Teilprojekt 4

Religiöse Ambiguität in den Literaturen der Türkei von 1923 bis in die Gegenwart: Ein Maß für eine offene Gesellschaft?

Ambiguitätstoleranz wird gemeinhin als Barometer für Offenheit, Demokratie und liberale, humanistische Werte betrachtet. Diese Sicht beruht auf der Annahme, dass Ambiguitätstoleranz dem Grad entspricht, in dem eine bestimmte Gesellschaft verschiedenen Ethnizitäten, religiösen Überzeugungen, Subkulturen und Lebensweisen entgegenkommt. In umgekehrter Folge werden monolithische Narrative als Kennzeichen für Intoleranz und Autoritarismus betrachtet. Dieses Projekt prüft dieses Denkmodell, indem es eine bestimmte Form von Ambiguität untersucht – die Repräsentation von religiös ambigen Figuren in den Literaturen und öffentlichen Diskursen der Türkei von 1923 bis heute. Mit eingeschlossen sind Konvertiten, Zwangskonvertiten und Agnostiker – Figuren also, deren scheinbare religiöse Unbestimmtheit eine ergiebige Grundlage für die Untersuchung von Ambiguität und Nation in einem vorwiegend muslimischen Rahmen darstellt.

Dieses Forschungsprojekt beschäftigt sich mit den literarischen Werken des 20. und 21. Jahrhunderts, die von der kanonisierten türkischsprachigen Literatur und dem neuen „Islamischen Roman“ bis zu zeitgenössischen armenisch-türkischen Kurzgeschichten, griechisch-türkischen Memoiren und kurdisch-türkischer Prosa reichen. Dieses Projekt zeichnet nach, wie die Uneindeutigkeit religiöser Ausrichtungen in der Türkei zum Ausdruck gebracht und verhandelt wird. Es konzentriert sich auf die Wahrnehmung religiöser Ambiguität, die durch sektiererische bzw. konfessionelle Unterschiede innerhalb des Islams, der Abgrenzung von der sunnitischen Lehre sowie freiwillige und Zwangskonversionen vom Juden- und Christentum zum Islam ausgelöst wird.

Das Teilprojekt verfolgt drei Hauptziele. Erstens führt dieses Projekt Ambiguität als analytische Kategorie in die Untersuchung von Begegnungen zwischen den drei monotheistischen Religionen in einer vorwiegend muslimischen Gesellschaft ein. Zweitens dekonstruiert dieses komparatistische Projekt die Essentialisierung der Literaturen der Türkei entlang sprachlicher, ethnischer und religiöser Linien, indem es die kurdisch-türkische und armenisch-türkische Literatur in die Untersuchungsanordnung aufnimmt. Drittens untersucht dieses Projekt Narrative und rhetorische Stilmittel, die Prozesse der Islamisierung, Konversion und Assimilierung zum Ausdruck bringen.