Informationen zum Forschungsprojekt

Restrukturierung des Arbeitsmarktes. Disaggregierte Längschnittanalysen mit der IAB-Beschäftigungsstichprobe



Ziel und Aufgabenstellung

Spätestens seit Beginn der 1980er Jahre wird diskutiert, wie sich die Industriegesellschaft unter dem Einfluss umfassender Veränderungen wie "Tertiarisierung", "Individualisierung" oder aber "Globalisierung" wandelt. Innerhalb dieser Debatte spielt auch die "Flexibilisierung des Arbeitsmarktes" eine zentrale Rolle. Unter dem Eindruck stetig steigender Arbeitslosenzahlen konzentrieren sich Teile der Wissenschaft ebenso wie der Politik und der Öffentlichkeit insbesondere auf die "extern-numerische Flexibilität" der Betriebe, d. h. auf die Anpassung des Personalbedarfs durch Einstellungen und Entlassungen. Veränderte Marktanforderungen führten - so die Prognose - ebenso wie die grundlegend gewandelte Produktionsorganisation oder aber fundamental gewandelter Lebensumstände der Individuen gemeinsam zu einer stetig wachsenden Beschleunigung des Arbeitsmarktgeschehens ("Beschleunigungsthese"). Neben dieser Beschleunigung wird außerdem eine zunehmende Entstrukturierung des Arbeitsmarktes erwartet, aus der eine wachsende Nivellierung von Arbeitsmarktchancen und risiken resultiere. Waren in der Industriegesellschaft diese Chancen bzw. Risiken relativ eindeutig anhand von sozio-ökonomischen Merkmalen wie Bildung, Geschlecht, Einkommen, etc. verteilt und dadurch auch mehr oder weniger gut kalkulierbar, so hätten im Laufe der vergangenen Jahrzehnte diese traditionellen Bestimmungsfaktoren an Erklärungskraft verloren ("Entstrukturierungsthese").

Ziel des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projektes war es, durch Anwendung von Methoden der Ereignisanalyse auf prozessproduzierte Sozialversicherungsdaten (IAB-Beschäftigtenstichprobe) die Entwicklungen von zwischenbetrieblicher Mobilität, Beschäftigungsstabilität, Arbeitslosigkeitsrisiken und Marginalisierungserscheinungen zu untersuchen und dabei insbesondere die "Beschleunigungsthese" und die "Entstrukturierungsthese" empirisch zu überprüfen.

Vorgehen

In der ersten Hälfte der Projektlaufzeit von Herbst 1999 bis Herbst 2001 konzentrierte sich die Arbeit auf die Überprüfung der "Beschleunigungsthese". Zu diesem Zweck wurden die Rohdaten der IAB-Beschäftigtenstichprobe so aufbereitet, dass insbesondere ereignisanalytische statistische Auswertungsverfahren zur Anwendung kommen konnten. Nachdem sich die deskriptiven Analysen vor allem auf die Berechnung von Fluktuations- und Überlebensraten konzentriert hatte, stand in der zweiten Projekthälfte von Herbst 2001 bis zum Projektende im Herbst 2003 die Überprüfung der "Entsrukturierungsthese" im Mittelpunkt unserer Forschungsbemühungen. Auf Basis multivariater Übergangsratenmodelle ("Cox Proportional Hazard Rate Modelle) wurde untersucht, welche individuellen aber auch betrieblichen Determinanten die Beschäftigungsstabilität und Arbeitsmarktmobilität von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten beeinflussen und wie sich diese Einflüsse im Vergleich der 1980er und der 1990er Jahre unter Umständen verändert haben.

