Wir schaffen das … nur zusammen

Wir schaffen das … nur zusammen
Mamadou Bah und Ute Klammer
Wir schaffen das? - 10 Jahre später
„Wir schaffen das“ – kaum ein Satz hat die Diskussion rund um die Themen Flucht, Migration und Integration in den vergangenen Jahren wohl so geprägt wie dieser, mit dem Kanzlerin Angela Merkel in der Sommerpressekonferenz am 31.08.2015 angesichts des großen Anstiegs Geflüchteter, die Deutschland erreichten, beschwichtigen und Zuversicht verbreiten wollte. Viele tausend Mal – einige Schätzungen gehen von 50.000 – 100.000 öffentlichen Äußerungen aus - wurde er seitdem in öffentlichen Reden, in Politik, Wirtschaft und Medien, zitiert – sei es zustimmend oder skeptisch. Der „Sommer der Migration“ und das was folgte war geprägt von Beunruhigung und Sorgen, aber auch einer enormen Welle von Hilfsbereitschaft und dem gesellschaftlichen Engagement vieler Ehrenamtlicher. Geflüchtete wurden schon bei der Ankunft am Bahnhof mit Teddys und Süßigkeiten begeistert in Empfang genommen. Kaum ein Jahrzehnt später, Bundestagswahlkampf 2025. Wieder ist Migration das Top-Thema. Aber der Wind hat sich gedreht. Die Schlagworte, mit denen die Parteien in ihren Wahlprogrammen um Wählerstimmen werben, sind andere: Grenzsicherung, Fluchtprävention, Zuzugsbegrenzung, Abschiebungen, Beschleunigung von Asylverfahren …. Auch gezielte Anwerbung benötigter Fachkräfte aus dem Ausland ist ein Thema, sind doch die Themen Migration und Integration in den vergangenen Jahren im Zuge der Sorgen um demographischen Wandel und Fachkräftemangel zunehmend in den Sog von Aktivierung und ökonomischer Verwertbarkeit geraten. Wenig Aufmerksamkeit findet sich in den Wahlprogrammen dagegen für Vorschläge zur Unterstützung der Situation und Integration derer, die bereits in Deutschland leben. Die oft schon seit dem historischen „Wir schaffen das“ versuchen, hier Fuß zu fassen. Die vielfältige, oft frustrierende, häufig übereinstimmende Erfahrungen gemacht haben. Die teilweise mit Hartnäckigkeit und Disziplin in der vergangenen Dekade viele Hürden überwunden und erstaunliche Wege zurückgelegt haben um in dieser Gesellschaft „anzukommen“. Deren Hoffnungen und Erwartungen aber häufig auch enttäuscht wurden, weil sie die unerwarteten Hürden nicht bewältigen konnten. Weil sie nicht beruflich Fuß fassen konnten – geschweige denn Fußballstar geworden sind. Weil sie ihre Familien hier, aber auch im Herkunftsland, nicht finanziell versorgen können - geschweige denn reich geworden sind. Weil sie nicht partizipieren können in dieser Gesellschaft oder gar Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion oder nicht perfekter Sprachkenntnisse erfahren. Die deshalb teilweise auch in dauerhaften Sozialleistungsbezug, Suchtprobleme oder gar Kriminalität abgerutscht sind. Es sind Erfahrungen, die uns etwas über dieses Land erzählen und aus denen wir lernen können und müssen – auf dem Weg in eine gemeinsame Zukunft.
Plädoyer für einen Perspektivwechsel
„Wir schaffen das“. Ein kurzer Satz, der die Debatte geprägt hat. Wohl auch deshalb, weil er in jeder Hinsicht unbestimmt und offen ist. Was heißt hier eigentlich „schaffen“? Was ist „das“? Und vor allem auch: Wer ist „Wir“? Bei Recherchen zur Rezeption wird sehr schnell eines deutlich: Ob zustimmend oder ablehnend – fast alle Beiträge kommen von Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft. „Wir“, das ist das „Wir“ der Deutschen, Hiesigen - nicht dasjenige derer, die neu angekommen sind. Und zumeist auch kein gemeinsames „Wir“. Auch in wohlmeinenden Beiträgen kommen diejenigen, um die es geht, nur selten zu Wort. Dabei können die Perspektiven und Erfahrungen der Geflüchteten ein Schlüssel dazu sein, die Situation zu verstehen und tatsächlich Veränderungen zu „schaffen“.
