Unter dem Phänomen der Synästhesie wird eine spezielle Form der Wahrnehmung verstanden, die bei wenigen Menschen auftritt. Der Begriff Synästhesie leitet sich von den griechischen Wörtern: syn=zusammen und aisthesis=Empfindung, Sinneswahrnehmung ab. Bei Synästhetikern tritt unwillkürlich und über die Zeit konsistent bei einer Sinneswahrnehmung ein weiterer Sinneseindruck auf. Die spezielle Ausprägung der Synästhesie ist hoch individuell und unterscheidet sich stark von Mensch zu Mensch. Gemeinsam ist allen Formen der Synästhesie, dass ein bestimmter Auslöser („inducer“) einen bestimmten „Parallel-Eindruck“ („concurrent“) mit sich bringt (Grossenbacher/Lovelace 2001). Dieser weitere Sinneseindruck liegt nicht in der Umwelt vor. Es kann sich um einen Eindruck innerhalb des gleichen Sinnes handeln oder einen anderen Sinn betreffen. Auch können Wahrnehmungen mehrerer Sinne betroffen sein. Die Synästhetiker können außerdem danach unterschieden werden, wie sie den Parallel-Eindruck in ihre Wahrnehmung integrieren. So wird in der Literatur danach unterschieden, ob der Eindruck nur vor dem „inneren Auge“ vorliegt oder sich quasi in der Außenwelt manifestiert und für den Synästhetiker in Konkurrenz zur Realität steht (Dixon et al. 2004).

Im weiteren Sinne wird auch ein Phänomen als Synästhesie bezeichnet, welches nicht durch sensorische Wahrnehmung der Umwelt ausgelöst wird, sondern vielmehr auf bestimmten Konzepten beruht. Dies wird auch als metaphorische Synästhesie bezeichnet. Grundsätzlich ist aber in der Literatur umstritten, ob es sich bei der Synästhesie grundsätzlich um ein wahrnehmungsbezogenes („perception“) oder eher um ein interpretatives („conception“) Phänomen handelt (Grossenbacher/Lovelace 2001).

Charakterisierung der Synästhetiker/Synästhesie

Zunächst besteht nur bedingt Einigkeit darüber, welche Kopplungen von Wahrnehmungen eigentlich als Synästhesie bezeichnet werden können. Gemeinhin wird darunter die verknüpfte Wahrnehmung eines spezifischen Stimulus mit einer spezifischen Parallelwahrnehmung verstanden (vgl. Systematik unter Posner/Schmauks 2001). Doch die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen bewerten das Phänomen unterschiedlich und stellen daher auch unterschiedliche Definitionen auf. Da hier die Synästhesie möglichst breit besprochen werden soll, erscheint allerdings eine Orientierung an der Phänomenologie sinnvoll, die nicht über verschiedene Erklärungsansätze „gefiltert“ wurde.

Erkenntnisinteresse EKfG

Die Beschäftigung mit der Synästhesie ist für unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen interessant. Unter gender-Gesichtspunkten sind vor allen Dingen aktuelle Ergebnisse aufschlussreich. So wurde über die letzten Jahrzehnte die Information reproduziert, dass deutlich mehr Frauen unter den Synästhetikern zu finden wären. Auch eine Vererbung über das X-Chromosom wurde für wahrscheinlich gehalten. Grundsätzlich wurde über eine genetische Determinierung spekuliert. Durch die Fallbeschreibung von zwei männlichen eineiigen –somit genetisch identischen- Zwillingen, von denen nur einer über eine synästhetische Wahrnehmung verfügt, konnten diese Spekulationen zurückgewiesen werden (Smilek et al. 2005). Gleichwohl kann damit eine genetische Beteiligung nicht ausgeschlossen werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich bei der Beobachtung von deutlich mehr weiblichen Synästhetiker um einen Effekt durch die Erhebungsmethode handelt. Denn systematische Untersuchungen zur Prävalenz der Synästhesie sind selten. Häufig zitierte Studien zu diesem Thema bezogen sich vor allem auf Selbstzuschreibungen von Synästhetikern (etwa Baron-Cohen et al. 1996). Es kann daher spekuliert werden, dass die unterschiedliche „Meldebereitschaft“ von männlichen und weiblichen Synästhetikern auch Unterschiede im Geschlechterkonzept offenbart.

Literatur

  • Baron-Cohen, Simon; Burt, Lucy; Smith-Laittan, Fiona; Harrison, John; Bolton, Patrick: Synaesthesia: Prevalence and familiality. In: Perception 1996, Vol. 25: 1073-79
  • Dixon, Mike J; Smilek, Daniel; Merikle, Philip M: Not all synesthetes are created equal: Projector vs. Associator synesthetes. In: Cognitive, Affective & behavioral neuroschience, Vol. 4 Num. 3, Fall 2004 335-343(9)
  • Grossenbacher, Peter G.; Lovelace, Christoper T.: Mechanisms of synesthesia: cognitive and physiological constraints. In: Trends in cognitive Sciences Vol. 5, Iss. 1, 1 Jan 2001:36-41
  • Posner, Roland, Schmauks, Dagmar: Synästhesie: Physiologischer Befund, Praxis der Wahrnehmung, künstlerisches Programm. In: Zeitschrift für Semiotik. Band 24, Heft 1, 2002. S. 3-14
  • Smilek, Daniel; Dixon, Mike J.; Merikle, Philip: Synaesthesia: Discordant male monozygotic twins. In: Neurocase (2005) 11: 363-370

Kunsttag 2006

Eine wissenschaftliche und künstlerische Bearbeitung der Synästhesie leistete das Essener Kolleg für Geschlechterforschung im Projekt "Mind Dancing", das u.a. auf dem 4. Kunsttag im Jahr 2006 präsentiert wurde.

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