Ausgewählte Ergebnisse

Empirische Überprüfungen der "Beschleunigungsannahme" auf Basis der prozessproduzierten Verlaufsdaten der IAB Beschäftigtenstichprobe haben für den westdeutschen Arbeitsmarkt gezeigt, dass - zumindest für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (also für ca. 75 bis 80 % der Erwerbstätigen) - sich zwischen Mitte der 1970er und Mitte der 1990er Jahre eine Beschleunigung des Arbeitsmarktgeschehens nicht nachweisen lässt: Weder hat die Arbeitskräftefluktuation generell zu-, noch hat die Stabilität von Beschäftigungsverhältnissen generell abgenommen. Auch von einer an Bedeutung gewinnenden "Normalisierung" von Arbeitslosigkeitserfahrungen kann genauso wenig gesprochen werden wie von einer Zunahme von Tätigkeitswechseln.

Diese Befunde lassen sich plausibel erklären, wenn man die starre Konzentration auf die extern-numerische Flexibilität der Betriebe aufgibt und weitere Möglichkeiten der Anpassung des Personalbedarfs genauer betrachtet. Kombiniert man die oben beschriebenen Ergebnisse mit Befunden anderer Forschungsarbeiten bspw. zur Arbeitszeitflexibilisierung oder aber zur Einsatzflexibilität der Belegschaft wird deutlich: Anstelle einer verstärkten "Hire-and-fire-Politik" begegnen die deutschen Betriebe den ohne Zweifel beim Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft gewachsenen Flexibilitätsanforderungen vor allem mit betriebsinternen Flexibilisierungsstrategien. Bei einer wachsenden Bedeutung von Qualifikation und Eigenverantwortung der Beschäftigten sollte dieser Befund eigentlich auch nicht überraschen. Denn in einer mehr und mehr auf Wissen und flachen Hierarchien beruhenden dezentralen Produktion wächst tendenziell auch die Bedeutung einer verlässlichen und dauerhaften Kooperation zwischen Betriebsleitung und Arbeitnehmer.

Hinter der im Zeitverlauf relativ konstant bleibenden Arbeitsmarktmobilität verbirgt sich ein heterogener Prozess, der als Restrukturierung von Beschäftigungschancen und -risiken charakterisiert werden kann. Anhand einer vergleichenden multivariaten Analyse der Determinanten von Beschäftigungsstabilität sowie der Chancen, "reibungslose" Betriebswechsel zu realisieren oder aber des Risikos, (langzeit-)arbeitslos zu werden, lassen sich sowohl Angleichungs- als auch Polarisierungsprozesse beobachten, ohne dass allerdings "klassische" Determinanten der Beschäftigungschancen bzw. -risiken (wie bspw. Geschlecht, Bildungsstatus, Alter, etc) insgesamt an Erklärungskraft verloren hätten.

Letztendlich können die vorgenommenen Analysen weder die "Beschleunigungs-These" noch die "Entstrukturierungs-These" bestätigen; auch scheint Skepsis gegenüber dem Argument einer umfassenden "Erstarrung" des Arbeitsmarktes angebracht. Stattdessen zeichnet sich auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt im Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft vielmehr ein Restrukturierungsprozess ab, der insgesamt bspw. zu einer Stabilisierung von Beschäftigungsverhältnissen geführt hat, wenngleich es jenseits dieser generellen Entwicklung parallel verlaufende Nivellierungs- und Polarisierungsprozesse mit "Gewinnern" und "Verlierern" gegeben hat. Hierbei konnten vor allem Frauen und qualifizierte Arbeitsmarktteilnehmer ihre Chancen vergrößern, während Ungelernte und Beschäftigte, die bereits zuvor einmal arbeitslos gewesen waren, eher zu den "Verlierern" des Restrukturierungsprozesses zu zählen sind. Gleichwohl ergeben sich Anzeichen dafür, dass es heterogene Entwicklungen auch innerhalb dieser Gruppen gegeben hat. So zeigt sich bspw., dass ein gewisser Teil von Ungelernten auch in der Dienstleistungsgesellschaft "marktfähig" ist bzw. bleibt, obwohl die generelle Beschäftigungslage dieser Personengruppe sich insgesamt deutlich verschlechtert hat.