Mit diesem Beitrag möchten wir auf einige Punkte hinweisen, deren Wahrnehmung und Reflexion zum Jahrestag von „wir schaffen das“ angezeigt scheinen. Sie entstammen unseren unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven – der Perspektive eines jungen schwarzen Gambianers, der Anfang 2016 selbst alleine als minderjähriger Wirtschaftsflüchtling deutschen Boden erreichte, sich zum Abitur durchkämpfte, inzwischen Familienvater ist, erfolgreich sein Bachelor-Studium in Politikwissenschaften absolviert hat, bestens deutsch spricht, rundum integriert und vernetzt ist und dennoch, mehr als ein Jahr nach der Antragstellung, immer noch auf seine Einbürgerung wartet. Und der Perspektive einer weißen deutschen Professorin, die sich als Prorektorin ihrer Universität im Ruhrgebiet bereits seit 2008 mit Fragen von Diversität und Internationalisierung beschäftigt hat, in der letzten Dekade mehrere Forschungsprojekte und Promotionen zu Flucht- und Migrationsthemen begleitet und auch ehrenamtlich Erfahrungen in der Begleitung von Geflüchteten gesammelt hat.
Hoffnungen und Enttäuschungen
Warum machen sich junge Afrikaner auf den Weg nach Deutschland, was erhoffen und erwarten sie? Armut und Perspektivlosigkeit im eigenen Land gehören zweifellos zu den treibenden Motiven. Gleichzeitig aber auch ein Bild von Europa, das Wohlstand und ein gutes Leben ohne Sorgen für alle verheißt – ein Bild, das auch von denjenigen genährt wird, die es vermeintlich in Europa „geschafft“ haben und alles tun, um Schwierigkeiten oder gar ihr Scheitern bei Kontakten vor Familien und Freunden zu verschleiern. Zumal sie sich – auch das wird in den deutschen Debatten häufig nicht reflektiert – weiterhin in hohem Maße für die Versorgung ihrer Familien im Herkunftsland verantwortlich und diesbezüglich auch unter Druck fühlen. Was Deutschland im Besonderen vor dem „Sommer der Migration“ zu einem attraktiven Ziel hat werden lassen, waren weder Gesellschaft noch Arbeitsmarkt noch Sozialsystem, sondern die Begeisterung über den deutschen Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft 2014. In jedem Fall kommen die meist jungen Männer – in der Migrationsforschung wird vom „healthy migrant effect“ gesprochen – mit dem festen Willen, zu arbeiten und vor allem Geld zu verdienen – auf jeden Fall nicht, um, zu Passivität verdammt, vom Sozialstaat finanziert zu werden. Doch genau damit werden sie regelmäßig zunächst konfrontiert: Massenunterkünfte mit wenig Privatsphäre, kein Zugang zu Sprachkursen, Arbeitsverbote, begrenzter Zugang zum Gesundheitssystem, lange Wartezeiten bei Ausländerämtern und anderen Behörden (bei denen immer noch ein monolingualer deutscher Habitus vorherrscht) mit ungewissem Ausgang, wenig Kontakt zur deutsch(sprachig)en Bevölkerung, jahrelange Unsicherheit mit ungesichertem, immer wieder befristetem Aufenthaltsstatus oder gar nur einer „Fiktionsbescheinigung“, wenn die Ausländerbehörde mit der Zahl der zu bearbeitenden Fälle wieder einmal nicht hinterherkommt. Fein säuberlich hat das deutsche Recht geregelt, wer arbeiten darf: Asylbewerberinnen und Asylbewerber ist dies in den ersten drei Monaten verboten, wohnen sie in einer Aufnahmeeinrichtung, können sie erst nach sechs Monaten eine Arbeitserlaubnis erhalten. Für Personen aus sicheren Herkunftsländern gilt ein Arbeitsverbot, Personen mit Abschiebeverbot können eine Arbeitserlaubnis nur mit behördlicher Zustimmung bekommen, Geduldete dürfen nach sechs Monaten einer Erwerbstätigkeit nachgehen, aber nur dann, wenn sie nicht für das Abschiebungshindernis verantwortlich sind. So ausgebremst zu werden ohne klare Perspektiven, frustriert.
