DenkanstößeDer Nahe Osten im frühen 20. Jahrhundert
Der Nahostkonflikt berührt, polarisiert und beschäftigt – auch an der UDE. Es gibt starke Meinungen, aber nicht immer Wissen über die historischen Hintergründe. Im vergangenen Jahr bot die Universität deshalb die Veranstaltung „Der Nahe Osten im frühen 20. Jahrhundert – Denkanstöße“ an. Wer bei der Lesung der historischen Texte nicht vor Ort war, kann sie nun noch einmal hier nachlesen und nachhören. Außerdem berichtet Prof. Ute Schneider, wie und warum sich Studierende und Wissenschaftler:innen der UDE für das Projekt engagiert haben.
Zur Person
Prof. Dr. Ute Schneider ist Lehrstuhlinhaberin für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im Historischen Institut an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen.
Kontakt
+49 201 183 4597
ute.schneider@uni-due.de
https://www.uni-due.de/geschichte/ute_schneider.php
Interview mit Prof. Dr. Ute Schneider„Wichtig war uns, dass die Komplexität des Themas gesehen wird.“
Frau Prof. Dr. Schneider, wie sind Sie auf die Idee gekommen, den Nahostkonflikt historisch aufzubereiten?
Prof. Dr. Ute Schneider: Das Thema ist bei vielen an der Universität präsent, insbesondere seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel. Ich wurde in meinen Seminaren immer wieder von Studierenden auf das Thema angesprochen und habe gemerkt, dass wir alle nur geringe Kenntnisse haben. Auch Kolleg:innen haben zum Teil starke Meinungen, aber nicht immer Wissen über historische Hintergründe oder Konstellationen. Das ganze Thema ist ja auch ungeheuer komplex.
Ich kam darüber mit unserer Rektorin Prof. Dr. Albert ins Gespräch, die das Thema auch sehr beschäftigt, nicht zuletzt wegen der Reaktionen in Social Media. Sie hat mich immer wieder gefragt: Was können wir machen? Eine Diskussionsrunde zu diesem Thema fand ich kein gutes Format, auch weil es an anderen Universitäten häufig nicht gut funktioniert hat und die Studierenden zu wenig eingebunden wurden. Ich wollte deshalb lieber eine Veranstaltung konzipieren, an der die Studierenden aktiv teilnehmen können und in der eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema stattfindet.
Wie ging es dann weiter?
Das Konzept habe ich mit meinem Team und auch mehreren Kolleg:innen besprochen. Die Resonanz war unterschiedlich, manche wollten gar nichts machen, manche hätten eine Vorlesung oder eben eine Podiumsdiskussion gut gefunden. Am Ende war es dann doch eine Mehrzahl, denen mein Vorschlag wegen der Multiperspektivität und der wissenschaftlichen Herangehensweise einleuchtete. Anschließend hat das Rektorat entschieden, dass wir das so machen, und ich habe mit meinem Team angefangen, Literatur und Quellen zu sichten, wir haben unheimlich viele Fernleihen bestellt und Texte gelesen, um eine Auswahl zu treffen.
War gleich klar, wer die Texte vortragen sollte?
Ja, die Idee war von Anfang an, dass Studierende und Kolleg:innen die Texte vortragen und dass wir ein breites Spektrum aus den Fakultäten haben, also nicht nur die Geisteswissenschaften oder Sozialwissenschaften, sondern alle, die möchten. So waren ebenso Chemiker:innen, Physiker:innen und Ingenieur:innen dabei, und auch Frau Albert, Frau Shire und Herr Rumann aus dem Rektorat haben mitgelesen – und alle an einem Ort. Das war uns sehr wichtig, um zu zeigen, dass wir eine Uni sind, die hinter dieser Veranstaltung steht.
Welche Parameter haben Sie denn angesetzt, um die Textauswahl vorzunehmen?
Die Haltung und die Perspektiven der Beteiligten waren schon unterschiedlich. Vieles hat sich aber nach dem Lesen der Texte auch noch einmal verschoben. Gerade die Studierenden, die beteiligt waren, haben hinterher gesagt, sie hätten unheimlich viel gelernt.
