerpunkte umfassen dabei Themen wie Orientalismus, Stereotypenbildung, Männlichkeitsbilder und das Porträtieren (und Verteufeln) von Weiblichkeit im 19. Jahrhundert.