Es knirscht im Bildungssystem
Und wenn der Weg in den Arbeitsmarkt prinzipiell offen ist, stellen die (mangelnde) Anerkennung von Qualifikationen, notwendige (Nach)Qualifizierungen und fehlende Sprachkenntnisse weiterhin wichtige Hemmnisse dar. Dabei trifft die mangelnde Anerkennung von Qualifikationen, wie wir auch in eigener Forschung gezeigt haben, oft gerade hoch gebildete Zuwanderer mit akademischem Hintergrund, deren Kompetenz in Deutschland dringend gebraucht wird. Und auch wenn die Qualifikation offiziell anerkannt wird, fehlt es häufig an Nachqualifizierungsmöglichkeiten, um ihnen eine echte Chance auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen, oder an Finanzierungsmöglichkeiten, weil ihnen z.B. bei formal anerkannter Qualifikation der Zugang zum BaFöG versperrt bleibt. Auch Wohnsitzauflagen, die schlechte Verkehrsanbindung in peripheren Wohnlagen oder mangelnder Zugang zu Kinderbetreuung vermindern die Chancen auf eine Erwerbstätigkeit.
Die unterschiedlichen Chancen zeigen sich schon an den weichenstellenden Übergängen in der frühen Bildungsbiographie. Zwar haben asylsuchende Kinder in Deutschland grundsätzlich das Recht, eine Schule zu besuchen. Wann sie allerdings tatsächlich eine Schule besuchen können, ist aufgrund unterschiedlicher Regelungen von Bundesland zu Bundesland verschieden. Die meisten Länder sehen einen Schulbesuch erst dann vor, wenn die geflüchteten Kinder und Jugendlichen im jeweiligen Bundesland wohnhaft sind und angenommen werden kann, dass sie zumindest im folgenden Schuljahr eine Schule vor Ort besuchen.
Wer sich auf den Weg einer mehrjährigen dualen Ausbildung macht – vielleicht auch nur, um einen Beruf ausüben zu dürfen, in dem man im Herkunftsland schon jahrelang Erfahrungen gesammelt hat – sieht sich mit formalen, kulturellen und sprachlichen Prüfungsanforderungen konfrontiert, die von neu Zugewanderten aus anderen Sprachen und Kulturkreisen kaum zu bewältigen sind. So berechtigt der Stolz auf die Qualität der deutschen dualen Ausbildung ist – hier bedarf es dringend niedrigschwelligerer, gestufter Ausbildungswege. Ganz abgesehen davon, dass die Verquickung von Ausbildung und Aufenthaltsrecht nicht selten dazu führt, dass die Entscheidung für eine Ausbildung nicht des Berufs wegen gefällt wird, sondern wegen der damit verbundenen „Ausbildungsduldung“ für die Dauer der Ausbildung. Auch hier erweist sich das Migrations- und Aufenthaltsrecht als mächtige „Sortiermaschine“, die unterschiedliche Chancen zuweist.
Die Hürden sind in Deutschland deshalb so hoch, wie Marina Ruth in ihrer Dissertation aufgezeigt hat, weil besonders ausgeprägte Normalitätserwartungen an Lebensläufe bestehen, die in die strukturellen Rahmenbedingungen des deutschen Wohlfahrtsstaats eingeschrieben sind. Mit den komplexen Regelungen gehen Exklusionsrisiken für Personen einher, die diesen Erwartungen nicht entsprechen. Am Übergang Schule – Ausbildung – Arbeit wird besonders deutlich, dass dies für junge geflüchtete Menschen existenzielle Implikationen für langfristige Teilhabeperspektiven haben kann. Sandrine Bakoben – selber gebürtig aus Kamerun – geht in ihrer Analyse noch einen Schritt weiter und arbeitet in ihrer Dissertation heraus, dass gerade im Umgang mit geflüchteten jungen Menschen aus Subsahara-Afrika im deutschen Bildungs- und Migrationsregime postkoloniale Machtverhältnisse reproduziert werden, die auf Mechanismen der Über- und Unterordnung sowie historisch gewachsenen rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ungleichheiten beruhen.
