Dis/ambiguating Religious Affiliations: Sectarians, Atheists, and Secularists in the late Ottoman Empire and Turkey

Das Forschungsprojekt hinterfragt die binäre Logik von religiösen und säkularen Kulturen, indem es das späte Osmanische Reich und die Türkei aus literatur- und kulturhistorischer Perspektive untersucht. In Abkehr von der Säkularisierungsthese beschäftigt sich dieses Projekt mit der Ambiguität, welche ein inhärenter Teil der Idee des Säkularismus selbst ist, um ein umfassenderes Verständnis der Transformation des osmanischen Vielvölkerstaates (millet-System) in einen Nationalstaat zu entwickeln. Das Projekt geht davon aus, dass der türkische Säkularismus keinen Prozess darstellt, der Religion in die Privatsphäre verbannte, sondern eine Ideologie, die als Grundlage für die Bildung einer Nation diente und die Dominanz des sunnitischen Islam gegenüber nicht-muslimischen sowie nicht-sunnitischen Gemeinschaften sicherte. Das Projekt untersucht religiöse Ambiguitäten, die durch die Regulierung ethno-religiöser Gemeinschaften durch den Osmanischen Staat in der Tanzimat-Periode und durch die Gründung des laizistischen Staates entstanden sind, vom 19. Jahrhundert bis zum ‚Reislamisierungsprozess‘ im 21. Jahrhundert. Durch das Studium einer großen Bandbreite literarischer Gattungen und Archivquellen – darunter armeno-türkische Literatur, spätosmanische Texte, zeitgenössische türkischsprachige Romane sowie von jungen Frauen verfasste digitalisierte Lebenserzählungen – hinterfragt das Projekt die Gültigkeit der Säkularisierungsthese. Diese historisch kontextualisierte Untersuchung religiöser Ambiguität im späten Osmanischen Reich und in der Türkei setzt sich mit ihren Quellen in komparatistischer Perspektive auseinander. Es untersucht, wie religiöse Ambiguität in literarischen und kulturellen Erzählungen entweder (re)produziert, ausgehandelt und/oder aufgelöst werden. In drei miteinander verknüpften Forschungssträngen werden Ambiguierungs- und Disambiguierungsprozesse vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart untersucht.

Das Projekt versteht Säkularität nicht als Produkt einer bestimmten Ideologie, sondern als eine Reihe von Praktiken, die sich entwickeln, wenn verschiedene religiöse und nichtreligiöse Gemeinschaften miteinander interagieren. Eine solche Herangehensweise verspricht die Debatte aus ihrer gegenwärtigen Sackgasse zu führen – einer Rhetorik, die Säkularismus in muslimischen Gesellschaften als verspäteten Import von außen, als Auferlegung von außen oder als Ergebnis einer gescheiterten Modernisierung sieht. Stattdessen untersucht das Projekt, wie säkulare Handlungsräume durch die demographische Verschiebung vom Osmanischen Reich in die Türkische Republik ständig neu definiert wurden und wie Säkularität einen Prozess darstellt, in dem der Ort unterschiedlicher religiöser und nicht religiöser Gemeinschaften ausgehandelt wird.