Wir mussten einen Zeitraum abstecken, da schnell klar war, dass wir nicht bis in die Gegenwart gehen können, weil wir das von der Menge nicht schaffen und es dann vielleicht auch zu oberflächlich wird. Deswegen haben wir gesagt, wir gehen bis zur Gründung des Staates Israel und der Nakba, um den Bezug zu unserer Gegenwart deutlich zu machen. Außerdem war es uns wichtig, Quellen auszuwählen, die ein breites Spektrum repräsentieren. Also palästinensische, jüdische, israelische und zionistische Stimmen. Wichtig und zugleich schwierig war dabei, auch weibliche Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Mit Anbara Salam Khalidi haben wir eine interessante Person entdeckt. Ihre Fluchterfahrungen haben viele Parallelen im 20. und 21. Jahrhundert. Deswegen haben wir uns im Verlauf der Arbeit auch entschieden, für die Zeit des Nationalsozialismus einige der Menschen jüdischen Glaubens zu Wort kommen zu lassen, deren Hoffnung nach Palästina auswandern zu können, sich zerschlug. Andere, wie Philipp Schwartz fanden Aufnahme in der Türkei, und wanderten nach dem Krieg in die USA weiter, weil sie in der jungen Bundesrepublik nicht in ihre alten Positionen zurückkehren konnten. Nach Philipp Schwartz ist heute ein Programm der Alexander von Humboldt-Stiftung für geflüchtete Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen benannt.
Wie war das Feedback auf die Lesung und die Zusammenstellung der Texte?
Wir haben sehr viele Rückmeldungen bekommen. Einerseits solche, die auf eine erschreckende Art und Weise zur Jagd auf Juden und Muslime in Social-Media-Kanälen und WhatsApp-Gruppen aufgerufen haben. Dann gibt es natürlich immer Kritik an der Auswahl. Den einen ist die jüdische Seite zu wenig berücksichtigt worden, den anderen die muslimische Sicht. Es hätte mehr Übersetzungen der englischen Texte geben sollen etc.
Grundsätzlich haben wir in der Mehrzahl sehr positive Rückmeldungen bekommen. Sozusagen das ganze Spektrum an Feedback. Interessant ist aber, dass es sehr, sehr viele Leute gibt, die zum Teil dann auch hinterher noch per Mail geschrieben haben, dass sie beeindruckt hat, dass die Uni das gemacht hat. Dass sie vorher überhaupt nicht gewusst haben und ihnen nicht klar war, dass es so eine Gesamtuniversitätsveranstaltung wird, an der so viele Leute beteiligt waren. Es haben auch viele Leute gefragt, ob das in der einen oder anderen Art fortgesetzt wird, z.B. in einer Ringvorlesung, und dass sie sich eigentlich Wissenschaft und Universität so vorstellen würden.
Und wie war die Reaktion der Beteiligten nach der Lesung?
Ich habe viele Stunden Arbeit investiert, um die Studierenden davon zu überzeugen, dass sie sich vor rund 250 Besucher:innen vorne im Audimax hinstellen. Dabei war es weniger die Angst, vor einem großen Publikum zu sprechen. Wir haben eine lange Diskussion gehabt, ob die Namen aller Vortragenden aufgeführt werden, haben uns dann aber dagegen entschieden. Es war nur klar, dass Frau Prof. Albert öffentlich genannt wird, weil die Studierenden und auch einige Kolleg:innen befürchteten, mit Hass per Mail oder in den Social Media überschüttet zu werden. Ich habe viele Gespräche geführt über unser Selbstverständnis als Historiker und Wissenschaftlerinnen, bis ich die Gruppe überzeugt hatte. Der Aufwand, einerseits das inhaltlich vorzubereiten und andererseits die Leute mitzunehmen, das ist beides schon viel mehr Arbeit gewesen, als ich im Vorhinein gedacht hatte. Aber ich bin mehr denn je überzeugt, dass es sich für alle gelohnt hat.
Wie sind Sie dann auf die Idee mit den gesprochenen Aufnahmen gekommen, die jetzt veröffentlich wurden?
Wichtig war uns, dass die Komplexität des Themas gesehen wird. Es gibt eine schwierige Gemengelage, viele Perspektiven, viele Entwicklungen, viele Entscheidungen. Wir haben deshalb überlegt, ob wir einen Reader aus den Texten machen mit Literaturhinweisen, weil einige sofort nachgefragt haben und wir wollten, dass die Leute zu Hause alles noch einmal in Ruhe nachlesen können. Frau Shire hat gleich nach der Veranstaltung einen Podcast vorgeschlagen. Die Resonanz hat uns überzeugt, die Texte noch einmal einzulesen, damit alle, die nicht da waren, sich das noch einmal anhören können. Und alle Studierenden wie Kolleginnen und Kollegen haben dem sofort zugestimmt und sich erneut die Zeit genommen. Das hat mich sehr gefreut.
Das war mein erstes Projekt dieser Art und ich finde, dass die Aufnahmen und der dazu gehörige Reader sehr schön geworden sind. Es waren neben meinem Team und den Studierenden ja auch das Rektorat, viele Kolleg:innen aus vielen Fakultäten, das ZIM und die Öffentlichkeitsarbeit sehr engagiert daran beteiligt. Das ist wirklich ein universitäres Gemeinschaftsprojekt.
(Das Interview führte Astrid Bergmeister.)