(Wie) kann Integration gelingen?
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beschreibt Integration als einen Prozess, bei dem migrierte Menschen dauerhaft mit einem gesicherten Aufenthaltsrecht in einem Land leben und die Möglichkeit erhalten, das gesellschaftliche Zusammenleben aktiv mitzugestalten. Für eine erfolgreiche Integration sollten Individuen in der Lage sein, sich einer Gemeinschaft zugehörig zu fühlen und dabei das deutsche Wertesystem vertreten zu können. Als Zugewanderter sieht man sich häufig seitens der Mehrheitsgesellschaft mit der Erwartung konfrontiert, sich vollständig an das deutsche Wertesystem anzupassen, indem man die Sprache akzentfrei spricht, die Kultur verinnerlicht und sich äußerlich und mental möglichst stark der Mehrheitsgesellschaft angleicht. Doch wann ist dieser Prozess geschafft? Zunächst, so die eigene Erfahrung (Mamadou), wird die mangelnde Integration auf die sprachlichen Fähigkeiten zurückgeführt. Später wird der Akzent kritisiert. Wenn sich auch dieser verbessert, die Erfolge in Schule und Studium zunehmen und das gesellschaftliche Engagement deutlich wird, bleibt dennoch die Hautfarbe ein Grund dafür, dass einem die völlige Zugehörigkeit verweigert wird. Immer wieder wird man daran erinnert, wie undankbar man angeblich sei, insbesondere, wenn man die deutsche Gesellschaft oder ihre Institutionen auf Grundlage eigener negativer Erfahrungen kritisiert. Sobald vermeintliche Fehler wahrgenommen werden, wird man auf die Herkunft, das Aussehen oder die Sprache reduziert. Oder auf die Religion, den Islam, der die Integration in ein so „modernes und fortschrittliches Land“ wie Deutschland behindere. Es verfestigt sich der Eindruck, dass neben den formalen Integrationsvorgaben oftmals eine einseitige Integrationsleistung von den Migranten erwartet wird, die den Mustern der Assimilation folgt, sich viele Mitglieder der Aufnahmegesellschaft aber ihrerseits nicht in der Verantwortung sehen, selbst einen Beitrag zur Integration zu leisten. Allen eigenen Anstrengungen der Zugewanderten zum Trotz wird von der Gesellschaft entschieden, wer als integriert wahrgenommen wird – und wer nicht.
„Wann verfällt endlich mein Migrationshintergrund?“
Szenenwechsel. Ein Workshop mit Migranten an der Universität vor 15 Jahren, es geht um die Frage, was denn die Universität noch anbieten könnte zur Verbesserung der Studienchancen von Studierenden mit Migrationshintergrund. Unerwartet entsteht eine Diskussion darüber, wie lange man denn eigentlich in dieser Gesellschaft mit dem „Migrationshintergrund“ leben müsse, als Migrant gelabelt, oder „schubladisiert“ werde. Es wird deutlich: Wohlmeinende Programme für die „anderen“ – zudem basierend auf unhinterfragten Annahmen über deren Bedarfe - reichen nicht. Es gilt, das „othering“ (auch ein Begriff aus der Migrationsforschung) zu überwinden und das „neue Wir“ (Plamper) als gemeinsames Projekt zu verstehen, das Anpassungsleistungen von allen erfordert. Sich gegenseitig zuzuhören auf Augenhöhe und von den jeweiligen Erfahrungen zu lernen wäre ein erster, wichtiger Schritt.
Dieser Beitrag wurde in gekürzter Fassung in der Süddeutschen Zeitung vom 26. August 2025 veröffentlicht (Paywall).