Publikationen zum Projekt

Erlinghagen, Marcel, 2004: ­Die­ mobile Arbeitsgesellschaft und ihre Grenzen. In: mesh: Magazin für Wissens- und Informationsdiskurs H. 4, S. 8-10

Erlinghagen, Marcel, 2004: Die­ Restrukturierung des Arbeitsmarktes: Arbeitsmarktmobilität und Beschäftigungsstabilität im Zeitverlauf. 1. Aufl. Zugl.: Duisburg, Univ., Diss., 2004. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss., ISBN: 3-531-14292-5

Erlinghagen, Marcel / Knuth, Matthias, 2004: The evolution of labour market dynamics in West Germany from the doom of industrialism to the dawn of the service economy. In: Economia & lavoro 38, pp. 91-113

Erlinghagen, Marcel / Knuth, Matthias, 2004: In search of turbulence: labour market mobility and job stability in Germany. In: European societies 6 (1), pp. 49-70

Erlinghagen, Marcel / Knuth, Matthias, 2003: Beschäftigungsstabilität in der Wissensgesellschaft. In: Institut Arbeit und Technik: Jahrbuch 2002/2003, S. 173–186

Erlinghagen, Marcel / Knuth, Matthias, 2003: Arbeitsmarktdynamik zwischen öffentlicher Wahrnehmung und empirischer Realität. In: WSI-Mitteilungen 56 (8), S. 503-509 | Lesen

Erlinghagen, Marcel / Knuth, Matthias, 2003: Long-term trends of labour market dynamics at the dawn of the knowledge society: labour market mobility, job stability and flexibility in West Germany. In: 24th Conference of the International Working Party on Labour Market Segmentation: Technical and organisational change: the impact on employment and social equity, 4th–6th september, pp. CD-ROM

Erlinghagen, Marcel, 2002: Die Entwicklung von Arbeitsmarktmobilität und Beschäftigungsstabilität im Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft: eine deskriptive Analyse des westdeutschen Arbeitsmarktes zwischen 1976 und 1995 auf Basis der IAB-Beschäftigtenstichpro. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 35 (1), S. 74-89 | Lesen

Erlinghagen, Marcel / Knuth, Matthias, 2002: Auf der Suche nach dem "Turbo-Arbeitsmarkt": Zwischenbericht an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zum Projekt "Restrukturierung des Arbeitsmarktes. Disaggregierte Längsschnittanalysen mit der IAB-Beschäftigtenstichprobe". Gelsenkirchen: Inst. Arbeit und Technik. Graue Reihe des Instituts Arbeit und Technik Nr. 03/2002 | Lesen

Erlinghagen, Marcel / Knuth, Matthias, 2002: Kein Turbo-Arbeitsmarkt in Sicht: Fluktuation stagniert - Beschäftigungsstabilität nimmt zu. Gelsenkirchen: Inst. Arbeit und Technik. IAT-Report Nr. 2002-04 | Lesen

Erlinghagen, Marcel / Mühge, Gernot, 2002: Wie kann man die Beständigkeit von Beschäftigungsverhältnissen messen? Durchschnittliche Betriebszugehörigkeitsdauer und Überlebensrate: zwei Messkonzepte im Vergleich. Berlin: DIW. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: Materialien

Erlinghagen, Marcel / Knuth, Matthias, 2001: Keine Spur vom "Turbo-Arbeitsmarkt": Arbeitsmarktmobilität und Beschäftigungsstabilität im früheren Bundesgebiet. In: Institut Arbeit und Technik: Jahrbuch 2000/2001, S. 233–248

Erlinghagen, Marcel / Knuth, Matthias, 2001: Turbo-Arbeitsmarkt oder Sklerose: auf welche Realität hat sich die Arbeitsmarktpolitik einzustellen? In: Klaus Kittler: Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik: von der Zielgruppenorientierung zur Prävention, S. 17–43

Erlinghagen, Marcel / Zühlke-Robinet, Klaus, 2001: Branchenwechsel im Bauhauptgewerbe: eine Analyse der IAB-Beschäftigtenstichprobe für die Jahre 1980 bis 1995. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 34 (2), S. 165-181

Knuth, Matthias, 2001: Mythen und Perspektiven: Arbeitsmarktstrukturen in Deutschland. In: Personalmagazin 3 (10), S. 12-13

Knuth, Matthias / Erlinghagen, Marcel, 2001: Entwicklungen des deutschen Arbeitsmarkts. In: Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen: Das Magazin 12 (2), S. 33

Knuth, Matthias / Erlinghagen, Marcel, 2001: Der Turbo-Arbeitsmarkt ist nicht in Sicht. In: VDI-Nachrichten H. 29, S. 2

Knuth, Matthias, 1999: Senkung der Arbeitslosigkeit durch Ausstieg aus dem Vorruhestand: gesellschaftliche und betriebliche Innovationserfordernisse im Umgang mit dem strukturellen und demographischen Wandel. In: Peter Brödner, Ernst Helmstädter und Brigitta Widmaier: Wissensteilung zur Dynamik von Innovation und kollektivem Lernen, S. 107–144

Knuth, Matthias / Mühge, Gernot / Müller, Angelika, 1999: The toll of change: economic restructuring, worker displacement, and unemployment in West Germany. Gelsenkirchen: Inst. Arbeit und Technik. Graue Reihe des Instituts Arbeit und Technik Nr. 07/1999 | Lesen

Knuth, Matthias / Mühge, Gernot / Müller, Angelika, 1999: Der Preis des Wandels: wirtschaftliche Umstrukturierung, Arbeitskräftefreisetzung und Arbeitslosigkeit in Westdeutschland. Gelsenkirchen: Inst. Arbeit und Technik. Graue Reihe des Instituts Arbeit und Technik Nr. 1999-08 | Lesen

Vorträge zum Projekt

Dr. Sophie Rosenbohm: Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Sicherung von globalen Arbeitsstandards. Lieferkettenkonferenz 2023, Berlin, Stiftung Arbeit und Umwelt / Hans-Böckler-Stiftung, 29.11.2023  Weitere Informationen

Dr. Sophie Rosenbohm, Prof. Dr. Thomas Haipeter: The Missing Link - Dynamics of Action and Institutional Interdependencies of Transnational Labour Regulation in Multinational Companies. XX ISA World Congress of Sociology, Melbourne, Australia, 01.07.2023

Dr. Sophie Rosenbohm: Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards in Lieferketten? Ein Überblick über ihre Verbreitung von globalen Rahmenabkommen und ihre Umsetzungsregeln. Roundtable. "Arbeitnehmerbeteiligung und Sozialstandards in globalen Wertschöpfungsketten". Abschlusskonferenz des Forschungsverbunds „Ökonomie der Zukunft” der Hans-Böckler-Stiftung , 23.05.2023

Dr. Sophie Rosenbohm, Anja Kirsch, Carolin Puhl: Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards in Lieferketten? Ein Überblick über ihre Verbreitung und ihre Regelungen zur Umsetzung in die Praxis. Transnationale industrielle Beziehungen. GIRA-Jahrestagung, 6.–7. Oktober 2022, Bochum, 06.10.2022

Dr. Sophie Rosenbohm, Christine Üyük: Solidarity and Solidarity Actions in Multinational Companies. „Assessing solidarity“. Online Workshop ausgerichtet von der Universität Bremen und dem Zentrum für Arbeit und Politik (ZAP)., 08.10.2021

Christine Üyük: Transnational Workers’ Mobilization and Their Conditions. 19th ILERA World Congress, Lund, Sweden, 21-24 Juni 2021 (Online), 23.06.2021  Weitere Informationen

Projektdaten

Laufzeit des Projektes
01.11.1999 - 31.10.2003

Forschungsabteilung

Leitung:
Prof. Dr. Matthias Knuth

Bearbeitung:
Prof. Dr. Marcel Erlinghagen

Finanzierung:
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)